Gefährdete Freiheit (1) – Steiners Rede von drohenden Denkverboten

Zuletzt aktualisiert am 19. April 2020.

ZensurRechtfertigt die Entwicklung der westlichen Gesellschaften einen Titel wie »gefährdete Freiheit«? Oder betreiben jene, die von staatlicher Zensur, von »Mainstream«, von einer Verengung des »Meinungskorridors« und dergleichen reden, nur Panikmache? Dass die Freiheit ein allzeit gefährdetes Gut ist, stellt gewiss keine neue Einsicht dar. Schwieriger ist es, den Stand ihrer Verwirklichung und Sicherung zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer spezifischen Gesellschaft zu bestimmen, zumal wenn man dieser Gesellschaft selbst angehört und sich an ihren politischen Auseinandersetzungen beteiligt. Günstig könnte sich daher erweisen, die Frage aus einer anderen Perspektive als der zeitgenössischen zu betrachten. Zum Beispiel im Vorblick auf die Gegenwart aus dem Jahr 1916.

In zwei Vorträgen, die Steiner im zweiten Kriegsjahr (1916) zu Berlin hielt, beschrieb er gewisse Tendenzen der bevorstehenden Kulturentwicklung im 20. und 21. Jahrhundert, die den Titel »gefährdete Freiheit« zu rechtfertigen scheinen – wenn man denn davon ausgeht, dass solche Prognosen für die Jetztzeit relevant sind, was noch zu erweisen sein wird.[1]

Im ersten der beiden, am 28. März, berichtete er, wie es zu der Feindseligkeit Annie Besants ihm bzw. der anthroposophischen Bewegung gegenüber gekommen war.

Er erzählte von H.P. Blavatsky und britischen Okkultisten, die aus der Geschichte Griechenlands und Roms die Idee abgeleitet hätten, das Angelsachsentum müsse in der fünften Kulturepoche (ab der Neuzeit) die Welt beherrschen (okkulter Imperialismus).[2] Ein Aspekt dieses okkulten Imperialismus war die Vorstellung, der britische Geist sei die »Amme« der slawischen Völker, die sich im kulturellen Kindheitszustand befänden und ebenso durch die Angelsachsen herangezogen werden müssten, wie die mittel- und westeuropäischen Völker durch den griechisch-lateinischen Geist.

Nachdem Blavatsky als offensichtlich inspirierte Autorin in Erscheinung trat, wurde sie von britischen Okkultisten der »ahrimanischen Linie« in okkulte Gefangenschaft versetzt. Die okkulte Gefangenschaft zielte darauf ab, Blavatsky zu einem Sprachrohr der Ziele der britischen Okkultisten zu machen, ein Versuch, der allerdings misslang, da sie von indischen Okkultisten aus dieser Gefangenschaft wieder befreit wurde.[3]

Im zweiten dieser Vorträge, am 4. April, ging Steiner auch auf den französischen Okkultismus, auf Levi und Papus ein. Gegen Ende dieses Vortrages wechselte er scheinbar zu einem anderen Thema, indem er die Polarität des westlichen und des osteuropäischen (angelsächsischen und slawisch-russischen) Geistes beschrieb.

In Wahrheit behandelte er dieselbe weltgeschichtliche Polarität, die auch im Antagonismus des westlichen und östlichen Okkultismus in Erscheinung trat, jedoch von einem anderen Gesichtspunkt aus, jenem der Völkerpsychologie und Geistesgeschichte. In diesem Zusammenhang stehen einige Ausführungen, die in der anthroposophischen (inzwischen auch nichtanthroposophischen) Diskursgemeinschaft – meist aus dem Zusammenhang gerissen und dadurch leicht missverständlich – häufig zitiert werden.

»Wir leben ja heute […] noch in verhältnismäßig idealistischen, in spirituellen Zeiten gegenüber dem, was da kommen wird,« so fängt die betreffende Passage an.[4] »Wir leben am Ende des zweiten nachchristlichen Jahrtausends. Es wird nicht lange dauern nach dem Jahre 2000, da wird die Menschheit Sonderbares […] erleben […], Dinge, die sich heute nur langsam vorbereiten.

