Zuletzt aktualisiert am 11. Juni 2013.
Das Leben René Guénons lässt sich in drei Phasen unterteilen. Die erste war okkultistisch. In dieser lernte er die meisten Quellen kennen, die ihn zu seiner traditionalistischen Philosophie anregten. Die bereits beschriebene »katholische« Phase war die zweite. Die dritte Phase, die er als Sufi in Kairo zubrachte, begann in den 1930er Jahren.
Guénons okkultistische Phase
René Jean-Marie Joseph Guénon war das einzige Kind eines katholischen Paares, das gut versorgt in Blois lebte, einer kleinen Stadt an der Loire. Sein Vater, Angestellter einer Versicherungsgesellschaft, war bei der Geburt seines ersten und einzigen Kindes 56 Jahre alt, seine Mutter 37. Sie war die zweite Frau seines Vaters (die erste war kinderlos gestorben). Guénons Kindheit verlief unspektakulär. Trotz leichter Kränklichkeit entwickelte er sich in der Schule gut und spezialisierte sich auf Mathematik. Als er 18 war, sandten ihn seine ehrgeizigen Eltern auf das Collège Rollin in Paris, damit er seinen mathematischen Studien weiter nachgehen und anschließend die angesehene École Polytechnique besuchen konnte.
Aber 1906 verließ er das Collège, an dem er sich nicht wohlfühlte und tauchte bis kurz vor Ausbruch des I. Weltkriegs in den Pariser Okkultismus ein. Was ihn am Okkultismus angezogen hat, ist nicht bekannt. Die okkultistische Gruppe, der er sich 1906 anschloss, war der Martinisten-Orden. Dieser war um 1890 von Gérard Encausse (Papus) gegründet worden. Encausse war der Sohn eines alternativen Heilers. Er wurde zwar Schulmediziner, pflegte aber das familiäre Interesse an alternativen Therapien wie Homöopathie und Mesmerismus weiter. 1887, während seines Studiums an der medizinischen Fakultät in Paris, schloss er sich der Pariser Loge der Theosophischen Gesellschaft an, die zu den Quellen des martinistischen Perennialismus und damit auch des Traditionalismus gehört.
Die Theosophische Gesellschaft
Heute wird die Theosophische Gesellschaft in der Regel als »neue religiöse Bewegung« bezeichnet. Aber 1875 wurde sie in New York mit einem durchaus seriösen Ziel gegründet. Ins Leben rief sie der Anwalt und Journalist Henry Steel Olcott. Die Gesellschaft sollte nach Olcotts Absicht die Religionen der Menschheit und die Alte Weisheit erforschen, besonders »die ursprünglichen Quellen aller Religion, die Bücher des Hermes und die Veden« – mit anderen Worten, die philosophia perennis. Wie Guénon nahm auch Olcott an, diese sei in den Veden enthalten. Mit seiner Auffassung, die Bücher des Hermes seien ebenfalls eine ihrer Erscheinungsformen, schloss er sich Marsilio Ficinos Perennialismus an. Ficino betrachtete das Corpus Hermeticum, das Hermes Trismegistos zugeschrieben wurde und die chaldäischen Orakel, deren Verfasser Zoroaster sein sollte, als ältesten Ausdruck der philosophia perennis, da die Veden damals noch nicht bekannt waren. Diese wurden erstmals von Reuben Burrow mit dem Perennialismus in Verbindung gebracht. Burrow war Mitautor der »Asiatick Researches«, der Zeitschrift der »Asiatick Society of Bengal«, der ersten Gesellschaft im Westen, die sich der Erforschung des Orient widmete. Sie wurde 1784 unter dem Vorsitz von »Oriental Jones« in Kalkutta begründet. Sir William »Oriental« Jones war Angestellter der East Indian Company, ein begabter Sprachwissenschaftler und Richter am Obersten Gerichtshof in Kalkutta. In einem Artikel, der 1799 in »Asiatick Researches« erschien, versuchte Burrow nachzuweisen, dass die alten Inder eine hochentwickelte Mathematik besaßen, indem er den späteren Zustand der indischen Astronomie in die Vergangenheit projizierte. Hier sprach er auch vom indischen Ursprung der europäischen Wissenschaften.
Dass Olcott seine Überzeugung, die Veden enthielten die philosophia perennis, durch Burrow gewonnen hat, ist eher unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass er sie aus der Literatur des amerikanischen Transzendentalismus bezog. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts erschienen immer mehr Übersetzungen hinduistischer Texte, die teilweise von Mitgliedern der Asiatick Society of Bengal verfasst worden waren. Einer der ersten westlichen Intellektuellen, der sich ausgiebig auf diese Texte bezog, war der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson. Emerson, ein ehemaliger Geistlicher der Unitarischen Kirche, führte zusammen mit Henry David Thoreau den amerikanischen Transzendentalismus an. 1831 las er den kürzlich übersetzten »Cours de philosophie« Victor Cousins, der zwei Kapitel der Bhagavad-Gita enthielt. Diese war zwischen 1824 und 1827 ins Englische übersetzt und in den »Transactions of the Asiatick Society of London« veröffentlicht worden. Cousin stützte sich auf diese Übersetzung.
Die Veden und das Vedanta übten einen großen Einfluss auf Emerson und dadurch auch auf den Transzendentalismus aus. Durch transzendentalistische Zeitschriften wie »The Western Messenger« oder »The Dial« erreichten sie ein breiteres Publikum. Auf diesem Wege könnte auch Olcott sie kennengelernt haben.
