Zuletzt aktualisiert am 10. März 2020.
Der Mainzer Pädagogikprofessor Heiner Ullrich bemüht sich, wie er in der Einleitung seines Buches schreibt, »mit größtmöglicher Fairness«, »aus einer kritischen, aber nicht polemischen Außenperspektive« in Leben und Lehre Rudolf Steiners einzuführen. So sehr diese Fairness zu begrüßen ist, erhebt sich für den unvorbereiteten Leser doch die Frage, woher das Bedürfnis rührt, kritische Distanz, Außenperspektive und Fairness zugleich zu betonen. Würde Ullrich solche Sätze auch schreiben, wenn er in Leben und Lehre Sigmund Freuds oder C. G. Jungs einführte?
Wie dem auch sei – um sein »intellektuelles Porträt« Steiners zu zeichnen, orientiert sich Ullrich an dessen Autobiographie, die er nach wie vor (trotz Helmut Zanders Monumentalwerk) als die »wichtigste Quelle« betrachtet. Steiner erscheint in seiner Schilderung als intellektuell und sozial unbehauster Fremdling, der – aus »bildungsfernen Verhältnissen« stammend – einen steinigen Weg zurücklegen mußte, bis er in einem »vordarwinistischen, idealistischen All-Einheitsdenken« seine vorläufige geistige Heimat fand. (Miriam Gebhardt hält diese »Bildungsferne« übrigens für einen Mythos, siehe: »Rudolf Steiner. Ein moderner Prophet«, S. 37).
Als wesentlichen Baustein der geistigen Identität Steiners identifiziert Ullrich einen »empirischen Idealismus«, dessen Quellen in Goethe und durch Goethe hindurch im Neuplatonismus zu suchen seien. In seiner Würdigung des jugendlichen Goetheforschers taucht das erste Mal jenes kritische Motiv auf, das Ullrich später weiter ausbauen wird: während nämlich Goethe sich der »von Kant gesetzten Grenzen« des menschlichen Erkennens bewußt gewesen sei, habe Steiner diese Grenzen stets überschreiten wollen. Kein Erfolg war laut Ullrich Steiners Versuch beschieden, sich durch seine philosophische Dissertation in einer akademischen Laufbahn zu etablieren und so blieb ihm nur das wenig erfüllende Dasein als Hauslehrer. Erst nach »jahrelangem intellektuellem Herumirren« habe Steiner schließlich in der Theosophie seine »definitive geistige Heimat« gefunden. Doch bevor es dazu kam, habe er erst eine Phase des »individualistischen Anarchismus« in Anlehnung an Nietzsche und Stirner durchlaufen. Ullrich spricht in einer Zwischenüberschrift von Steiners »Bekehrung zur Theosophie«, ohne diese Bekehrung näher zu erläutern. Warum Steiner um 1900 begann, die Mystik als »religiös-spirituelle Erfahrung« darzustellen, die mit dem Erkenntnisanspruch der neueren Naturwissenschaft vereinbar sei, bleibt unerklärt. Zwar spricht Ullrich davon, Steiner habe sich »systematisch« in das »kanonisierte Lehrgebäude der Theosophie« einzuarbeiten begonnen, das in Blavatskys »Geheimlehre« und den Schriften Besants vorgelegen sei. Aber angesichts der vom Biographen selbst zugestandenen empirischen Komponenten seines mystischen Idealismus, hatte Steiner eine Konversion gar nicht nötig, da der intuitiv-schauende Zugang zur »natura naturans« seiner Begegnung mit der Blavatsky-Theosophie historisch vorauslief. Jedenfalls habe Steiner seit dieser Begegnung den »riskanten« Versuch, die Aussagen der theosophischen Geheimlehre und seine eigenen Schauungen als Resultate eines wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses zu erweisen, zu seinem Lebensprojekt erhoben. Doch Steiner systematisierte nach Ullrich die Theosophie nicht nur, er nahm auch »wichtige inhaltliche Erweiterungen« vor, besonders in bezug auf die Deutung des Christentums. Über die irrtümliche Behauptung des Biographen, Steiner habe sich gegen Annie Besant um das Amt des Präsidenten der Theosophischen Gesellschaft beworben, sei aber »durchgefallen«, darf man hinwegsehen. Was Steiners »Theosophie« von derjenigen Blavatskys und Besants