Die Dinge gehen ja so, dass gewissermaßen die zwei Pole, die der künftigen Entwickelung entgegeneilen, von Osten und von Westen her sich vorbereiten.«

Osten: Verehrung der geistigen Individualität im Kinde

»Immer mehr und mehr wird sich in den mehr östlichen Gegenden[5] ausbilden […] eine ganz andere Art von Denken […] über die Menschen. […] Man wird versuchen, wenn ein Kind geboren wird, zu sagen: Was könnte in diesem Kinde zutage treten ? Man hat es mit einem verborgenen Geistwesen zu tun, das in diesem Kinde sich nach und nach entwickelt. Man wird das Kind enträtseln wollen. Man wird zunächst eine Art von Kultus verbinden mit dem Aufwachsen eines Kindes.

Das bereitet sich im Osten vor. Es wird selbstverständlich übergreifen nach Europa herein. Die Folge davon wird sein, dass eine ungeheure Hochachtung sich entwickeln wird vor dem, was man Genialität nennt, ein Suchen nach der Genialität. […] Dieses Zeitalter kommt von jener Seite her. Aber es wird der geringere Teil der Menschheit sein.«

Auf der anderen Seite, also der westlichen, zeichnet sich eine andere, gegensätzliche Entwicklung ab. Während der Osten die Wahrnehmungsfähigkeit für die geistige Individualität im heranwachsenden Menschen und als Folge davon eine »ungeheure Hochachtung« vor dem Geist ausbilden wird, steht dem Westen und durch ihn dem Rest der Menschheit eine verstärkte Abwendung vom Geist bevor.

Westen: Denkverbote im Zusammenhang mit der Entwicklung einer materialistischen Medizin und der Erfindung von Denkmaschinen

»Der größere Teil der Menschheit wird seinen Einfluss von Amerika, von dem Westen herüber haben, und der geht einer anderen Entwickelung entgegen. […]

Man kann sagen: Die Gegenwart hat es noch recht gut gegenüber dem, was da kommen wird, wenn die westliche Entwickelung immer mehr und mehr ihre Blüten treibt. Es wird gar nicht lange dauern, wenn man das Jahr 2000 geschrieben haben wird, da wird nicht ein direktes, aber eine Art von Verbot für alles Denken von Amerika ausgehen, ein Gesetz, welches den Zweck haben wird, alles individuelle Denken zu unterdrücken.«

Bereits in der Gegenwart (1916) zeichne sich diese Tendenz ab, insbesondere in der Medizin und Technologie:

[1.] »Auf der einen Seite ist ein Anfang dazu gegeben in dem, was heute die rein materialistische Medizin macht, wo ja auch nicht mehr die Seele wirken darf, wo nur auf Grundlage des äußeren Experiments der Mensch wie eine Maschine behandelt wird.«

[2.] »Einer der anderen Anfänge: Wir haben ja heute schon Maschinen zum Addieren, Subtrahieren: nicht wahr, das ist sehr bequem, da braucht man nicht mehr zu rechnen. Und so wird man es auch machen mit allem. Das wird nicht lange dauern, ein paar Jahrhunderte – dann ist alles fertig; dann braucht man nicht mehr zu denken, nicht mehr zu überlegen, sondern man schiebt.[6] Zum Beispiel da steht: ›330 Ballen Baumwolle Liverpool‹, so überlegt man heute sich da noch etwas, nicht wahr? Aber dann schiebt man bloß, und die Geschichte ist ausgemacht.«

[3.] »Und damit nicht gestört wird das feste Gefüge des sozialen Zusammenhangs[7] der Zukunft, werden Gesetze erlassen werden, auf denen nicht direkt stehen wird: Das Denken ist verboten, aber die die Wirkung haben werden, dass alles individuelle Denken ausgeschaltet wird.

Das ist der andere Pol, dem wir entgegenarbeiten. Dagegen ist das Leben heute immerhin nicht gar so unangenehm. Denn wenn man nicht über eine gewisse Grenze hinausgeht, so darf man ja heute noch denken, nicht wahr? Allerdings eine gewisse Grenze überschreiten darf man ja nicht, aber immerhin, innerhalb gewisser Grenzen darf man noch denken. Aber das, was ich geschildert habe, das steckt in der Entwickelung des Westens, und das wird kommen durch die Entwickelung des Westens.«

Was Mitteleuropa als Gegengewicht entwickeln muss

Nun pflegt Steiner stets, wenn er von Vereinseitigungen oder Polaritäten spricht, gemäß der goetheanistischen Denkweise (Polrarität und Steigerung) auch zu beschreiben, was sich aus der Polarisierung als positives Resultat, als ausgleichendes Drittes oder als zu vermeidende Entwicklung ergeben könnte. So auch hier. Für »Mitteleuropa« – d.h. für den mitteleuropäischen Okkultismus, also die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, ergibt sich aus den beiden charakterisierten Tendenzen eine spezifische Aufgabe, die darin besteht, für einen Ausgleich der Extreme zu sorgen. Allerdings birgt die Suche nach einem Ausgleich wiederum ihre eigenen Gefahren in sich. Auf diese geht Steiner zunächst ein. Er warnt ausdrücklich davor, der »materialistischen« Medizin eine falsch verstandene Form des Spiritualismus entgegenzusetzen und sich irgendwelchen geistigen Heilern anzuvertrauen.

