Zuletzt aktualisiert am 10. März 2020.
(III.) Praktische Gesichtspunkte (Aufsatz 6)
Nach diesem Aufschwung in die höchsten Hallen des Einweihungstempels, der die Umrisse des ganzen Entwicklungsweges skizziert hat und der Rückkehr in die diesseitige Welt durch die drei symbolischen Handlungen, wendet sich Steiner im sechsten Aufsatz (»Luzifer-Gnosis«, Heft 18, S. 161-166) wieder der Alltagsseele zu und trägt eine Reihe »praktischer« Gesichtspunkte vor, die ihre Selbsterziehung betreffen.
Der Aufsatz handelt von der Stufe der Vorbereitung (der Katharsis). Er bezieht sich auf neun Eigenschaften, die die Seele sich aneignen muss, von denen drei der Empfindungsseele (Geduld, Schweigen von Verlangen und Begierde, Wahrheit gegen sich selbst), drei der Verstandes- oder Gemütsseele (Schwinden der Neugier, Erziehung des Wunschlebens, Bekämpfen von Affekten) und drei der Bewusstseinsseele (Überwinden von Vorurteilen, Milde, Achten auf die Feinheiten des seelischen Lebens) zugeordnet werden können. Diese neun Eigenschaften stellen keinen »Tugendkatalog« dar, sondern sind Anleitungen zur Beobachtung der drei Seelenglieder und Hinweise darauf, wie deren naturhafte Fähigkeiten in solche umgewandelt werden können, die das Ich ihnen einprägt.
Die restlichen Ausführungen des Aufsatzes beziehen sich auf die äußere Umgebung, in der die Übungen durchgeführt werden sollen. Eine vom »Kampf ums Dasein« geprägte »städtische« Umgebung ist der Entwicklung von spirituellen Seelenfähigkeiten ungünstiger, als der »stille Friede«, die »Anmut und Würde« der Natur. Wer gezwungen ist, in der Stadt zu leben, sollte sich wenigstens geistige Nahrung zuführen, indem er sich mit den »erhabenen Lehren der Bhagavad-Gita, des Johannes-Evangeliums oder des Thomas von Kempen« beschäftigt. Hier bezieht sich Steiner explizit auf den christlichen Mystiker, der selbst mystagogische Schriften wie die »Nachfolge Christi« verfasst hat.
(IV.) Sieben Bedingungen (Aufsatz 7)
In den sieben Bedingungen zur Geheimschulung, die der siebte Aufsatz beschreibt (»Luzifer-Gnosis«, Heft 18, S. 161-166), die sich ebenfalls auf die Vorbereitung (Katharsis) beziehen, spiegelt sich das siebengliedrige Menschenwesen. Ihre Erfüllung hängt vom »freien Willen des Einzelnen« ab, nichts kann als »Zwang« aufgefasst werden, was nur Ausfluss des »freien Entschlusses« ist (»Luzifer-Gnosis«, Heft 19, S. 193).
In den sieben Bedingungen leuchten sieben Ideale auf, die aus den geistigen Urbildern der Wesensglieder des Menschen abgeleitet werden können. Wer diese Ideale aus freiem Entschluss zu Antrieben seines Handelns erhebt, erfüllt die Bedingungen für die Geheimschulung.
Die erste Bedingung bezieht sich auf die körperliche Gesundheit und damit auf den physischen Leib des Menschen, die zweite – sich als Glied des ganzen Lebens zu fühlen –, ist aus dem Lebensleib abgeleitet, die dritte – Gedanken und Gefühle als Realität zu betrachten –, bezieht sich auf den Astralleib, die vierte – die das wahre Wesen des Menschen in seinem »Allerheiligsten« anerkennen lehrt –, bildet das Ich des Menschen ab, die fünfte – die Standhaftigkeit in der Befolgung eines einmal gefassten Entschlusses –, greift einen Aspekt des Wirkens des Geistes in der Seele, des Geistselbstes auf, die sechste – das Gefühl der Dankbarkeit gegenüber allem, was dem Menschen zukommt, das sich bis zur Allliebe steigert –, ist ein Ideal des Lebensgeistes und die siebente Bedingung entspricht dem Geistesmenschen. Sie fasst alle vorangegangenen zusammen: der Schüler soll sein ganzes Leben unablässig im Sinne der sechs geschilderten Bedingungen auffassen, er soll sie zu einem einheitlichen Ganzen zusammenschließen, das sein gesamtes Wesen durchdringt.
Der Schlussteil des siebten Aufsatzes lässt wieder die zutiefst christliche Ausrichtung des Schulungsweges aufleuchten. Er nimmt zugleich den Ausblick vorweg, den am Ende der Schilderung des Weges die Begegnung mit dem »großen Hüter der Schwelle« eröffnet. Die Menschenliebe muss sich allmählich weiten zur »Liebe zu allen Wesen, allem Dasein«. Der Geheimschüler soll aufbauen, nicht zerstören, er soll sich nicht von der Welt ab, sondern ihr zuwenden. Arbeit und Andacht sind die beiden Grundgefühle, die ihn leiten sollen. Die Benediktinerregel mit ihrem Grundsatz ora et labora klingt in diesen Worten auf. Arbeit nicht um des Erfolges, sondern um ihrer selbst willen, Lernen mit Andacht, Hingabe an die Wahrheit und das wahrhaft Gute bringen den Menschen weiter, nicht Kritik und Zerstörung.