unterschied, war laut Ullrich auch ihr Bezug auf das ästhetische und später soziale Leben. Ausführlich würdigt er die Mysteriendramen und die Eurythmie, von der er allerdings meint, sie lehne sich »nicht ungeregelt und kreativ« gegen die Konventionen des klassischen Tanzes auf, sondern »unterwerfe sich im Dienst an der übersinnlichen Welt« einer »strikt ritualisierten Formensprache«. Auch den ersten Goetheanumbau würdigt Ullrich als »alternativ-religiösen Tempel«. Als »charismatischer Gründer« der »allein auf ihn« zugeschnittenen Anthroposophischen Gesellschaft habe Steiner im letzten Jahrzehnt seines Lebens eine »stupende Reise- und Vortragstätigkeit« entfaltet. Die sozialen Erneuerungsprojekte geraten in den Blick des Biographen: die Dreigliederung des sozialen Organismus, an deren Konzeption des freien Geisteslebens er bemängelt, sie stünde mit ihrem »platonisch-geistesaristokratischen« Ansatz in einer Spannung zum demokratischen Parlamentarismus: ein inzwischen schon klassisch zu nennendes Mißverständnis der Selbstverwaltung und der Befreiung der Wissenschaften, Künste und Religionen von der Bevormundung durch den Staat. Auch der Waldorfpädagogik, der geistigen Heilkunst, der Christengemeinschaft, der biologisch-dynamischen Landwirtschaft und der Heilpädagogik sind jeweils eigene Kapitel gewidmet. Mit Steiners »Erschöpfung und Tod« schließt die Skizze eines Lebens, das Ullrich als »produktiven Entwicklungsprozess« verstehen möchte, der ebenso durch »Krisen und Metamorphosen« gekennzeichnet sei, wie durch »Polaritäten und Steigerungen«. Nun folgen die beiden Hauptkapitel »Die Lehre« und »Rezeption und Kritik«, die ein gutes Drittel des Buches einnehmen, das mit einer abschließenden, in die Tiefe gehenden Abhandlung über die Waldorfpädagogik – Steiners »größten Erfolg« – schließt.
Nun kann diese Rezension nicht der Ort einer detaillierteren Auseinandersetzung mit der Kritik sein, die Ullrich an Steiners voraussetzungsloser Erkenntnistheorie, seinem angeblichen »Rückgriff« auf den Neuplatonismus und die Gnosis, an seinem Wissenschaftsverständnis, seinem Freiheitsbegriff und an einigen grundlegenden Elementen der Waldorfpädagogik, wie etwa der Lehre von den Temperamenten, übt. Stattdessen seien einige grundsätzliche Überlegungen erlaubt. Die folgenden Bemerkungen sollen keineswegs die Verdienste Ullrichs schmälern, dem insbesondere in seinen systematischen Referaten des anthroposophischen Menschenbildes einige originelle, lesenswerte philosophische Reformulierungen gelingen. Aber es gibt doch ein grundsätzliches Problem in der Perspektive des ganzen Buches, das zugleich ein individuelles ist.
Heiner Ullrich steht als Pädagogikprofessor einer staatlichen Universität, der über Waldorfpädagogik und Anthroposophie schreibt, im Zentrum der Bruchlinien unserer sich transformierenden Gesellschaft und bleibt von ihren gegenwärtigen Erschütterungen nicht unberührt. Als habilitierter Sachwalter sanktionierter Rationalität schreibt er nicht nur als Wissenschaftler über einen wissenschaftlichen Gegenstand, sondern auch als Träger eines bestimmten, ritualisierten akademischen Selbstverständnisses über alternative Wissens- und Lebensformen. Und so tauchen die Leser seines Buches in eine Gespensterdebatte ein: sie haben es nicht nur mit dem Pädagogikprofessor Ullrich zu tun, sondern auch mit unterschiedlichen geistigen Mächten der Gegenwart, die um das Verständnis von Wissenschaft, Rationalität und Wirklichkeit ringen. Seine Urteile, so »fair« sie auch gemeint sind, betreffen nie nur den historischen Gegenstand, mit dem er sich befaßt, sondern sind stets auch auf die gegenwärtigen Debatten bezogen, in denen an unterschiedlichen Paradigmen ausgerichtete Weltanschauungen miteinander ringen.