»Aber, meine lieben Freunde, man darf mich ja nicht missverstehen, denn auf diesem Gebiet wird ungeheuer viel gesündigt gerade heute noch von sogenannter spiritueller Seite her. Man kann es zum Beispiel erleben, dass Leute zu einem kommen, die sagen:

Ja, ich habe nun alles mögliche durchgemacht in der Medizin, ich bin nicht geheilt worden. Da bin ich zu einem gegangen, der hat mich ganz spirituell behandelt.

Nun, was hat denn der mit Ihnen gemacht ?

Er hat mir gesagt, in meinem Leib sind böse Geister, und ich müsse diese bösen Geister zunächst herausbeten.

Ich musste sagen, weil es ja eigentlich der Grund war, warum der Betreffende zu mir gekommen ist: Und hat Ihnen das geholfen?

Nein, es ist viel schlechter geworden, viel, viel schlechter.

Nun, sagte ich, ich bitte Sie, nun denken Sie sich einmal, in welche Lage Sie da gebracht worden sind. Glauben Sie nicht, dass Ihnen der Mann etwas Unrichtiges gesagt hat. Es ist ganz richtig, dass in Ihnen irgendwelche geistige Wesen waren, die das verursacht haben, was in Ihnen ist. Aber gerade weil Ihnen der Mann etwas Richtiges gesagt hat, […] deshalb musste Ihnen der Mann so schaden.

Denn denken Sie sich einmal: Ein nichtsnutziger Schusterbub richtet eine Maschine zu Grunde. Dieser Schusterbub ist die wirkliche Ursache, dass die Maschine nicht geht. Das ist die reale Ursache. Na, wie werde ich die Maschine wiederum zum Gehen bringen? Nach der Methode Ihres spirituellen Arztes müsste ich nun den Schusterbuben nehmen, ordentlich durchhauen und dann meinen, wenn der jetzt davonläuft, so wird die Sache in Ordnung sein. Selbstverständlich: denn er hat Ihnen ja gesagt, sobald die bösen Geister weg sind, ist Ihre Maschine in Ordnung.

Aber gerade so wenig, wie die Maschine dadurch in Ordnung ist, dass der Bub davonläuft, sondern wie die jetzt kuriert werden muss mit ganz anderen Mitteln, die mit dem Maschinellen zusammenhängen, so ist es auch bei Ihnen. Ob Sie die Geister wegbringen […[ ist […] für Ihr Gesundwerden von […] geringer Bedeutung […] – ich würde […] die Maschine wieder in Ordnung bringen.«

Nicht die Tatsache, dass »irgendwelche geistige Wesen« bestimmte Zustände im Leidenden verursachten, wird von Steiner bestritten, sondern die Annahme, die körperlichen Ursachen seines Leidens könnten auf rein geistigem Weg (durch »Beten«) behandelt werden. Dies ist eine Denkfigur, die er häufig auch in der Streitfrage anwendet, ob Krankheiten durch Viren oder Bakterien verursacht würden. Hier weist er in der Regel darauf hin, dass Viren oder Bakterien erst ein Milieu bereitet werden müsse, in dem sie sich ausbreiten könnten, bevor sie ihre Wirkung im Organismus entfalten könnten. Die Frage sei also auch, was getan werden könne, um dieses Milieu gar nicht erst entstehen zu lassen. Haben sie sich aber erst einmal im Organismus festgesetzt, müssen auch die Mittel der Wahl verwendet werden, um sie direkt zu bekämpfen.

Steiner fährt fort:

»Also es wird schon von der andern Seite sehr viel gesündigt, denn sehr gut denken kann man heute nicht. Man sagt immer nur autaut: entweder – oder, aber darum handelt es sich nicht, sondern darum, dass man die Dinge wirklich einsieht. Man muss eben wissen, dass in allem Materiellen Geistiges ist und dass durch die Erkenntnis des Geistes auch nur allein das Materielle geheilt werden kann.

