Wie gaga sind wir eigentlich?

Zuletzt aktualisiert am 21. Juni 2011.

Was drei Wissenschaftler über die Realität denken, konnte man jüngst bei ZEIT-Online lesen.

Was der »Psychologe« meint

In der Antwort des Psychologen ist aber auch jeder Satz falsch. Die Seele kommt darin gar nicht vor. Die Realität, sagt er, ist nur eine Interpretation unseres Gehirns. Woher aber wissen wir, was unser Gehirn denkt? Durch unser Denken. Nicht das Gehirn interpretiert, sondern wir interpretieren das Gehirn – und zwar durch das Denken.

Interpretieren ist eine genuine Leistung unseres Geistes, wir interpretieren in das Gehirn hinein, dass es interpretiert.

Es gibt keine Farbe Rot, sagt der »Psychologe«, sondern nur Lichtstrahlen, die von Hirnzellen geordnet werden. Woher wissen wir dann, dass es Rot gibt, wenn es gar kein Rot gibt? Haben wir uns die Farbe ausgedacht? Was ist wirklicher: das, was wir wahrnehmen, oder das, was wir in die Gehirnzellen hineindenken? Warum soll Licht, das wir ebenfalls mit unseren Sinnen wahrnehmen – falls es nicht gänzlich unsichtbar ist –, wirklicher sein als Farbe? Wenn Rot eine »Erfindung« des Gehirns ist, das Wellenlängen »deutet«, warum sind dann die Wellenlängen, die wir nicht sehen, sondern durch Apparate symbolisch darstellen und denkend berechnen können, nicht auch eine Erfindung des Gehirns?

Wenn wir uns in lauter Erfindungen des Gehirns bewegen, warum ist dann die eine Erfindung wirklicher als die andere? Kann das Gehirn irgendetwas »erfinden«? Erfinden ist ebenso eine genuine Leistung unseres Denkens, wie das Interpretieren. Das Gehirn kann ebensowenig deuten, wie es interpretieren kann. Diese Funktion (welche?) sagt der »Psychologe«, ist in der Evolution entstanden, weil sie nützlich war, weil sie den Menschen erlaubte, Früchte an Bäumen zu erkennen.

Erinnert uns diese Geschichte nicht an die Genesis? Adam und Eva erkannten im Paradies Früchte und weil sie sie erkannten, waren sie wie Gott. Die Behauptung, die Funktion sei entstanden, weil sie nützlich war, ist eine teleologische Interpretation des Darwinismus, ist Theologie, weil die Funktion aus einem Zweck, nämlich der Nützlichkeit abgeleitet wird. Die Nützlichkeit ist die teleologische Ursache der Funktion.

Vielleicht ist das Gehirn ja entstanden, weil die Menschen Früchte an Bäumen erkannten, schon bevor sie ein Gehirn hatten? Vielleicht ist das Gehirn eine Funktion des Erkennens und nicht das Erkennen eine Funktion des Gehirns?

In dem Versuch, Ordnung zu schaffen, sagt der »Psychologe«, sehen wir Dinge, die so gar nicht sind. Wieso versuchen wir Ordnung zu schaffen und nicht lieber Unordnung? Worin besteht die Nützlichkeit der Ordnung? Ist die Ordnung nicht auch eine »Funktion« des Gehirns? Ist sie nicht ebenso eine Interpretation, wie die Farbe Rot? Und wenn wir die Ordnung zum Überleben benötigen, ist dann das Überleben, überhaupt das Leben, nicht auch eine Funktion des Gehirns? Woher wissen wir , dass wir leben? Doch durch das Wahrnehmen. Wenn aber alles, was wir wahrnehmen, eine Funktion des Gehirns ist, muss dann nicht auch das Gehirn selbst eine Funktion des Gehirns sein? Und welches Gehirn ist dann realer? Das erste oder das zweite? Oder vielleicht das dritte, dessen Funktion die beiden ersten sind?

Der »Blick« durch ein Mikroskop »überzeugt«, dass die Welt völlig anders »ist«, als bloße Augen sie »sehen«, meint der Psycholog. Ein Blick des Auges überzeugt uns davon, dass der Blick des Auges uns täuscht. Warum soll der eine Blick irreal, der zweite real sein? Der Blick des Auges kann uns auch nicht »überzeugen«, ebensowenig, wie uns das Gehirn überzeugen kann, beide Male wird eine geistige Funktion einem physischen Organ zugeschrieben. Wir überzeugen uns. Im Fall des Psychologen, bildet er sich die falsche Überzeugung, seine Überzeugung sei eine Funktion seines Gehirns und nicht ein Gebilde seines Denkens, vermutlich deshalb, weil er sie nur dann für »objektiv« hält.