(V.) Imagination, Inspiration, Intuition (Aufsätze 8-11)
Die Aufsätze acht bis elf (»Luzifer-Gnosis«, Heft 20-23, S. 225-230, 257-262, 290-293, 321-325) befassen sich eindringlich und auf einer neuen Konkretionsstufe mit der Katharsis. Erstmals werden die Wirkungen der »Einweihung« (die mit der Vorbereitung beginnt) in der seelischen und ätherischen Organisation des Menschen detailliert beschrieben. Der achte und neunte Aufsatz schildern die Ausbildung der Wahrnehmungsorgane der Seele, die zur Imagination führen, der zehnte handelt von der Ausbildung geistiger Wahrnehmungsorgane im Ätherleib, der Erweckung des »Inneren Wortes«, der Inspiration. Der elfte Aufsatz beschreibt ausführlicher die Erfahrungen, die später als Begegnung mit dem »kleinen Hüter der Schwelle« bezeichnet werden und deutet auf die dritte Erkenntnisstufe, die Intuition, voraus, die mit der Ausbildung der zweiblättrigen Lotosblume ihren Anfang nimmt.
Eingeführt wird der achte Aufsatz mit dem Hinweis, wahre Geheimwissenschaft fordere, dass nichts ohne Bewusstsein getan werde. Nichts soll geübt werden, wovon nicht die Wirkungen bekannt sind. Entsprechend werden im Folgenden die Wirkungen der bis anhin beschriebenen Übungen geschildert. Diese Wirkungen treten im »Seelenorganismus« (»Astralkörper«) des Schülers auf (»Luzifer-Gnosis«, Heft 20, S. 226). Dessen Wahrnehmungsorgane, »Lotusblumen« oder »Chakren« beginnen sich aufzuhellen, später zu drehen. Wenn sie sich drehen, beginnt die Fähigkeit des Hellsehens. Denn die »Blumen« sind die Sinnesorgane der Seele, die »astralen« Sinne. Steiner erwähnt sechs solche Sinnesorgane: sie befinden sich (i) zwischen den Augen, (ii) in der Nähe des Kehlkopfs, (iii) in der Nähe des Herzens, (iv) in der Magengrube und (v, vi) im Unterleib.
- Das Sinnesorgan in der Nähe des Kehlkopfs, die sechzehnblättrige Lotusblume, dient dazu, die Gedanken eines anderen Menschen wahrzunehmen und vermittelt einen tieferen Einblick in die wahren Gesetze der Naturerscheinungen.
- Das Organ in der Nähe des Herzens, die zwölfblättrige Lotusblume, vermittelt Wahrnehmungen der Gesinnungen anderer Menschen und »gewisser tieferer Kräfte« von Pflanze und Tier.
- Das Organ in der Magengrube, die zehnblättrige Lotusblume, erlaubt Wahrnehmungen der Fähigkeiten und Talente von Menschen und vermittelt Erkenntnisse von der Bedeutung der Naturwesen im Gesamthaushalt des Kosmos.
Offensichtlich stehen die drei Lotusblumen zu den drei Seelengliedern, der Bewusstseinsseele (»Gedanken und Gesetze«), der Verstandes- und Gemütsseele (»Gesinnungen«) und der Empfindungsseele (»Fähigkeiten und Talente«) in Beziehung.
Jeweils die Hälfte der Blätter einer Lotusblume ist bereits in der vergangenen Entwicklungsgeschichte der Menschheit ausgebildet worden, die andere Hälfte kann durch bestimmte »Verrichtungen« entwickelt und in Tätigkeit versetzt werden. Der Mensch muss mit seinem Wachbewusstsein an der Ausbildung der jeweils anderen Blütenblätter arbeiten.
Aus diesen begründenden Ausführungen ergibt sich die Systematik der Ausbildung der einzelnen Lotusblumen. Die acht Blätter des Kehlkopforgans benötigen acht, die sechs des Herzorgans sechs, die fünf des Organs in der Magengrube fünf und die drei des ersten Organs im Unterleib (sechsblättrige Lotusblume) drei Verrichtungen zu ihrer Entfaltung. Wieder handelt es sich bei den Anleitungen zur Ausbildung der beschriebenen Eigenschaften nicht um »Tugendkataloge«, sondern um Anleitungen zur Selbstbeobachtung und dazu, die naturhaften Fähigkeiten der Seelenglieder durch selbst anerzogene zu ergänzen.
(ad i) Die sechzehnblättrige Lotusblume vermittelt Wahrnehmungen der Gedanken anderer Menschen und tiefere Einblicke in die Naturgesetze (Bewusstseinsseele).
Die Verrichtungen, die ihrer Ausbildung dienen: (1) Aufmerksamkeit auf die Art und Weise, wie man sich Vorstellungen und Begriffe bildet; (2) Entschlüsse nur aus begründeter Überlegung; (3) kein gedankenloses Reden; (4) Regeln des äußeren Handelns durch Gedanken und Erkenntnisse; (5) der Natur und dem Geist gemäße Einrichtung des ganzen Leben; (6) durchdringende Selbsterkenntnis, sich Einfügen in das Ganze der Gesellschaft aufgrund von Erkenntnis; (7) Lernen aus der Lebenserfahrung; (8) Versenkung in das eigene Selbst. – Es ist nicht zu übersehen, dass alle genannten Betätigungen, der Funktion des Organs entsprechend, dessen Ausbildung sie dienen, mit der bewussten Handhabung des Denkens zu tun haben, das die ganze Seele und die Lebenspraxis durchdringen soll. Steiner weist in einem Klammerzusatz darauf hin, dass die beschriebenen Übungen dem »achtgliedrigen Pfad« des Buddhismus »entsprechen«. In seiner Darstellung komme es darauf an, den Zusammenhang dieses Pfades mit der Ausbildung der »astralen Sinne« aufzuzeigen. (»Luzifer- Gnosis«, Heft 20, S. 228.)