Aber das soll ausgeschaltet werden, das Geistige, von der ganzen Welt. Das ist einer der Anfänge.«

Die Aufgabe der geisteswissenschaftlichen Bewegung

In dieser Gemengelage wächst nun der geisteswissenschaftlichen »Bewegung« Mitteleuropas eine besondere Aufgabe zu: die Aufgabe, sich aktiv in diese Entwicklung hineinzustellen, sie nicht etwa zu leugnen oder vor ihr zu flüchten, sondern ihr etwas entgegenzustellen, was Steiner in einem früheren Vortrag[8] näher charakterisierte. Zunächst aber die Ausführungen, die unmittelbar an die gerade zitierten Thesen im Vortrag vom 4. April 1916 anschließen:

»In diese ganze Entwickelung muss sich auch die geisteswissenschaftliche [Bewegung] [9] hineinstellen. Das muss sie klar und objektiv durchschauen. Sie muss sich klar sein, dass das, was heute wie ein Paradoxon erscheint, geschehen wird.

Ungefähr im Jahre 2200 und einigen Jahren wird eine Unterdrückung des Denkens in größtem Maßstabe auf der Welt losgehen, in weitestem Umfange.

Und in diese Perspektive hinein muss gearbeitet werden durch Geisteswissenschaft. Es muss soviel gefunden werden – und es wird gefunden werden –, dass ein entsprechendes Gegengewicht gegen diese Tendenzen da sein kann in der Weltenentwickelung.«

Die zu erwartende Entwicklung kann nicht verhindert oder direkt bekämpft werden, sondern es geht darum, ein Gegengewicht zu ihr zu schaffen. Und dieses Gegengewicht ergibt sich aus den »geisteswissenschaftlichen Wahrheiten«, der spirituellen Erkenntnis. Eine zentrale Erkenntnis dieser Geisteswissenschaft bezieht sich, wie Steiner bereits am 7. März 1916, ausführte auf das Verhältnis des einzelnen Menschen zu Christus, dessen Wiedererscheinen in ätherischer Gestalt bevorsteht:

»Ins Fühlen, ins Gemüt müssen befruchtend hineinwirken die geisteswissenschaftlichen Wahrheiten. Und es muss in unserer Zeit eine Anzahl von Menschen geben, welche aus innerlicher Überzeugung treu halten können zu dem, was als Notwendigkeit für die Weltenentwickelung aus der Geisteswissenschaft folgt. Darin wird das werden, was werden soll, dann wird der Christus, wenn er in einer neuen Form sich offenbaren will, diejenigen finden, welche er braucht. Und das muss sein. Wenn er erscheint in seiner ätherischen Gestalt dem oder jenem, dann muss nicht eine Zeit sein, in der dieses Erscheinen des Christus als ein Wahnsinn aufgefasst wird, sondern aufgefasst wird als dasjenige, was berufen ist, der Menschheit einen Ruck zu geben nach vorwärts, einen Ruck, der vor allen Dingen darinnen besteht, das Materialistische mit seinen Folgen in gründlicher Weise zu überwinden. Und dieses Jahrhundert wird nicht vergehen dürfen, ohne dass die menschlichen Anschauungen eine ganz andere Gestalt annehmen[10]

Christus und die menschliche Freiheit

Warum ist diese individuelle Begegnung mit dem ätherischen Christus so wichtig für die Zukunft der Menschheit? Darüber geben einige Sätze aus dem Jahr 1909 Auskunft:

»Christus ist ein Gott, welcher nicht so wirkt, dass seine Impulse unbedingt befolgt werden müssen, sondern nur, wenn man sie einsieht, nur in Freiheit. Er ist daher der Gott, der niemals diese individuelle, freie Entwickelung des Ich nach dieser oder jener Richtung hemmen kann. Der Christus konnte sagen im allerhöchsten Sinne: ›Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen‹. […]

Eine völlig neue Mission hat der Mensch in der Welt zu erfüllen, eine Mission, die wir eben jetzt charakterisiert haben. Und zu dieser Mission ist er [der Mensch] heruntergestiegen in die irdische Welt. Und als ein freier Helfer ist ihm der Christus in der Welt erstanden, nicht als ein Gott, der von oben wirkt, sondern als ein Erstgeborener unter vielen.