Die Welt sei völlig anders, als bloße Augen sie sehen! Wieso ist das Wahrnehmungsbild des durch ein Mikroskop verstärkten Auges die eigentliche Wirklichkeit? Wird sie uns denn anders zugänglich, als durch unsere Augen? Wer blickt durch das Mikroskop und womit? Wer ist es, der das mikroskopische Bild zur eigentlichen Wirklichkeit erklärt, das Bild des bloßen Auges aber für unwirklich? Womit sehen wir das Mikroskop? Ist es deswegen unwirklich, weil wir es mit Augen sehen? Warum soll dann das, was es unserem Auge zeigt, die wahre Wirklichkeit sein?

Schließlich sollen uns auch Träume und Halluzinationen davon überzeugen, dass die Realität eine subjektive Interpretation ist. Offenbar verbürgt also unser Gehirn nicht einmal die »Objektivität« der Realität, in der wir uns bewegen, trotz aller Erklärungen und Deutungen, die uns beweisen, wie die Realität wirklich, also doch wohl objektiv beschaffen ist. Kennen wir nun die objektive Realität oder nicht? Und wie kommen wir zu ihr, anders als durch unser Gehirn? Von dem wir aber wissen, dass es gar nicht real ist, weil wir es sehen, wo doch in Wahrheit nur Wellenlängen sind.

Und wo bleibt in all diesem von der Wirklichkeit völlig abgekehrten Denken die Seele, mit der sich der Psycholog doch eigentlich beschäftigen muss, zumal er auch noch Psychotherapeut ist? Was therapiert er eigentlich? Das Gehirn? Oder Wellenlängen?

Was der Astrophysiker meint

»Realität«, meint der Astrophysiker, »ist das, was ausserhalb des Denkens der Menschen existiert.« Wie weit sind wir doch von jener Zeit entfernt, als man meinte, das Dasein Gottes durch Denken beweisen zu können! Gott ist das, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, argumentierte Anselm von Canterbury. Das Größte, was gedacht werden kann, kann nicht ohne das Sein gedacht werden. Also muss Gott notwendig existieren. Oder Gott als Inbegriff aller Vollkommenheit kann notwendigerweise nur als seiend gedacht werden, sonst fehlte ihm ein entscheidendes Attribut der Vollkommenheit. Heute scheint es ein Gemeinplatz, dass die Realität »außerhalb des Denkens existiert.« Nun ist das ohne Zweifel eine Definition: »Realität ist das, was außerhalb des Denkens liegt.« Wie verhält es sich aber mit dieser Definition? Liegt sie innerhalb oder außerhalb des Denkens? Wenn sie innerhalb des Denkens liegt, ist sie irreal, also kann sie keine gültige Definition der Realität sein. Liegt sie außerhalb des Denkens, dann läge das Denken außerhalb seiner selbst und wäre demnach real, was der Definition widerspricht. Also in jeder Hinsicht ein schlechthinniger Widersinn.

Ferner: wenn die Realität außerhalb des Denkens läge – wie käme sie dann in das Denken hinein? Müsste sie nicht unter Ausschluss des Denkens erkannt werden, da das Denken zur Realität ja nichts beiträgt, höchstens »Irrealität«?

Nun ist »die erfolgreichste Methode, um etwas darüber« (wohl über die Realität) »zu erfahren, die der modernen Naturwissenschaften.« Ist denn die hier vorgelegte Definition der Realität ein Ergebnis der modernen Naturwissenschaften? Eine, die ohne das Denken zustande gekommen ist? Und wie verhält es sich mit all jenen Weltinhalten, die naturwissenschaftlich nicht erforschbar sind? Sind sie alle irreal oder unerkennbar? Wie ist es mit der »Geschichte«? Mit der »Mathematik«? Mit der »Philosophie«? Mit der »Ethik«? Mit der »Literatur«? Sind sie mit naturwissenschaftlichen Methoden erforschbar? Oder liegen ihre Wirklichkeiten auch außerhalb des Denkens? Eine Wissenschaft, die nur das naturwissenschaftlich Erforschbare als real betrachtet, ist keine Wissenschaft, sondern eine Ideologie. Entweder, die Realität liegt nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb des Denkens, oder ein großer Teil unserer Welt ist irreal.