Daher bilden auch die Kapitel über »Lehre« und »Rezeption und Kritik« den eigentlichen Kern seines Buches, die Kapitel über Steiners Leben und die Waldorfpädagogik sind mehr oder weniger Beiwerk. Und dieser Kern hat es in sich. Er liest sich wie ein Gutachten über den Wissenschaftsanspruch der Anthroposophie, das zu einem vernichtenden Urteil gelangt: »Zwischen der ›essentialen‹ Wissenschaft Steiners und der Forschungspraxis sowie dem theoretischen Selbstverständnis der modernen Wissenschaften besteht eine unüberbrückbare Kluft.« (S. 109) Dieses Urteil gilt nicht nur für Steiner, sondern auch für seine »Schülerschaft«: »Sie begibt sich in die bildhaft-analogisierenden Denkweisen des Mythos zurück und tradiert so von der modernen Wissenschaft längst verabschiedetes antiquiertes Wissen.« (S. 183) Auf den zwanzig Seiten des Kapitels »Kritik und Rezeption« wird dieses Urteil wie ein Mantra in leichter Abwandlung ständig wiederholt.
Ullrich gelangt zu diesem vernichtenden Urteil, weil er selbst sich auf einen bestimmten weltanschaulichen Standpunkt stellt, der mit jenem einer »essentialen« Wissenschaft unvereinbar ist. Und dieser Standpunkt wird von ihm verabsolutiert. Sein spezielles Verständnis von Wissenschaft wird im Handumdrehen zum normativen Begriff. Möglich ist dies nur, weil die Zugehörigkeit zum Establishment der Wissenschaft Ullrich die scheinbare Autorität verleiht, solche Urteile über die »Wissenschaftlichkeit« von Wissensformen zu fällen, die anders geartet sind, als die von ihm vertretene.
Es hat keinen großen Sinn, sich mit Ullrich über diese Urteile zu streiten, zumal er sie schon seit den 1980er Jahren unverändert propagiert und sich als kritikresistent erwiesen hat. Sinnvoller ist es, die von ihm in Anspruch genommene Autorität in Frage zu stellen, die nicht einmal die seinige ist, sondern die eines Denkkollektivs. Und dies braucht man nicht selbst zu tun, das tun zeitgenössische Wissenschaftstheoretiker.
»Seit langem schon«, meint Peter Galison, der in Harvard Geschichte der Wissenschaften und der Physik lehrt, »hat man es in der Wissenschaftsphilosophie aufgegeben, unumgängliche und ausreichende Kriterien zu finden, die Wissenschaft eindeutig definieren. Man muss akzeptieren, dass keine Theorie – sei es die konfirmationistische Theorie eines Rudolf Carnap, der Poppersche Falsifikationismus oder die Reichenbachsche Wahrscheinlichkeitstheorie – es schaffen wird, alles Wissenschaftliche auszulesen und Nichtwissenschaft oder Metaphysik übrig zu lassen. Es gibt keine Möglichkeit, Pseudowissenschaft eindeutig abzugrenzen.« (Dirk Rupnow et al, Pseudowissenschaft, Frankfurt 2008, S. 436)
Wer also eine bestimmte Form der Erkenntnispraxis als »Pseudowissenschaft« oder »Nichtwissenschaft« oder »Vorwissenschaft« tituliert, steht nicht auf der Höhe der wissenschaftsphilosophischen Reflexion. Er bedient sich eines »Kampfbegriffs«, der eine nichtexistente Norm der Wissenschaftlichkeit voraussetzt. Er tut dies, um polemische oder politische Absichten zu verschleiern. Mitchell G. Ash, Wissenschaftshistoriker an der Universität Wien, läßt daran keinen Zweifel: » ›Pseudowissenschaft‹ ist ein Kampfbegriff, dessen Verwendung eine lange Geschichte hat, dessen Gehalt sich jedoch kaum eindeutig fixieren läßt. Er dient der Ein- und Ausgrenzung und kann daher … als mehr oder weniger zuverlässiger Indikator dessen dienen, was in gegebenen zeitlichen und fachlichen Kontexten als Wissenschaft gelten sollte und was nicht. Damit dient er auch als Ressource im Kampf um die Festlegung der jeweils geltenden Grenzen der Mitgliedschaft in der Wissenschaftlergemeinschaft sowie um die öffentliche Positionierung der Wissenschaftlergemeinschaft als Denkkollektiv.« (Ebenda, S. 451)
Die Verwendung der Prädikate »pseudowissenschaftlich« oder »unwissenschaftlich« gibt also lediglich Aufschluß darüber, wie der jeweilige Akteur, der diese Begriffe verwendet, sich selbst und andere im Wissenschaftsdiskurs seiner Zeit und seines jeweiligen Denkkollektivs verortet. Es sagt aber nichts über die Validität des Gegenstandes oder der Methoden aus, denen diese Prädikate zugeschrieben werden. Gemessen an dieser Einsicht, erscheint die Verwendung der Prädikate »wissenschaftlich« und »unwissenschaftlich« im politischen oder medialen Diskurs als inhaltsleeres, tautologisches Ritual. Jeder Fernsehzuschauer kennt die aufklärerischen Formate, in denen »wissenschaftliche Experten« zu Wort kommen, die sich zu diesem oder jenem Gegenstand und seiner »Wissenschaftlichkeit« äußern. Sowohl der Journalismus, der sich dieser »Experten« bedient, als auch diese selbst, erfüllen eine bestimmte soziale oder politische Funktion. Sie zielen darauf ab, unorthodoxe Denkweisen zu häretisieren. Sie sind Akteure im kulturpolitischen Machtkampf, im Streit der Paradigmen und Ideologien.
