Aristoteles über die Seele, Geist und Gott – II

Zuletzt aktualisiert am 8. April 2016.

Die Schule von Athen. Plato und Aristoteles.

Raffael, Die Schule von Athen. Ausschnitt. Plato und Aristoteles

Über die Seele. I.4. (408b19 f.)

Der Geist

Der Geist (nous) scheint ein unabhängiges Wesen (ousia) zu sein, das in uns Gestalt annimmt und er scheint unvergänglich zu sein. Der wahrscheinlichste Grund für seine scheinbare Zerstörung liegt in der Altersschwäche, aber es geschieht hier dasselbe wie bei den Sinnesorganen; wenn ein Greis ein richtiges Auge erlangen könnte, würde er wie ein junger Mann sehen können. Daher ist das Alter kein Zustand, der die Seele betrifft, sondern lediglich das, worin die Seele ist, ebenso wie der Rausch und die Krankheit. Die geistige Tätigkeit und das ideelle Anschauen nehmen ab, weil etwas anderes, worin die Seele ist, schwindet, sie selbst aber ist davon nicht betroffen. Das zergliedernde Denken (dianoein), das Lieben oder Hassen sind nicht Zustände des Geistes, sondern des anderen, das ihn besitzt, falls es ihn überhaupt besitzt. Aufgrund des Schwindens dieses anderen schwinden auch Erinnern und Lieben dahin, denn sie gehörten nie jenem an, sondern dem Gemeinsamen, das sich aufgelöst hat. Der Geist ist etwas Göttlicheres und leidenslos …

III.4. (429a 10 f.)

Zu 4 (vorhergehendes siehe Teil 1): Im Umkreis jenes Teils der Seele, durch den sie erkennt und aufs Handeln gehende Überlegungen anstellt – mag er nun räumlich oder nur begrifflich (vom Körper) trennbar (chōristos) sein oder nicht – müssen wir untersuchen, worin sein Begriff besteht und wie das geistige Anschauen (noein) zustande kommt. Ist dieses Anschauen dem Wahrnehmen ähnlich, so müsste es vom Angeschauten (noētos) eine Einwirkung erleiden, und dies oder etwas Derartiges müsste sein Wesen ausmachen. Der Geist (nous) besitzt also (obwohl er keine Einwirkung erleidet [apathēs]) die Fähigkeit, die geistigen Gestalten (eidous) in sich aufzunehmen, und ist der Möglichkeit nach wie diese, aber nicht wie eine bestimmte, und er verhält sich zum geistig Angeschauten wie der Sinn zu dem, was er wahrnimmt. Da er alles geistig anschaut, muss er unvermischt (amigē) sein, wie Anaxagoras sagt, damit er herrsche (kratein), d. h. erkenne (gnōrizein). Denn etwas von ihm Verschiedenes, das in ihn eindränge, würde ihn an seiner Tätigkeit hindern und ihn einschränken. Daher kann sein Wesen in nichts anderem als in der Möglichkeit des Aufnehmens bestehen. Der sogenannte Geist der Seele also (als »Geist« bezeichne ich aber das, wodurch die Seele Begriffe bildet und deren Inhalte erfasst) ist der Wirklichkeit nach nichts vom Seienden, bevor er es geistig anschaut. Daher ist die Annahme unrichtig, er sei mit dem Körper vermischt. Denn dann würde er Eigenschaften wie kalt oder warm annehmen, oder er würde ein Organ besitzen, wie das sinnliche Wahrnehmen. Nun gibt es aber kein derartiges Organ. Gut sprechen jene, die sagen, die Seele sei die Region der geistigen Gestalten (eidōn), aber nicht die ganze, sondern nur die Geistseele (hē noētikē), und die geistigen Gestalten sind nur der Möglichkeit nach in ihr, nicht der Wirklichkeit nach (entelecheia). Dass aber das Freisein von Einwirkungen (apatheia) bei den Sinnen nicht dasselbe ist, wie beim geistigen Anschauen, wird deutlich, wenn wir die Sinnesorgane und die Wahrnehmungen betrachten. Denn der Sinn vermag nicht wahrzunehmen, wenn das Wahrgenommene zu heftig ist, wie das Hören nach einem gewaltigen Lärm, und weder Sehen noch Riechen sind möglich nach intensiven Farb- oder Geruchswahrnehmungen. Wenn aber der Geist etwas anschaut, was in besonderem Maß geistig ist, dann vermag er das weniger Geistige nicht schlechter, sondern besser zu erfassen. Denn der Sinn ist nicht ohne den Körper, der Geist aber ist trennbar (chōristos). Aber auch wenn er zu all seinen Gegenständen wird, so wie der Wissende, der sein Wissen als Wirksames darlebt (und dies ist dann der Fall, wenn er durch dasselbe zu wirken vermag), dann ist er immer noch in gewissem Sinn ein bloß möglicher, wenn auch nicht auf dieselbe Art, wie zuvor, als er sein Wissen noch nicht erworben und gefunden hatte; und er vermag dann sogar sich selbst anzuschauen. …