Ja, mehr noch: wenn das Denken die Macht besitzt, zu definieren, was Realität ist, was ja auch unser Astrophysiker voraussetzt, sonst könnte er den Satz von der Realität gar nicht aufstellen, dann liegt die Realität nicht außerhalb, sondern innerhalb unseres Denkens. Denn es allein bestimmt, was Realität ist.

»Alle Annahmen« über die Realität werden von der Naturwissenschaft »fortlaufend überprüft«, darauf gründet ihr Erfolg, meint der Astrophysiker. Gut, dann sollten wir die Annahme, die Realität liege außerhalb des Denkens, einmal überprüfen. Aber können wir das durch naturwissenschaftliche Methoden? Nein, denn es handelt sich um einen bloßen Gedanken, eine Definition, und mit welchen naturwissenschaftlichen Methoden, soll man einen bloßen Gedanken, der unsichtbar in unserem Kopf existiert, überprüfen? Mit dem PET oder dem EEG?

Immer mehr Kosmologen nehmen an, so der Astrophysiker, dass wir in einem »Multiversum« leben, das aus unendlich vielen Parallelwelten besteht, in denen wir selbst in selbstähnlicher Form unendlich oft vorkommen. Ein faszinierender Gedanke. Existiert er außerhalb des Denkens?

Was der Medienwissenschaftler meint

Der Technikfreak definiert Realität als das, was wir durch Technologien wahrnehmen, und zwar so, dass wir uns an diese Wahrnehmung gewöhnt haben. Solange wir mit einer »Wirklichkeit«, die von einer neuen Technologie erzeugt wird, noch unvertraut sind, halten wir sie für unwirklich, virtuell, irreal. Sobald wir uns aber an sie gewöhnt haben, halten wir sie für real.

Auch der Medienwissenschaftler – man muss es leider sagen –, definiert Realität als etwas, was ohne den Menschen und außerhalb seines Bewusstseins zustande kommt. Zwar entstehen die Medien oder realitätserzeugenden Technologien nicht ohne den Menschen. Sobald sie aber von ihm erzeugt sind, gewinnen sie ein von ihm unabhängiges Dasein und erzeugen eine Realität, an die der Mensch sich nach einiger Zeit gewöhnt. Wie ist es möglich, dass die wirklichkeitserzeugenden Technologien von etwas erzeugt werden können, das diese Wirklichkeiten erst von den Technologien empfangen muss? Was ist wirklicher: das Erzeugende oder das Erzeugte? Gäbe es irgendein Medium, ohne den Menschen? Gäbe es Knotenschnüre, die die Maja für ihre historischen Aufzeichnungen benutzten? Gäbe es Papyrusrollen? Gäbe es Pergamente voller Schriftzeichen? Gäbe es Computerchips oder Bildschirme? All diese Medien und Technologien sind Objektivierungen des menschlichen Geistes: als Inhalte der Wirklichkeit haben sie ihren Ursprung im Geist. Ihre Fähigkeit, symbolische Repräsentationen der ursprünglichen Wirklichkeit zu erzeugen, wurde ihnen durch den Urquell aller Wirklichkeit, durch den Geist des Menschen zuteil. Ihre Realität aus zweiter Hand verdanken sie der Realität aus erster Hand.

Ausserdem: sind die Welten von facebook, World of Warcraft oder twitter real, nur weil sie von Medien erzeugt werden? Gilt dasselbe dann nicht auch von Büchern, an deren Existenz wir uns schon seit langem gewöhnt haben, von denen wir langsam vergessen, dass sie existieren? Also: alles, was in Büchern steht ist real, weil es in Büchern steht? Ist dann nicht auch Gott, sind dann nicht auch Engel real, wenn wir an ihre Beschreibungen in Büchern gewöhnt sind? Nicht das Medium verbürgt die Realität, sondern die Realität muss für das Medium bürgen. Wo aber liegt diese Realität? Nicht jenseits unserer Beobachtung und nicht jenseits unseres Denkens. Ohne das Denken wissen wir nicht, was der Begriff »Realität« bedeutet. Und ohne, dass wir beobachten, wissen wir nichts von der Existenz eines möglichen Weltinhaltes. Aber wer ist der Beobachter?

Ein Kommentar

  1. Warum die Aufregung? Was erwartest Du denn von Wissenschaftlern? Manchmal habe ich den Eindruck, dass Experten generell weniger Verstand besitzen, als durchschnittliche Mitmenschen. Irgendwie hängt das mit der Ausbildung zusammen. Ich glaube, man nennt das déformation professionelle.
    Herzliche Grüße
    Stephanie

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