(ad ii) Der neunte Aufsatz (»Luzifer-Gnosis«, Heft 21, S. 257-262) wendet sich dem Organ in der Herzgegend, der zwölfblättrigen Lotusblume zu. Diese vermittelt Wahrnehmungen der Gesinnungsart anderer Menschen. Die Wahrnehmungen dieses zweiten Organs unterscheiden sich von jenen des ersten. Die 16blättrige Lotusblume nimmt Gedanken und Naturgesetze als in sich bewegte, mit Leben erfüllte, astrale Gestalten wahr, die 12blättrige die Gesinnung von Menschen in Form von Wahrnehmungen der Seelenwärme und Seelenkälte. In den Naturvorgängen strömen Wachsen und Gedeihen Wärme aus, Absterben und Verwelken Kälte.
Während die Übungen für die 16blättrige Blume sich auf die Handhabung des Denkens beziehen, geht es in den Übungen für die zwölfblättrige um die Handhabung des Willens, der die Verstandes- und Gemütsseele durchdringen muss.
Die betreffenden Anforderungen sind: (1) Regelung des Gedankenlaufs, Gedankenkontrolle; (2) Kontrolle der Handlungen, Vermeiden von Unbeständigkeit und Disharmonie im Handeln; (3) Erziehung zur Ausdauer; (4) Duldsamkeit (Toleranz), Vermeiden überflüssiger Kritik am Unvollkommenen, Schlechten, Betrachten anderer Meinungen aus dem Standpunkt des anderen; (5) Unbefangenheit gegenüber den Erscheinungen des Lebens (»Glaube, Vertrauen«), Empfänglichkeit für neue Einsichten; (6) Gleichmut, der in der willentlichen Aufrechterhaltung eines inneren Gleichgewichtes angesichts der Anfechtungen von Leid und Freude, Lust und Schmerz besteht.
(ad iii) Es schließen sich die Anleitungen zur Ausbildung der zehnblättrigen Lotusblume in der Magengrube an, die die Wahrnehmung von Talenten und Fähigkeiten, Kräften und verborgenen Eigenschaften in der Natur ermöglicht. Durch sie treten zu den in sich bewegten Gestalten und Formen und den Wahrnehmungen der Seelenwärme und -kälte solche von Licht und Farbe hinzu. Die Anweisungen beziehen sich auf die bewusste Durchdringung der Kräfte der Empfindungsseele.
Die fünf Eigenschaften sind: (1) Beherrschung der Sinneseindrücke als einer möglichen Quelle von Illusionen. Die unwillkürliche Wirksamkeit der Empfindungsseele, die die Eindrücke der Sinne an den Geist vermittelt, muss durch eine willkürliche ersetzt werden; (2) Befreiung des Gedankenlebens von der Abhängigkeit von Sinneseindrücken; (3) Ersetzen unwillkürlicher Sympathien und Antipathien für oder gegen etwas durch frei erzeugte Gefühlsbeziehungen; (4/5) Meditation in den beiden früher beschriebenen Formen: über die Vorgänge des Werdens und Vergehens in der Natur, über die Welt der Töne.
(ad iv) Der letzte Teil des Aufsatzes wendet sich schließlich der sechsblättrigen Lotusblume »in der Leibesmitte« (im Unterleib) zu. Konsequenterweise stellt das Bildeprinzip der folgenden Schilderung die Dreiheit dar. Sie betrifft nicht eines der drei Seelenglieder, sondern das Zusammenspiel der drei Wesensaspekte des Menschen, Leib, Seele und Geist. Zu ihrer Ausbildung muss die »vollkommene Beherrschung des Menschen durch das Selbstbewusstsein« angestrebt werden. Leib, Seele und Geist sollen in vollkommener Harmonie zusammenwirken. Der Geheimschüler bedarf einer freien Seele, die im Gleichgewicht zwischen Sinnlichkeit und Geist steht.
Die sechsblättrige Lotusblume führt zum »Verkehr mit geistigen Wesen, die den höheren Welten angehören«, sofern sich diese in astraler Form, in der Seelenwelt, zeigen. Sie führt also zu Imaginationen geistiger Wesenheiten. Allerdings werden keine Anweisungen zur Ausbildung dieser Lotusblume erteilt, wenn der Schüler nicht zuvor die Fähigkeit erlangt hat, durch seinen Geist in eine höhere Welt als die seelische einzutreten. Der Eintritt in die Geisteswelt ist erforderlich, weil der Schüler sonst zwar sehen könnte, das Gesehene aber nicht zu beurteilen vermöchte. Der Eintritt in die Geisteswelt ist dem Hinzutreten des Denkens zur Beobachtung vergleichbar. Er stellt den Übergang von der Imagination zur Inspiration dar, vom bloßen Sehen zum Hören im Geiste. Diesen Übergang beschreibt Steiner im folgenden Aufsatz.
(Auf einen Unterschied zum traditionellen System des Laya-Yoga sei hier hingewiesen. Die Entwicklung der einzelnen Organe erfolgt in diesem von unten nach oben, sie beginnt also mit dem Muladhara-Chakra in der Kreuzbeinregion. Die sechszehnblättrige Lotusblume in der Nähe des Kehlkopfes ist im Laya-Yoga ein Klang-tattva und steht in Beziehung zum Hören als Wahrnehmungssinn; die zwölfblättrige Lotusblume in der Herzgegend ist ein Berührungs- und Empfindungs-tattva und steht in Beziehung zum Fühlen als Wahrnehmungssinn; die zehnblättrige Lotusblume in der Nabelgegend ist ein Gesichts-tattva und steht zum Sehen als Wahrnehmungssinn in Beziehung. Siehe Arthur Avalon, [amazon_textlink asin=’3502610444′ text=’Die Schlangenkraft: Die Entfaltung schöpferischer Kräfte im Menschen’ template=’ProductLink’ store=’anthroblog-21′ marketplace=’DE’ link_id=’66a090fd-032d-11e7-8a91-7b35a3c0420f’], Ranchi 1918, München 1982).