(429b23 f.)

Nun mag sich die Zweifelsfrage erheben: Wenn der Geist etwas Einfaches (haplous) ist und nichts auf ihn einwirkt (apathēs) und er mit nichts anderem etwas gemeinsam hat, wie Anaxagoras sagt, wie ist er dann imstande, etwas geistig anzuschauen, wenn geistiges Anschauen eine Art von Erleiden (paschein) sein soll? Denn nur, wenn zwei Dingen etwas Gemeinsames zugrunde liegt, kann das eine wirken, das andere die Wirkung aufnehmen. Und wie kann er selbst zum Gegenstand der Anschauung werden? Denn entweder der Geist beherrscht alles andere (d.h., wenn er nicht durch anderes, sondern durch sich selbst Gegenstand der Anschauung ist und wenn das Angeschaute seiner Form nach eines ist), oder es ist ihm etwas beigemischt, das ihn so wie alles übrige zu einem Gegenstand der geistigen Anschauung macht. Oder es liegt das Erleiden einer Einwirkung aufgrund eines Gemeinsamen vor, wie wir zuvor gesagt haben, und der Geist ist der Möglichkeit nach alles Angeschaute, der Wirklichkeit nach aber nichts, bevor er es wirklich anschaut. Es muss so sein, wie bei der Schreibtafel, auf der die Wirklichkeit des Geschriebenen noch nicht erschienen ist. So verhält es sich offensichtlich mit dem Geist. Er selbst ist Gegenstand der geistigen Anschauung, wie alles andere auch. Bei dem, was frei von Stoff ist, ist das Angeschaute und das Anschauende ein und dasselbe; denn das anschauende Erkennen ist mit dem Erkannten selbst identisch. Warum er aber nicht unentwegt (aei) in der Tätigkeit des Anschauens begriffen ist, müssen wir untersuchen. Bei dem, was mit Stoff verbunden ist, gehört jedes einzelne nur der Möglichkeit nach dem geistig Anschaubaren an. Daher ist nichts von diesem vom Geist durchdrungen (frei vom Stoff ist der Geist der Möglichkeit nach alles dieses), während er sich selbst als Gegenstand der Anschauung durchdringt.

Der Geist, der alles wirkt und der Geist, der alles wird

III.5.

Da in der gesamten Welt etwas der Stoff ist, aus dem ein jedes wird (das der Möglichkeit nach alles ist), und etwas anderes der Urgrund und das Gestaltende, das alles wirkt – so wie das Gestalten der Kunst und der Stoff, den es gestaltet – müssen diese beiden unterschiedlichen Dimensionen auch in der Seele sein. Und so gibt es einen Geist, der alles wird (panta ginesthai) und einen solchen, der alles wirkt (panta poiein), der sich wie eine Kraft verhält, so wie das Licht; denn in gewissem Sinn macht das Licht die bloß der Möglichkeit nach existierenden Farben zu wirklichen Farben. Und dieser Geist ist abgetrennt (chōristos) und leidenslos (apathēs) und unvermischt (amigēs) und seinem Wesen nach Wirksamkeit (energeia). Immer aber ist das Wirkende erhabener als das Leidende und der geistige Urgrund als der Stoff. Dasselbe ist das wirkliche Wissen und sein Gegenstand. Das Mögliche ist im Einzelnen der Zeit nach früher als das Wirkliche, im Ganzen jedoch nicht. Der Geist aber ist nicht manchmal in Tätigkeit begriffen, manchmal nicht. Getrennt ist er das, was er ist, und dies allein ist unsterblich (athanatos) und ewig (aidion) (und wir erinnern uns nicht, weil dieser Geist zwar leidenslos ist, der Wirkungen aufnehmende Geist [nous pathētikos] aber vergänglich), und ohne jenen gibt es keine wirkliche geistige Anschauung.