So verstehen wir erst die ganze Würde und Bedeutung des Menschen innerhalb der Glieder unserer Hierarchien, und wir sagen uns, wenn wir zu der Herrlichkeit und zu der Größe der höheren Hierarchien hinaufschauen: Sind sie auch so groß, so weise, so gut, dass sie niemals von dem rechten Pfade abirren können, so ist doch die große Mission des Menschen, dass er die Freiheit in die Welt bringen soll und mit der Freiheit erst dasjenige, was man im wahren Sinne des Wortes Liebe nennt. Denn ohne die Freiheit ist Liebe unmöglich. Ein Wesen, welches unbedingt einem Impuls folgen muss, folgt ihm eben; ein Wesen, das auch anders handeln kann, für dieses gibt es nur eine Kraft, um zu folgen: die Liebe. Freiheit und Liebe sind zwei Pole, die zusammengehören.«[11]

Christus ist der Garant der menschlichen Freiheit und damit der Liebe zwischen Menschen. Ohne ihn gäbe es weder das eine, noch das andere. Damit ist auch die soziale – oder wenn man will – die politische Dimension der Freiheit aus geisteswissenschaftlicher Sicht ausreichend beleuchtet. Eine dem Wesen des Christus und der eigentlichen »Mission« des Menschen auf der Erde gemäße Gesellschaft kann nur eine Gesellschaft der Freiheit – der individuellen und aus ihr abgeleiteter politischer Freiheiten sein. Diese individuelle Freiheit ist das A und O der menschlichen Existenz auf Erden. Gäbe es sie nicht, hätte das Dasein des Menschen keinen Sinn, ihre Abwesenheit ließe auch nicht zu, von einer Würde des Menschen zu sprechen. Denn mit ihr ist die Liebe verknüpft und Liebe entspringt der Freiheit. Wo diese nicht waltet, mag es Macht, Abhängigkeit, Zwang und Furcht geben, aber keine Liebe. Diese Liebe ist zugleich eine Frucht und eine Ergänzung der Freiheit. So wie die erstere auf einem Akt der Emanzipation, der Gegenüberstellung, der Individualisierung beruht, bindet die letztere die Menschen wieder aneinander und ermöglicht die Geste der Demut, die die Grundlage einer Gesellschaft bilden muss, die nicht nur die Freiheit, sondern auch die Würde des Menschen achtet. Wie soll es einen würdevollen Umgang zwischen Menschen geben, wenn wir nicht bereit sind, uns vor dem anderen zu verbeugen und ihm für seine Leistungen Anerkennung und Dankbarkeit entgegenzubringen?

Sind die von Steiner angedeuteten Entwicklungen, die sich auf die Unterdrückung des Denkens beziehen, Hirngespinste? Oder lassen sie sich in der Gegenwart wiederfinden? Diese Frage wird der folgende Beitrag untersuchen.

Fortsetzung: Gefährdete Freiheit an Universitäten und Hochschulen


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Anmerkungen:


  1. Gegenwärtiges und Vergangenes im Menschengeiste, Berlin, 28. März und 4. April 1916, GA 167, Dornach 1962.
  2. Wörtlich: »Das Angelsachsentum muss geistig regieren den fünften nachatlantischen Zeitraum.« GA 167, S. 66.
  3. Steiner spielt hier auf weitläufige historische Vorgänge an, die hier nicht weiter ausgeführt werden können. Gründlich aufgearbeitet wurde dieses Thema von Manfred Osterrieder in seinem Monumentalwerk: Welt im Umbruch. Nationalitätenfrage, Ordnungspläne und Rudolf Steiners Haltung im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 2014.
  4. GA 167, 4. April 1916, S. 97 f., auch die folgenden Zitate, soweit nicht anders vermerkt, aus diesem Vortrag. Die Ausführungen wurden gekürzt, der Übersichtlichkeit halber etwas umgruppiert und mit Zwischenüberschriften versehen. Auch die Kursivsetzungen stammen von mir.
  5. Die Rede ist vom slawischen, insbesondere russischen Kulturraum.
  6. »Sondern man schiebt«: heute durch berührungsempfindliche Bildschirme realisiert.
  7. Damit dürfte eine wirtschaftsimperialistische Weltordnung unter der Vorherrschaft angelsächsisch-amerikanischer Oligopole gemeint sein.
  8. 7. März 1916, ebenfalls GA 167.
  9. Im Vortragstext steht hier »Entwicklung«. Das Wort habe ich durch »Bewegung« ersetzt, da ich das doppelte »Entwicklung« für einen Versprecher bzw. eine Verschreibung des Stenographen halte.
  10. GA 167, 7. März 1916, S. 55.
  11. Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt. Tierkreis, Planeten, Kosmos, GA 110, Düsseldorf 18. April 1909, abends, Dornach 1991, S. 172 f.

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