Der zehnte Aufsatz (»Luzifer-Gnosis«, Heft 22, S. 290-293) greift diesen Unterschied zwischen Imagination, übersinnlicher Wahrnehmung und Inspiration, »innerem Wort«, geistigem Denken, gleich zu Beginn auf. Die Ausbildung des Astralleibs führt zu Wahrnehmungen. Wer sich in dieser Wahrnehmungswelt zurechtfinden will, darf nicht bei der Wahrnehmung stehen bleiben. Er muss die Fähigkeit erwerben, die Wahrnehmungen denkend zu durchdringen. Diese Fähigkeit ist das »innere Wort«. Um dieses vernehmen zu können, bedarf der Ätherleib einer ähnlichen Ausbildung, wie zuvor der Astralleib. Auch dieser muss vom Bewusstsein durchdrungen und beherrscht werden.
Die Schilderungen der Vorgänge und Übungen, die sich auf die Ausbildung und Beherrschung des Ätherleibs beziehen, sind naturgemäß nicht mehr so ausführlich und detailliert, wie jene zur Ausbildung des Astralleibs, setzt diese höhere Stufe der Einweihung doch die Realisierung dessen voraus, was sich auf die vorhergehende Stufe bezieht. Der wesentliche Gedanke ist der, dass der Schüler lernt, die Strömungen und Kräfte des Ätherleibes zu lenken, die im gewöhnlichen Alltag vom Bewusstsein des Menschen völlig unabhängig sind. Soll der Ätherleib zu einem Erkenntnisorgan werden, muss er mit Bewusstsein durchdrungen werden. Zum Erkenntnisorgan kann der Ätherleib nur werden, wenn der Mensch ihn ebenso kontrolliert zu gebrauchen vermag, wie Auge und Ohr oder das Organ seines Denkens. Mit der Ausbildung eines ätherischen Herzorgans ist die Stufe erreicht, auf der der Schüler mit dem »inneren Wort« begabt wird (»Luzifer-Gnosis«, Heft 22, S. 291). Das innere Wort wird also im Herzen vernommen, die geheimen Namen der Dinge und Wesen sprechen sich im Herzen aus, das auf sie lauscht. Die Dinge werden nun für den Menschen »in ihrem innersten Wesen« hörbar, sie sprechen »von ihrem eigentlichen Wesen« zu ihm. Es sei daran erinnert, dass diese Entwicklungsstufe mit der Wasserprobe, der zweiten Stufe der Einweihung, korrespondiert, so wie die erste Stufe, die Imagination, mit der Feuerprobe.
Der elfte Aufsatz (»Luzifer-Gnosis«, Heft 23, S. 321-325) wendet sich den Beobachtungen zu, die die Grundlage für die spätere Schilderung der Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle bilden. Zunächst ist wieder von astralen Wahrnehmungen die Rede, also von Imaginationen.
Unter den geistigen (astralen) Gebilden, die sich der 16blättrigen Lotosblume zeigen, sind solche, deren Aussehen sich durch die Gedanken und Empfindungen des Sehenden nicht beeinflussen lässt. Diese Gebilde kann der Sehende nur verstehen, wenn er sich selbst beobachtet. Er erkennt, dass diese Gestalten durch ihn selbst hervorgerufen werden. Sein eigenes Seelenleben, sein eigener Charakter kommt in ihnen zum Ausdruck. Seine Trieb-, Begierden- und Vorstellungswelt zeigt sich in objektiven astralen Gebilden, seine Innenwelt tritt ihm als Teil der geistigen Außenwelt wie ein Spiegelbild entgegen. Steiner spricht hier von nichts anderem, als vom so genannten Doppelgänger oder dem kleinen Hüter der Schwelle. Wenn der Geheimschüler vor der Erweckung der astralen Sinne durch die vielen Übungen der Vorbereitungsphase, die seine Beobachtung auf seine seelischen Eigenschaften lenken, diese Eigenschaften ausreichend kennen gelernt hat, dann wird er sie in ihren astralen Gegenbildern lediglich wieder erkennen und ihre bildhafte Verkörperung wird für ihn keine erschütternde Prüfung darstellen.
Es ist aber notwendig, dass der Geheimschüler durch den »geistigen Anblick seiner eigenen Seele hindurchgeht«. Denn an der Erkenntnis seines gewöhnlichen Selbstes, mit dem er durch die Seelenübungen ausreichend vertraut ist, schult er seine Fähigkeit heran, die astralen Entsprechungen seelischer Eigenschaften zu erkennen. An sich selbst hat er das beste Übungsobjekt, um sein Erkenntnisvermögen zu schulen. Der sichere Zugang zur höheren Welt muss deshalb über die Selbsterkenntnis, die Begegnung mit dem »Doppelgänger« führen. Allein die Erkenntnis des Doppelgängers sichert die Objektivität geistiger Erkenntnis.
