Rudolf oder die Liebe zur Geometrie

Zuletzt aktualisiert am 13. Mai 2011.

Es muss noch in seiner Zeit in Neudörfl gewesen sein, als Rudolf Steiner um das neunte Lebensjahr herum seine Liebe zur Geometrie entdeckte. Wie wir aus den Erzählungen über seine Kindheit wissen, ließen es weder die freigeistige Atmosphäre seines Elternhauses, noch sein religiöses Umfeld zu, dass er etwas von seinen Erlebnissen mit der anderen Welt verlauten ließ. Sie begegnete ihm sowohl in der Natur als auch in Gestalt von Verstorbenen, die ihn aufsuchten. Der junge Steiner konnte bei wachem Bewusstsein Verstorbene sehen und mit ihnen kommunizieren. Die erfolgreiche amerikanische Fernsehserie »Ghostwisperer«, die Millionen von Zuschauern verfolgen, berichtet aus dem Leben einer Frau, die mit den Geistern Verstorbener spricht. Steiner hatte ähnliche Probleme wie die Hauptfigur in dieser Serie. Er musste seine Erlebnisse für sich behalten, um nicht für verrückt erklärt zu werden. Dieses Verbergen einer inneren Welt ist bis zu seinem 38. Lebensjahr ein bestimmendes Motiv in seinem Leben. Der Zeitgeist und die herrschenden Auffassungen ließen es nicht zu, dass er von jener anderen Welt berichtete, die für ihn so selbstverständlich war, wie für seine Mitmenschen der Berufsalltag.

Deshalb suchte Steiner schon als Jugendlicher nach argumentativen Rechtfertigungen für seine Erlebnisse. Eine solche fand er in der Geometrie. Die Geometrie ist ein geistiges Erlebnis des Menschen, das er selbst erzeugt und das dennoch auf einer Gesetzmäßigkeit beruht, die unabhängig von ihrem Hervorbringer ist. Diese Gesetzmäßigkeit erlaubt es im Prinzip allen Menschen, dieselben geometrischen Figuren und Gesetze zu denken und ihre Wahrheit anzuerkennen. In der Geometrie fand Steiner ein Gebiet, das die Möglichkeit bewies, in »subjektiven« Erfahrungen objektive und reale geistige Inhalte zu erleben. Dass diese Inhalte real und objektiv sind, bezeugen sie täglich in ihrer Anwendung im Ingenieurswesen, in der Architektur und auf anderen Lebensgebieten. Das machte ihm die Geometrie sympathisch, denn sie ließ es denkmöglich erscheinen, dass jemand in seinem Subjekt eingeschlossene, nur für ihn erfahrbare geistige Erlebnisse hat, und dass diese dennoch objektiv und real sind. Seine eigenen geistigen Erfahrungen mussten also nicht notgedrungen »bloß subjektive« Erlebnisse sein. Eine ähnliche Erfahrung veranlasste später Werner Heisenberg, die Elementarteilchen mit den Ideen Platos zu vergleichen. Aber die Geometrie bewies noch etwas anderes. Wenn ihre Formen und Gesetze objektive geistige Inhalte sind, die man in der sichtbaren Natur nicht findet, dann muss das Subjekt, das sie erfasst, selbst ein geistiges Wesen sein, das unabhängig von der äußeren Natur ist.

Dennoch dauerte es noch gut 15 Jahre, bis Steiner von seinen Erlebnissen zu sprechen anfing. Zuvor arbeitete er sich in die philosophische Literatur seiner Zeit hinein. Er wollte die Paradigmen kennenlernen, von denen sie beherrscht war, um herauszufinden, wo ihre Schwächen und Stärken lagen. Ein Philosoph begegnete ihm immer wieder, auf ihn schien alles zurückzuführen: Immanuel Kant. Manchmal riss er Seiten aus der »Kritik der reinen Vernunft« und legte sie in ein Geschichtsbuch. Wenn dann der langweilige Lehrer seine Geschichtserzählungen herunterbetete, versank Steiner in die verschraubten Bandwurmsätze des Königsberger Philosophen und versuchte, einen Sinn darin zu erkennen. Was er heraus las, war die Überzeugung Kants, der Mensch könne vom Schicksal der Verstorbenen nichts wissen und auch nichts von der Exstenz einer Seele, weil sein Erkennen an die Sinne und das Gehirn gebunden sei, und solche Fragen unter keinen Umständen beantwortbar seien.

Man kann sich vorstellen, wie komisch diese Ansicht einem hellsehenden Menschen erscheinen musste. Wie sollte das nicht erkennbar sein, was er erfuhr? Die Überzeugung Kants teilten aber die meisten Zeitgenossen. Selbst die Vertreter der Kirche waren mehr mit den »Beigaben des Zölibats«, dem magyarischen Patriotismus oder Kopernikus beschäftigt, als dass sie sich um das Schicksal der menschlichen Seele nach dem Tod kümmerten. Konnte Steiner die agnostische Zeitbildung anders als ein gigantisches Gespenst erscheinen, das die abendländische Kultur heimsuchte?

Was Steiner bestimmt noch nicht wusste, als er in Neudörfl zur Schule ging, war, dass er viele Vorläufer und Weggefährten hatte. Erst die akademische Esoterikforschung der letzten 15 Jahre hat gezeigt, dass die andere Welt durch Jahrhunderte, ja Jahrtausende der abendländischen Geschichte manchen Menschen zugänglich war, dass diese Menschen aber systematisch marginalisiert und verfolgt worden sind. Das Abendland, die Moderne, hat sich durch einen »polemischen Diskurs« gegen die Esoterik konstituiert, der bis in die Ketzer- und Heidenverfolgungen der Kirche zurückreicht.

Kommen wir noch einmal zur Geometrie zurück. Was für einen Beweis gibt es, dass die Summe der Innenwinkel in einem Dreieck 180 Grad beträgt? Kann man diesen Beweis sehen? Ist er deswegen nicht real, weil keiner ihn sehen kann? Oder ist er nicht real, weil nur wenige ihn denken? Vermutlich hat nur eine Minderheit der fast sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten schon etwas vom Satz des Pythagoras gehört. Müssen Verstorbene oder Naturgeister irreal sein, nur weil wenige sie wahrnehmen und mit ihnen kommunizieren können? Und wenn sie real sind, was bedeutet es für eine Kultur wie die des Abendlandes, dass sie ihnen keine Beachtung schenkt? »Ihr habt eure Toten vergessen«, riefen die Indianer den Weißen zu, die von ihrem Land Besitz ergriffen. Was ist das für eine Kultur oder Zivilisation, die ihre Ahnen mit Missachtung straft, obwohl sie ständig von ihnen umgeben ist? Das müssen Fragen gewesen sein, die den jungen Steiner umtrieben.

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