Die Seele als erkennendes Wesen

III.8. (431b20 f.)

Jetzt wollen wir das Wichtigste von dem, was wir über die Seele gesagt haben, zusammenfassen und wiederholen, dass die Seele in gewisser Weise alles Seiende ist. Das Seiende wird entweder sinnlich wahrgenommen oder durch den Geist erfasst. Das Wissen ist in gewisser Weise das Gewusste und die Wahrnehmung die Gegenstände; in welchem Sinn, gilt es zu untersuchen. Das Wissen und das Wahrnehmen scheiden ihre Gegenstände in das Mögliche und das Wirkliche. Das Wahrnehmungs- und das Erkenntnisvermögen der Seele ist der Möglichkeit nach dies: das Wahrgenommene und das Erkannte. Sie müssen also dieses selbst oder seine geistigen Formen (eidē) sein. Die Gegenstände selbst können sie nicht sein: denn der Stein ist nicht in der Seele, sondern seine Form, seine geistige Gestalt (eidos). Die Seele ist also wie die Hand: denn die Hand ist das Werkzeug aller Werkzeuge, der Geist die Form aller Formen und die Wahrnehmung die Form alles Wahrgenommenen. Da aber, wie es scheint, kein Gegenstand abgesondert von den ausgedehnten, wahrnehmbaren Körpern existiert, sind die vom Geist erfassten Gegenstände in den Formen der Sinneswahrnehmungen mit enthalten – sowohl die sogenannten abstrakten der Mathematik, als auch die Eigenschaften und Zustände der Sinnesgegenstände selbst. Und deswegen müssen wir – so wie wir nichts lernen oder verstehen können, ohne wahrzunehmen – auch beim geistigen Anschauen stets auf eine leibgebundene Vorstellung (phantasma) hinblicken. Denn die leibgebundenen Vorstellungen sind wie die Wahrnehmungen, nur ohne Stoff. Aber das leibgebundene Vorstellen ist etwas anderes als das Zu- oder Absprechen von Eigenschaften; denn Wahres und Falsches beruhen auf der Verknüpfung von Inhalten (noēmata), die der Geist erfasst. Die ursprünglichsten dieser geistigen Inhalte (prōta noēmata) sind gewiss keine leibgebundenen Vorstellungen. Auch nicht die anderen, die aus ihnen abgeleitet werden, aber sie werden auch nicht ohne diese Vorstellungen erfasst.

Metaphysik XII, 7.

Gott, der unbewegte Beweger und sein Leben

… Es gibt etwas, das in unaufhörlicher Bewegung begriffen ist, und zwar in einer Kreisbewegung. Das ist nicht nur eine einleuchtende Theorie, sondern eine klare Tatsache. Also ist der höchste Himmel ewig.

Folglich muss es auch etwas geben, das ihn in Bewegung setzt. Da aber das, was bewegt wird und seinerseits bewegt, etwas mittleres ist, so muss es auch etwas geben, was bewegt, ohne selbst bewegt zu werden, das ewig ist, Wesen und immerwährende Wirksamkeit (energeia).

Auf diese Weise bewegt, was geliebt wird und was den Inhalt der geistigen Anschauung bildet. Die höchsten Gegenstände der Liebe und der geistigen Anschauung sind aber im Grunde dasselbe. Denn Gegenstand der Liebe ist die schöne Erscheinung, Ziel des Strebens ist aber vor allem das, was wirklich schön ist. Wir streben nach etwas, weil es uns begehrenswert erscheint, und nicht umgekehrt. Denn der Seinsgrund ist die geistige Tätigkeit. Der Geist aber wird von seinem Gegenstand bewegt; Gegenstand des Geistes sind die positiven Bestimmungen (Sein, Einheit, Wesen etc.) und unter diesen steht das Wesen an erster Stelle, und zwar das einfache und wirkliche Wesen. (Es ist aber »Eins« und »einfach« nicht dasselbe. »Eins« bezeichnet nämlich ein Maß, »einfach« aber die Eigenschaft einer Sache). Das Schöne und das um seiner selbst willen Geliebte gehören zu diesen positiven Inhalten. Und das Erste ist das jeweils Beste oder etwas, das diesem entspricht.