Ist der Schüler durch die astrale Selbsterkenntnis gegangen, kann er die zweiblättrige Lotusblume in der Stirngegend gebrauchen lernen. Sie führt sein »höheres Ich« zur Wahrnehmung geistiger Wesenheiten. Das höhere Selbst, das bisher im Menschen keimhaft veranlagt war, wird in der geistigen Welt geboren. Es steht in Verbindung mit »Wesenheiten höherer Art«: es ist ein Bürger der Engelwelt. Der Geheimschüler erkennt, dass sein »niederes Selbst« aus diesem höheren hervorgeht, dass es lediglich eine einzelne Ausgestaltung dieses höheren Selbstes ist. Hier kehrt das Verhältnis des Daimons zur irdischen Persönlichkeit wieder, das Steiner im »Christentum als mystische Tatsache …« so eindringlich beschrieben hat. Es ist kein Zufall, dass Steiner an dieser Stelle auf Inkarnation, Reinkarnation und Karma zu sprechen kommt, ist es doch dieses »höhere Selbst«, das sich aus einer höheren Welt in die Verkörperung herabsenkt. Das »niedere Selbst« erscheint dem Schüler aus eigener Anschauung als eine der möglichen Gestalten, die sein höheres Wesen annehmen kann und es eröffnet sich ihm ein Ausblick auf seine schrittweise Vervollkommnung, die sich aus der Arbeit des »höheren Selbstes« an seinem »niederen« ergibt.
(VI.) Schlaf und Traum (Aufsätze 12-13)
Mit dem zwölften Aufsatz (»Luzifer-Gnosis«, Heft 24, S. 353-357) beginnt erneut eine vertiefende Wiederholung, die diesmal von den verschiedenen Formen des Bewusstseins ausgeht. Zunächst werden im zwölften Aufsatz die Veränderungen im menschlichen Traumleben beschrieben, die eine Folge der Schulung sind, im dreizehnten die Veränderungen im Schlafbewusstsein.
Das Traumleben des Schülers wird regelmäßiger. Zwar bleibt der sinnbildliche (symbolische) Charakter der Träume zunächst bestehen, aber in sie mischen sich Bilder, die Ausdruck nichtsinnlicher Tatsachen sind. Diese Traumimpressionen bilden aber nicht die Grundlage für die Erkenntnis des Geistesforschers, sie stellen lediglich erste Anzeichen einer höheren Entwicklung dar. Der Träumende beginnt während des Träumens zu »erwachen«, er wird zum Herrn seiner bildhaften (symbolischen, imaginativen) Vorstellungen – eine logische Folge der Tatsache, dass er allmählich die Herrschaft über seinen eigenen Ätherleib erlangt, der ja die Traumbilder produziert. Schon im gewöhnlichen Leben zeichnet die Seele ihre Tageserlebnisse in den (ätherischen) Stoff, aus dem die Welt besteht, in der sie sich während des Träumens aufhält. »Alles, was er denkt und wahrnimmt«, »gräbt« der Mensch »in Abdrücken in diese Welt ein.« (»Luzifer-Gnosis«, Heft 24, S. 354)
Was Steiner hier beschreibt, ist nicht anderes, als die so genannte »Akasha-Chronik« (der Weltenäther, dessen Inhalt sich im menschlichen Ätherleib spiegelt, der sich wiederum im Weltenäther spiegelt), jedoch unter Vermeidung dieses Begriffs. Die Schilderungen sind ein deutliches Beispiel für die Erörterung eines geistigen Sachverhalts ohne Bezugnahme auf eine traditionelle Terminologie. Es handelt sich um grundlegende Darstellungen zur Theorie der Akasha-Chronik.
Da das Tagesbewusstsein von den Sinnesseindrücken erfüllt ist, vermag es die erwähnten astralen Engramme nicht wahrzunehmen. Die entwickelten Lotosblumen vermögen dies jedoch. In die ätherische Substanz werden auch die Erlebnisse der Seele während des Schlafs eingezeichnet. Durch die Entwicklung des Ätherleibs entsteht ein Wissen von diesen »Einzeichnungen«. Hier spricht Steiner wieder von den Bildern und Figuren, die den Inhalt der astralen Wahrnehmung bilden, von denen bereits in den vorangehenden Aufsätzen die Rede war, die durch die inspirative Erkenntnis gedeutet werden können.
Dem Geheimschüler wird nun »gezeigt« – ohne Zweifel durch einen übersinnlichen Vorgang, der sich im Geistigen abspielt –, wie er das »so genannte Kundalinifeuer« im ätherischen Herzorgan entzünden kann. (»Luzifer-Gnosis«, Heft 24, S. 355) Dieses Feuer strahlt in die umgebende geistige Welt und macht diese sichtbar. Ein vollkommenes Bewusstsein eines »Gegenstandes« der geistigen Welt entsteht erst dort, wo der Mensch selbst »das Geisteslicht« auf ihn zu werfen vermag (»Luzifer-Gnosis«, Heft 24, S. 355). Das geistige Feuer, von dem Steiner hier spricht, ist den Lesern seiner Schriften nicht unvertraut. Bereits in »Goethes Weltanschauung« war von diesem Feuer die Rede (GA 6, 1. Aufl., S. 60-61, Download der ersten Auflage), ebenso in der »Mystik im Aufgang …« (GA 7, 1. Aufl., S. 110-111). Auch das »Christentum als mystische Tatsache …« erwähnt es (GA 8, 1. Aufl., S. 12).
Der dreizehnte Aufsatz setzt diese Beschreibungen »einiger Wirkungen der Geheimschulung« fort (GA 8, 1. Aufl., S. 12). Er ist zugleich der letzte mit diesem Untertitel. Mit ihm beginnt der dritte Jahrgang der Zeitschrift.