Die Konsequenz aus der Unmöglichkeit, einen allgemein verbindlichen Begriff der Wissenschaft zu formulieren, hat Paul Feyerabend bereits 1976 gezogen: »Es gibt keinen klar formulierbaren Unterschied zwischen Mythen und wissenschaftlichen Theorien. Die Wissenschaft ist eine der vielen Lebensformen, die die Menschen entwickelt haben, und nicht unbedingt die beste. Sie ist laut, frech, teuer und fällt auf. Grundsätzlich überlegen ist sie aber nur in den Augen derer, die bereits eine gewisse Position bezogen haben oder die die Wissenschaft akzeptieren, ohne jemals ihre Vorzüge und ihre Schwächen geprüft zu haben.« (Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, Frankfurt 1976, S. 385) Solche Sätze sind heute nicht weniger gültig, als vor dreißig Jahren.
Hören wir noch einmal Ash: »Konkret bedeutet dies …, dass es keine allgemeingültige, überzeitlich geltende Antwort auf die Frage gibt und auch keine geben kann, wie Wissenschaft von Nicht- oder eben Pseudowissenschaft unterscheidbar sein soll. Denn es gibt … keine überzeitlichen Kriterien zur Festlegung dessen, was Pseudowissenschaft heißt und auch keine Möglichkeit, dies ohne Berücksichtigung der intellektuellen und sozialen Ein- und Ausschlußkriterien der wissenschaftlichen Denk- und Handlungskollektive der jeweiligen Zeit zu tun. Diese Ein- und Ausschlußkriterien sind bestenfalls – wenn überhaupt – mittels empirischer Untersuchungen festlegbar.« Wenn daher Ullrich in seinem Buch schreibt: »Eine der Grundvoraussetzungen der modernen Wissenschaften ist die Vergleichgültigung der Wesensfrage … Im Gegensatz zur bewußten Selbstbegrenzung, zur Pluralität und prinzipiellen Unabschließbarkeit moderner wissenschaftlicher Forschung wollen Rudolf Steiner und seine Schüler weiterhin die Welt als ein wohlgeordnetes Ganzes gleich einer ewig unwandelbaren Wahrheit erkennen« (S. 110), dann ist eine solche Äußerung – abgesehen von der selbstwidersprüchlichen, »essentialen Wesensbestimmung« von Wissenschaft, die in ihr enthalten ist –, nicht mehr als ein empirisches Beispiel für ein soziales Ausgrenzungsritual, das von einem Angehörigen eines bestimmten Denkkollektivs vollzogen wird.
Eine pluralistische Gesellschaft benötigt keinen erkenntnistheoretischen Gesetzgeber und auch keine Diskurspolizei, die darüber wacht, welche Inhalte zum Diskurs zugelassen werden dürfen und welche nicht. Sie entscheidet selbst über das, was ihr frommt. Und sie erkennt das Wahre an seinen Früchten, nicht an seiner Übereinstimmung mit historisch bedingten Kriterien, die zu überzeitlich gültigen Gesetzen hypostasiert werden.
Heiner Ullrich: Rudolf Steiner: Leben und Lehre. 266 S., C.H. Beck München 2011.