Dass aber das, um dessentwillen das andere ist, zu dem Unbewegten gehört, wird durch die Begriffsbestimmung deutlich. Denn das, um dessentwillen etwas anderes ist, ist nicht nur »das Gute für etwas«, sondern auch »das Gute, zu dem etwas hinstrebt«. Das letztere gilt vom Unbewegten, das erstere nicht. Und jenes bewegt als Geliebtes, während alles andere bewegt, weil es selbst bewegt wird.

Was bewegt wird, kann sich auch anders verhalten. Wenn also jene erste Bewegung Wirksamkeit ist, so kann das Bewegte sich anders verhalten, wenigstens dem Ort nach, wenn auch nicht dem Wesen nach. Da aber das Bewegende, Wirkende selbst unbewegt ist, kann es sich auf keine Weise anders verhalten. Denn Bewegung ist die ursprünglichste Art von Veränderung, und unter den Bewegungen ist die Kreisbewegung die erste. Dies aber ist die Bewegung, die jenes Unbewegte verursacht. Folglich kommt ihm notwendig Sein zu; wenn es aber notwendig ist, dann ist es auch gut und insofern Seinsgrund. Denn notwendig ist entweder der Zwang, der sich gegen das Begehren richtet, oder das, ohne welches das Gute nicht bestehen kann, oder das, was schlechthin nicht anders sein kann. An diesem Urgrund (archē) also ist der Himmel und die gesamte Welt aufgehängt.

Sein Leben aber ist ein solches, wie wir es im besten Falle nur kurze Zeit erleben können. Denn jenes ist immerzu so, was für uns unmöglich ist. Und seine Wirksamkeit ist Lust. (Deswegen sind auch für uns Wachen, Wahrnehmen und geistige Tätigkeit am lustvollsten, und Hoffnungen und Erinnerungen ihretwegen). Nun ist die reine geistige Tätigkeit auf das gerichtet, was in sich selbst das Beste ist und die höchste Form der geistigen Tätigkeit auf das im höchsten Sinne Beste. Auf sich selbst aber ist der Geist gerichtet, weil er am Gegenstand seiner Anschauung teilhat, denn er wird zu einem Gegenstand der Anschauung, indem er sich erfasst und erkennt, so dass der Geist und das von ihm Angeschaute ein und dasselbe sind, weil das, was das Angeschaute und das Wesen anschaut, der Geist ist. Und er vollbringt dies in höchster Wirksamkeit. In höchstem Maß scheint der göttliche Geist diese Wirksamkeit zu besitzen und seine geistige Schau ist die lustvollste und vollkommenste. Wenn sich nun Gott ewig so verhält, wie wir uns nur vorübergehend verhalten können, so ist das schon bewunderungswürdig; wenn er dies aber auch noch in höherem Grade tut, so ist das noch bewunderungswürdiger. Und so ist es in der Tat. Und auch von Leben ist er erfüllt. Denn das Leben ist die Wirksamkeit des Geistes; ja, er ist die reine Wirksamkeit. Und die Wirksamkeit und Wirklichkeit seines Wesens ist das vollkommenste, ewige Leben. Wir sagen also, Gott sei ein ewiges, vollkommenes Lebewesen, und ihm komme Leben und ununterbrochenes, ewiges Sein zu. Denn das ist Gott. …

Dass es nun ein ewiges, unbewegtes und von der sinnlich wahrnehmbaren Welt getrenntes Wesen gibt, erhellt aus dem Gesagten. Auch ist gezeigt worden, dass diesem Wesen unmöglich Größe zukommen kann, dass es vielmehr unteilbar und begrifflich unzerlegbar ist. (Denn es bewegt eine unbegrenzte Zeit hindurch; es hat aber nichts Begrenztes eine unbegrenzte Kraft. Jede Größe ist entweder begrenzt oder unbegrenzt. Eine begrenzte Größe kann aber dieses Wesen aus dem angegebenen Grund nicht haben und eine unbegrenzte nicht, weil es überhaupt keine unbegrenzte Größe gibt). Dadurch ist auch erwiesen, dass es leidenslos ist und sich nicht verändert; denn alle anderen Bewegungen sind später als die räumliche. Damit dürfte klar sein, warum es sich so verhält.