Die neue Folge wendet sich den Veränderungen im Schlafbewusstsein des Schülers zu. Sie bestehen darin, dass dessen völlige Bewusstlosigkeit von bewussten Erlebnissen durchbrochen wird. Der Schüler beginnt während des Schlafens »aufzuwachen«. Wahrnehmungen tauchen auf, die mit der gewöhnlichen Sprache nur schwer zu beschreiben sind, deswegen müssen Gleichnisse und Sinnbilder aushelfen. Die Wahrnehmungen im Tiefschlaf sind dem Hören vergleichbar, wie jene im Traum dem Sehen. Die verborgene Geisteswelt beginnt aus der ganzen Umgebung des Schülers heraus zu tönen. Offensichtlich spricht Steiner hier über die zweite Stufe der übersinnlichen Erkenntnis, das geistige oder innere Wort, die Inspiration, die mit der Umwandlung des Ätherleibes in ein Erkenntnisorgan einhergeht. In diesem Aufsatz schildert er die Wirkungen dieser Umwandlung im Hinblick auf den Schlafzustand. –
Ebenso wenig wie die Traumerlebnisse bilden die Erlebnisse im Schlaf eine Grundlage für »vollgültige Erkenntnis«. Erst, wenn das höhere Bewusstsein des Schlafs auch im Wachbewusstsein erweckt werden kann, beherrscht es der Geistesschüler völlig und kann aus ihm kontrollierte Erkenntnisse schöpfen. Je mehr dieses Bewusstsein im Schlaf ausgeweitet wird, um so mehr schließen sich die einzelnen Beobachtungen und Erfahrungen zu einem Ganzen zusammen. »Das ganze Schlafleben« wird schließlich in ein »vollständig bewusstes umgewandelt«. Die wichtige Stufe, die damit erreicht ist, wird als Kontinuität des Bewusstseins bezeichnet.
(VII.) Kleiner und großer Hüter der Schwelle (Aufsätze 14-16)
Der vierzehnte Aufsatz (»Luzifer-Gnosis«, Heft 26, S. 419-425) setzt mit einer neuen Überschrift »Die Spaltung der Persönlichkeit« ein und schildert die Trennung von Denken, Fühlen und Wollen während der Geheimschulung. Durch die Erlangung der Kontinuität des Bewusstseins tritt die ununterbrochene Tätigkeit der Seele, die auch während des Schlafs fortdauert, ins Bewusstsein. Solange die höheren Sinne nicht geweckt sind, wird der Mensch in seinem gewöhnlichen Bewusstsein von höheren geistigen Wesen geführt. Sie wirken unterhalb der Schwelle seines Bewusstseins und betten ihn in den natürlich-kulturellen Weltzusammenhang ein. Erwacht das Bewusstsein für diese tieferen Schichten der Wirklichkeit, muss der Mensch selbst die Tätigkeiten übernehmen, die diese geistigen Wesenheiten für ihn vollbracht haben.
Eine der Veränderungen betrifft das Zusammenspiel von Denken, Fühlen und Wollen. Da die Organe des Denkens, Fühlens und Wollen im Seelenleib nicht mehr automatisch verbunden sind, muss ihre Verbindung durch das erwachte höhere Bewusstsein des Menschen selbst hergestellt werden. Der Geistesschüler erlangt »die vollkommene Herrschaft über das Zusammenwirken der drei Seelenkräfte« – es ist nun aber auch vollständig in seine eigene Verantwortlichkeit gestellt. Indem die drei Seelenkräfte in die Herrschaft des Menschen gelangen, wandeln sie sich zu Organen der Erkenntnis und des Wirkens in der höheren Welt. (Symbolisch-dramatische Darstellungen dieser verselbständigten Seelenkräfte finden sich in Steiners Mysteriendramen. Dort tauchen sie als Philia, Astrid und Luna auf).
Der fünfzehnte Aufsatz (»Luzifer-Gnosis«, Heft 27, S. 452-456) beschreibt die Begegnung mit dem »kleinen Hüter der Schwelle«. Es gibt nämlich nicht nur einen, sondern deren zwei. Dem kleineren begegnet der Mensch, wenn sich die Verbindungen zwischen den drei Seelenkräften im Astral- und Ätherleib zu lösen beginnen. Dem größeren, wenn sie sich auch im physischen Leib – im Gehirn – trennen. Die erste Begegnung erfolgt beim Übergang von der Stufe der Imagination zur Inspiration, die zweite leitet zur Intuition über.
Der kleinere Hüter ist »ein Geschöpf des Menschen« und zugleich »ein selbstständiges Wesen« (»Luzifer-Gnosis«, Heft 27, S. 452). Was nun folgt, bezeichnet Steiner ausdrücklich als Beschreibung in »erzählender Form« (»Luzifer-Gnosis«, Heft 27, S. 452), die allerdings nicht sinnbildlich zu verstehen sei, sondern ein »im höchsten Grade wirkliches Erlebnis« wiedergebe (»Luzifer-Gnosis«, Heft 27, S. 454). Die Erzählung ist eine zu imaginativer Bildhaftigkeit verdichtete Schilderung einer geistigen Erfahrung, die kein einmaliges Ereignis darstellt, sondern einen langwierigen Entwicklungsprozess, der mit fortgesetzter Vertiefung von Selbsterkenntnis und moralischer Läuterung verbunden ist.
