Zuletzt aktualisiert am 13. Mai 2011.
Im Oktober 1879 begann Rudolf Steiner mit seinem Studium an der Technischen Hochschule in Wien. Er wohnte damals in Inzersdorf und fuhr täglich mit dem Zug zum Südbahnhof. An der Hochschule vertiefte er sich in die unterschiedlichsten Wissensgebiete, von der Mineralogie und Botanik über Staatsrecht und Mathematik bis zu Germanistik und Philosophie. Eines Tages, vermutlich im Frühsommer 1880, setzte sich ein ärmlicher, etwas verwahrloster Mann mit einem zerschlissenen Rucksack und Bündeln voller Kräuter zu ihm. Der neugierige Student kam mit dem Kräutersammler ins Gespräch und gewann bald den Eindruck, in seinem Gegenüber lebe eine Weisheit, die man an der Universität vergeblich suchte.
»Wenn er von der wunderbaren Wesenhaftigkeit seiner Heilkräuter sprach, so merkte man, wie dieses Mannes Seele zusammenhing mit alledem, was den Geist der Natur ausmachte …«, äußerte sich Steiner rückblickend. Der Kräutersammler – Felix Koguzki hieß er – war einer der wenigen Menschen, mit denen sich Steiner damals über seine geistigen Erlebnisse ungeschützt unterhalten konnte. Koguzki besaß kaum Schulbildung, dafür um so mehr Erfahrung im Umgang mit den Geistern der Natur. Der Austausch muss von großer Bedeutung für den jungen Steiner gewesen sein, denn er setzte in seinen »Mysteriendramen« – in Gestalt Felix Baldes – dem Naturmystiker ein künstlerisches Denkmal.
Diese Begegnung erinnert an das Zusammentreffen eines Ethnologen mit einem Eingeborenen. Der Kräutersammler sprach eine andere Sprache, aus ihm sprach eine unmittelbare Erfahrung. Steiner hingegen begann gerade in die Rituale und Diskursformen der damaligen akademischen Welt, in die Welt formalisierter Erfahrung und abstrakten Wissens, hineinzuwachsen, aus der viele ethnologische Feldforscher damals auszubrechen versuchten. Aber es gab doch einen bedeutsamen Unterschied. Während die meisten Ethnologen nur der einen Welt, der des formalisierten Wissens, angehörten, und versuchten, sich durch teilnehmende Beobachtung der anderen anzunähern, bewegte Steiner sich in beiden Welten. Er hatte durch seine eigenen spirituellen Naturerfahrungen mit dem Eingeborenen mehr gemeinsam, als jeder durchschnittliche Akademiker. Steiner wanderte nicht nur mit dem Gehstock des formalisierten Wissens an der Seite des Schamanen, sondern trug auch die dramatische Lebensweise des Schamanen in die Akademie.
Davon zeugt ein Brief des Neunzehnjährigen an seinen Studienkollegen Josef Koeck. Bis spät in die Nacht hatte sich Steiner mit einem philosophischen Problem beschäftigt und warf sich endlich auf sein Lager. Aber schlafen konnte er nicht. So setzte er sich hin und schrieb: »Mein Bestreben war voriges Jahr, zu erforschen, ob es denn wahr wäre, was Schelling sagt: ›Uns allen wohnt ein geheimes Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen.‹ Ich glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz klar in mir entdeckt zu haben – geahnt hab ich es ja schon längst –; … was ist eine schlaflose Nacht gegen einen solchen Fund!«
Steiner spricht in seinem Brief von einer inneren Erfahrung, die ihn »ungeheuer bewegt«. Es lohnt sich, den ganzen Brief zu lesen, in dem er erzählt, er sei am folgenden Tag so neben sich selbst gestanden, dass er sich im Zug aus Versehen auf die Uhr einer Mitreisenden setzte und diese zertrümmerte – eine Anekdote mit symbolischem Hintersinn, hatte er doch gerade entdeckt, dass er das ewige Selbst anzuschauen vermochte, indem er sich aus dem Wechsel der Zeit erhob … Schelling fährt nach den zitierten Sätzen fort: »Diese Anschauung ist die innerste, eigenste Erfahrung, von welcher allein alles abhängt, was wir von der übersinnlichen Welt wissen und glauben. Diese Anschauung zuerst überzeugt uns, dass irgend etwas im eigentlichen Sinne ist, während alles übrige nur erscheint … Sie unterscheidet sich von jeder sinnlichen Anschauung dadurch, dass sie nur durch Freiheit hervorgebracht und jedem andern fremd und unbekannt ist, dessen Freiheit, von der eindringenden Macht der Objekte überwältigt, kaum zur Hervorbringung des Bewußtseins hinreicht.«
Wenn Steiner später, nach der Jahrhundertwende, vom »Übersinnlichen« redet, dann in diesem Sinne: alles Übersinnliche ist eine freie Hervorbringung des menschlichen Geistes und dennoch kein bloß subjektives Erzeugnis, denn das Selbst hat sich ja von allem, was von außen dazukam, längst entkleidet und aus dem Wechsel der Zeit zurückgezogen, es hat die Form der Subjektivität abgelegt.
Schelling beschließt seine Abhandlung mit folgenden Sätzen: »Nimmer wird künftighin der Weise zu Mysterien seine Zuflucht nehmen, um seine Grundsätze vor profanen Augen zu verbergen. Es ist ein Verbrechen an der Menschheit, Grundsätze zu verbergen, die allgemein mitteilbar sind. Aber die Natur selbst hat dieser Mitteilbarkeit Grenzen gesetzt; sie hat – für die Würdigen eine Philosophie aufbewahrt, die durch sich selbst zur esoterischen wird, weil sie nicht gelernt, nicht nachgebetet, nicht nachgeheuchelt … werden kann – ein Symbol für den Bund freier Geister, an dem sie sich alle erkennen, das sie nicht zu verbergen brauchen, und das doch, nur ihnen verständlich, für die andern ein ewiges Rätsel sein wird.«
Literatur: F. W. J. Schelling: Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, in Ausgewählte Werke, Schriften von 1794–1798, Darmstadt 1980 | Rudolf Steiner: Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen, GA 192, Vortrag vom 22.6.1919, Dornach 1991 | Ders.: Briefe Band I, 1888–1890, Dornach 1985