XII, 9.

Unser Umkreisen des Geistes wirft einige Zweifelsfragen auf.

Er scheint die Göttlichste aller Erscheinungen zu sein. Was das aber genau bedeutet, ist nicht so leicht zu sagen. Denn wenn der Geist nichts anschaut, worin soll dann seine Erhabenheit bestehen? Er gliche dann einem Schlafenden. Wenn er aber etwas anderes anschaut und dieses andere ihn beherrscht (in diesem Fall bestünde sein Wesen nicht in seiner Wirksamkeit, sondern in der Wirksamkeit dieses anderen), dann könnte er nicht das vollkommenste Wesen sein, denn seine geistige Tätigkeit ist das Verehrungswürdigste an ihm. Und ob nun sein Wesen der Geist oder die Tätigkeit des Geistes ist, worauf ist diese Tätigkeit gerichtet? Schaut er seine eigene Tätigkeit an oder etwas anderes? Und wenn etwas anderes, immer dasselbe oder ständig Verschiedenes? Und macht es einen Unterschied aus oder nicht, ob man das Gute oder irgend etwas Zufälliges anschaut? Und gibt es nicht manche Dinge, die anzuschauen töricht ist? Gewiss schaut der göttliche Geist nur das Göttlichste und Wertvollste an und ändert sich nicht. Denn jede Veränderung wäre eine solche ins Geringere, und sie bestünde schon in einer Art von Bewegung.

Erstens nun, wenn sein Wesen nicht in geistiger Tätigkeit bestünde, sondern nur in der Möglichkeit dazu, dann müsste man annehmen, dass ihm die ununterbrochene Tätigkeit beschwerlich wäre. Ferner wäre klar, dass es dann etwas geben müsste, das wertvoller ist als der Geist, nämlich das, worauf sich seine Anschauung richtet. Die geistige Tätigkeit und ihr Gegenstand eignen aber auch dem, der das Schlechteste anschaut. Wenn also dies zu vermeiden ist (denn bei manchen Dingen ist es besser, sie nicht zu sehen, als sie zu sehen), so ist die Tätigkeit allein noch nicht das Höchste. Folglich muss der göttliche Geist sich selbst anschauen, wenn er denn das Vollkommenste ist, und seine geistige Tätigkeit besteht in der Selbstanschauung eben dieser Tätigkeit (noēsis noēseōs).

Nun richten sich aber augenscheinlich das Wissen, die sinnliche Wahrnehmung, das Vertrauen und die Überlegung in der Regel auf etwas anderes und nur ausnahmsweise auf sich selbst. Wenn aber geistiges Anschauen und Angeschautwerden zweierlei sind, so fragt es sich, worin bei Gott die Vollkommenheit besteht, in seinem Anschauen oder in dessen Gegenstand? Denn beides ist nicht dasselbe. Ist jedoch nicht in einigen Gebieten das Wissen sein eigener Gegenstand? Beim angewandten Wissen ist es, abgesehen vom Stoff, das Wesen und das, was es immer schon war und bei den theoretischen die Wesensbestimmung und die geistige Tätigkeit. Da also Gegenstand und Tätigkeit nicht verschieden sind, soweit es sich um Gegenstände handelt, die frei von Stoff sind, so werden auch beim göttlichen Geist Anschauen und Angeschautes zusammenfallen.

Es bleibt noch die Frage, ob der Gegenstand seiner geistigen Tätigkeit etwas Zusammengesetztes ist. Wäre dies der Fall, dann wäre seine Tätigkeit, indem sie sich auf die Teile des Ganzen richtete, einem Wechsel unterworfen. Ist denn aber nicht alles unteilbar, dem kein Stoff anhaftet? Wie sich nun der menschliche Geist, der doch (gewöhnlich) auf das Zusammengesetzte gerichtet ist, vorübergehend verhält, nämlich wenn er das höchste Gut als Ganzes erfasst, obwohl es doch von ihm verschieden ist, und nicht einen Teil nach dem andern, so verhält sich der göttliche Geist, dessen Tätigkeit sich selbst zum Gegenstand hat, in alle Ewigkeit.

Zum vorherigen Beitrag

Kommentare sind geschlossen.

Kommentare sind geschlossen