Als »schreckliches, gespenstisches Wesen« steht der kleine Hüter vor dem Schüler. Alle guten und schlimmen Seiten seiner vergangenen Inkarnationen werden vor dem Menschen offenbar. Sie wirkten bisher in ihm, aber er konnte sie nicht sehen. Nun treten sie ihm als selbstständige Gestalt gegenüber. Der Hüter selbst ist diese Gestalt. Der Hüter muss zu einer »in sich vollkommenen, herrlichen Wesenheit« werden, jeder Makel, den er an sich trägt, muss an ihm getilgt werden. Geschieht dies nicht, zieht der Hüter den Menschen mit sich in den Abgrund. Wenn der Mensch die Schwelle überschreitet, wird der Hüter ihn stets begleiten: jede Schuld, jedes Unrecht wird als »dämonische Verzerrung« an ihm sichtbar werden.
Erst wenn alles vergangene Unrecht gesühnt ist und kein neues begangen werden kann, wird sich sein Wesen in »leuchtende Schönheit« verwandeln. Dann wird sich der Hüter wieder mit dem Menschen vereinigen können.
(Von einem »Hüter der Schwelle« spricht auch Bulwer-Lytton in seinem Roman »Zanoni«. Allerdings ist dieser nur entfernt mit der von Steiner beschriebenen Gestalt vergleichbar. Bei Bulwer-Lytton handelt es sich um eine weibliche Gestalt, eine »Hüterin«, die von Glyndon durch den unrechtmäßigen Gebrauch eines magischen Elixiers heraufbeschworen wird, und diese Gestalt trägt völlig andere Züge, als der kleine Hüter in »Wie erlangt man …«. Die Hüterin der Schwelle tritt in Bulwer-Lyttons Roman im vierten Buch auf, dem als Motto ein Zitat aus Schillers Gedicht »Das verschleierte Bild zu Sais« vorangestellt ist: »Sei hinter ihm was will! Ich heb’ ihn auf – Er ruft’s mit lauter Stimm. Ich will sie schauen.« Der Neophyt hebt in Schillers Gedicht unrechtmäßig den Schleier der Göttin Isis und wird für diesen Frevel mit Wahnsinn gestraft. Außerdem spricht Steiner von zwei Hütern. Die Behauptung Helmut Zanders [»Anthroposophie in Deutschland« I, S. 590], Steiner habe diese »fiktionale Gestalt« Bulwer-Lyttons in seiner Rezeption in eine »okkulte Tatsache« verwandelt, ist ebenso klug, als wenn man behaupten würde, Steiner habe das »fiktionale Motiv« der Auferstehung, von dem die Evangelien berichten, durch seine Christologie in eine »okkulte Tatsache« verwandelt. – Es gibt übrigens noch eine andere romanhafte Auseinandersetzung aus dem 19. Jahrhundert mit diesem Hüter: »Das Bildnis des Dorian Gray« von Oscar Wilde. Die referierten Motive finden sich ebenfalls in diesem Roman. Weitere literarische Abwandlungen findet man im Roman des schottischen Schriftstellers R.L. Stevenson »Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde« oder, im 20. Jahrhundert, in Stephen Kings Romanen).
Die Begegnung mit dem kleinen Hüter führt nicht nur zu einer Anschauung der seelischen Wirkungen der aufeinanderfolgenden Inkarnationen, sie eröffnet auch einen Einblick in die tieferen Schichten des eigenen Wesens. Der Uneingeweihte steht in seinem Leben in Zusammenhang mit einer »Familie, einem Volk, einer Rasse«. Als Angehöriger dieser Gemeinschaften unterliegt er auch ihrem Schicksal, hat an ihren Eigenschaften teil. Den Eigenschaften einer Familie, eines Volkes, einer Rasse liegen aber »wirkliche geistige Wesenheiten« zugrunde [wie Steiner später darstellen wird: die Angeloi, Archangeloi und Archai, die bereits das imaginative, inspirative und intuitive Bewusstsein ausgebildet haben]. Die höheren Geister ziehen ihre Hand vom Schüler nunmehr ab und er muss selbst die Kräfte erwerben, welche den »Volks- und Rassengeistern eigen sind«. Allzu leicht bildet man sich ein, man hätte sich bereits von allen »Stammes- und Rasseneigentümlichkeiten frei gemacht« und sei »nichts als Mensch«.
Darum geht es also an der ersten Schwelle: sich von all diesen Eigentümlichkeiten frei zu machen. »Erst der Geheimschüler lernt erkennen, was es heißt, ganz verlassen sein von Volks-, Stammes-, Rassegeistern.« (»Luzifer-Gnosis«, Heft 27, S. 456) Nun zieht der Hüter einen Vorhang hinter dem Schüler zur Seite und er kann einen Blick werfen auf die Stammes-, Volks- und Rassengeister, die in ihrer Wirksamkeit offenbar werden. Sie werden ihn nicht mehr führen, er ist künftig völlig sich selbst überlassen, mit anderen Worten: er ist frei.
Der sechzehnte und letzte Aufsatz (»Luzifer-Gnosis«, Heft 28, S. 486-490) schildert die Begegnung des Menschen mit dem großen »Hüter der Schwelle«. Dieser führt ihn zu Ausblicken auf die Zukunft des ganzen Menschengeschlechts. Eines der »wichtigsten Erlebnisse des Eingeweihten« ist, dass er die »sinnlich-sichtbare Natur erst in ihrem wahren Wert schätzen lernt«. Ohne die Erlebnisse in der sichtbaren Welt wäre der Mensch ganz ohnmächtig in der unsichtbaren, denn all die Fähigkeiten, die er benötigt, um sich in der letzteren zu bewegen und zu orientieren, kann er nur in der ersteren ausbilden.
Durch den Eintritt in die höhere Welt beginnt der Mensch in der sinnlichen einen »Keimboden« für die geistige zu sehen. Zwei Ausblicke eröffnen sich ihm: einer in die Vergangenheit, einer in die Zukunft. Steiner spricht im Folgenden vom geistigen Einschlag, den der Kosmos und die Menschheitsentwicklung durch das Leben und den Tod des Christus erhalten haben.
Zwar spricht er den Namen des Christus nicht aus, aber er schildert die kosmischen und irdischen Folgen seines Lebens und Sterbens. Auf eine gewaltige Umstülpung deutet Steiner hier, jene Umstülpung, die aus dem Menschen und dem geistigen Leben, das er in sich entzündet, einen neuen Kosmos hervorgehen lässt, jenen Kosmos, dessen Grundsubstanz die Liebe ist. Der Mensch muss sich durch all dieses Vergängliche hindurcharbeiten, um sich vom Geschöpf zum Schöpfer zu erheben. Die Reihe der Wiederverkörperungen ist ein Befreiungsprozess. Die Entwicklung des Menschen verläuft so, dass er sich von den kollektiven Eigenschaften der Volks- und Rassenformen befreit, dass seine Erscheinungsform immer mehr ein Ausdruck seines eigenen geistigen Wesens wird. Die vollkommenste Erscheinungsform des Menschen ist der vollendete Geistleib, der ganz von der Individualität und ihrem geistigen Licht durchdrungen ist, der vollendeter und harmonischer Ausdruck der Gattung ist, die der Mensch als geistiges Wesen darstellt, jeder einzelne für sich.
Diese erhabene Lichtgestalt, das imaginative Bild seiner eigenen Zukunft, tritt dem Menschen in Form des großen Hüters der Schwelle entgegen. Ihm begegnet der Mensch, wenn sich die Organe der drei Seelenkräfte auch in seinem physischen Leib voneinander gelöst haben und er deren Koordination selbst übernehmen kann.
Der große Hüter zeigt dem Menschen einen zweifachen Weg auf: den schwarzen und den weißen Pfad. Er verkündet dem Geistesschüler keine andere Botschaft, als die des Evangeliums: Was du dem geringsten meiner Brüder getan hast, das hast du mir getan.
Der Einzelne könnte als Erlöster in der geistigen Welt verbleiben, aber all seine Mitgeschöpfe, die doch seine Brüder und Schwestern sind, blieben unerlöst zurück. Er muss sich ihnen zuwenden und seine Kräfte mit ihnen teilen. Ja, der große Hüter verwehrt dem Schüler sogar den Eintritt in die höchsten Gebiete der übersinnlichen Welt, solange er nicht all seine erworbenen Kräfte »zur Erlösung seiner Mitwelt verwendet hat«. Weigert er sich, dies zu tun, dann wendet er sich dem schwarzen Pfad zu. Auf den weißen Pfad begibt sich, wer versucht, all seine Kräfte »in den Dienst der Befreiung und Erlösung aller Wesen« zu stellen. An der Seligkeit des Einzelnen haben weiße Okkultisten kein Interesse. Ihnen liegt allein »an der Entwicklung und Befreiung aller Wesen, die Menschen und Genossen des Menschen sind«.
Der Aufsatz schließt mit einer lapidaren Bemerkung, in der sich der erste Satz der ganzen Folge widerspiegelt, jedoch mit umgekehrten Vorzeichen. Der beschriebene Pfad, so Steiner, ist nämlich so veranlagt, dass er den Schüler »so lange von der überirdischen Welt fernhält, bis dieser sie mit dem Willen zur hingebenden Mitarbeit betritt«.
Also: Wohl schlummern in jedem Menschen Fähigkeiten, durch die er sich Erkenntnisse der höheren Welten erwerben kann, aber der beschriebene Pfad selbst hält ihn von solchen Erkenntnissen fern, solange er ihrer nicht würdig ist.
Wie man sieht, mündet die Schilderung des Weges am Ende wieder in das Eingangsmotiv: die höchste Erkenntnis, zu der er hinführt, die Begegnung mit dem großen Hüter der Schwelle, stellt geistig-leibhaftig das erhabene Ziel vor Augen, das bereits am Anfang gegenwärtig ist: der Weg zur höchsten Erkenntnis, zur höchsten Vollendung, führt durch das Tor der Demut. Der Weg der Einweihung ist ein Weg, der im Dienste der Befreiung und Erlösung aller Wesen, die Menschen und Genossen des Menschen sind, beschritten werden soll.
Was in Form des großen Hüters dem Schüler entgegentritt, ist nicht irgendeine Phantasiegestalt, die Steiner ausgedacht hätte, es ist jenes größte Vorbild des Opfers und der Selbstlosigkeit, dem auch der von Steiner beschriebene Schulungsweg verpflichtet ist, jenes Wesen, von dem der große griechische Kirchenlehrer Gregor von Nazianz (ca. 326-390) spricht, wenn er sagt: »Lasst uns werden wie Christus, da Christus uns gleich geworden ist. Werden wir Götter um seinetwillen, da er um unseretwillen Mensch geworden ist.« (Gregor von Nazianz, Orat. 1 n. 5, PG 35, 397 C).
1909/10 hat Rudolf Steiner in seiner »Geheimwissenschaft im Umriss« das Geheimnis dieses »großen Hüters der Schwelle« nicht nur angedeutet, sondern unmittelbar ausgesprochen. Er verwandelt sich nämlich in der Wahrnehmung des Geistesschülers »in die Christus-Gestalt«. »Der Christus zeigt sich ihm als das ›große menschliche Erdenvorbild‹« (GA 13, 1. Aufl., 1910, S. 378).
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