Emerson vertrat ebenfalls eine Form von Perennialismus. In sein Tagebuch schrieb er 1839, für ihn bedeute »Bibel« die »ethischen Offenbarungen im allgemeinen, die Veden eingeschlossen, überhaupt die Heiligen Texte jedes Volkes und nicht nur die der Hebräer«. Diese Ansicht und seine Würdigung des Ostens als Quelle der Weisheit macht Emerson zu einem Vorläufer von Olcott, aber auch von Encausse und Guénon. Der Perennialismus, wie Emerson und Cousin ihn verstanden haben, bestand auch im 20. Jahrhundert weiter, das bekannteste Beispiel dürfte Aldous Huxleys Buch »The Perennial Philosophy« (1944) sein.
Die Theosophische Gesellschaft wuchs aus bescheidenen Anfängen zu einer weltweiten Organisation heran, die 1879 ihren Sitz nach Indien verlegte (von 1882 an in Adyar, Madras). Schließlich gehörten ihr mehr als 500 Logen in über vierzig Ländern in Asien und dem Westen an, unter anderem die Loge, der sich Encausse 1887 in Paris anschloss. Ihren Erfolg in Asien verdankte die Theosophische Gesellschaft vermutlich der Unterstützung, die sie den kulturellen und religiösen Bewegungen zuteil werden ließ, die ein Teil der nationalen Reaktion auf den europäischen Imperialismus waren. Ihre Verbreitung im Westen lässt sich durch zwei Faktoren erklären: die Zeitumstände und die hohe Qualität der Schriften Blavatskys.
Mit ihren beiden Büchern »Isis Unveiled« (1877) und »The Secret Doctrine« (1888) hatte Blavatsky einen bedeutenden Anteil am außergewöhnlichen Erfolg der Theosophie. Die Autorschaft wurde übersinnlichen Quellen zugeschrieben, aber beide wurden von Blavatsky entworfen und von menschlichen »Ghostwritern« in publizierbare Form gebracht – die »Entschleierte Isis« von Olcott, die »Geheimlehre« von zwei englischen Brüdern, welche diese Aufgabe übernahmen, nachdem der ursprünglich von Blavatsky vorgesehene Herausgeber aufgrund des chaotischen Zustandes ihres ersten Entwurfs aufgegeben hatte. Beide Bücher spiegelten in gewisser Weise das ursprüngliche Ziel der Theosophischen Gesellschaft, die Schriften des Hermes und die Veden zu erforschen, wenn auch nicht in einem wissenschaftlichen Sinn. Die »Entschleierte Isis« enthielt eine Vielzahl von Plagiaten aus Standardwerken zur Geschichte des Okkultismus und der Hermetik (134 Seiten aus Marcel Dunlaps »Sod, the Son of Man«, 107 Seiten aus Joseph Ennemosers »Geschichte der Magie« usw.), während sich die »Geheimlehre« auf John Dowsons »Classical Dictionary of Hindu Mythology and Religion«, sowie auf Horace Wilsons Übersetzung des »Vishnu Purana« und weitere Werke stützte.
Sedgwick meint, die Plagiate Blavatskys könnten das Geheimnis des Erfolges ihrer Bücher gewesen sein. Die Wiedergabe klassischer religiöser Ideen in einer zeitgenössischen Terminologie könnte den phänomenalen Zuspruch erklären, welchen die Theosophie erlebte. Wäre Blavatsky nicht durch die Untersuchungen der »Society for Psychical Research« diskreditiert worden, so Sedgwick, dann hätte sich die Theosophie, die in ihren Büchern zum Ausdruck kam, möglicherweise als eine der führenden Weltreligionen etabliert, statt im Lauf des 20. Jahrhunderts weitgehend von der Bildfläche zu verschwinden.
Der Martinisten-Orden
Kaum hatte sich Guénons erster Meister Encausse der theosophischen Loge Isis in Paris angeschlossen, begann er für die theosophische Zeitschrift »Lotus, Revue des Hautes Études Théosophiques« zu schreiben – nicht über Theosophie, sondern über sein Hauptanliegen, die Initiation, die das dritte Grundmotiv der traditionalistischen Philosophie darstellt (neben dem Perennialismus und der Gegeninitiation oder Inversion). Laut Encausse hatten politische und materielle Interessen die spirituellen aus der zeitgenössischen Freimaurerei verdrängt, während die Theosophie Initiationen aus Indien vermittelte, wo die »alte Wahrheit immer noch« existiere. Aus dieser Idee entwickelte sich die traditionalistische Vorstellung der Initiation.
An jeder Initiation lässt sich ein esoterischer und ein exoterischer Aspekt unterscheiden. Die klassische christliche Initiation ist die Taufe. Ihre exoterische Bedeutung besteht darin, den Eintritt in die christliche Gemeinschaft zu einem einschneidenden Ereignis zu machen, ihre esoterische darin, dass sie dem neuen Christen einen Zugang zur göttlichen Gnade gewährt und damit zur Erlösung, die andernfalls nicht erreichbar wäre. Encausse, später auch Guénon und die Traditionalisten interessierten die esoterischen Aspekte nichtchristlicher Initiationen.
Schon bald nach seiner Aufnahme in die Isis-Loge wurde Encausse in einen Streit mit einem führenden französischen Theosophen verwickelt. Dieser führte zum Eingreifen Olcotts, der Auflösung der Loge und der Bildung einer neuen namens Hèrmes, zu deren korrespondierendem Sekretär Encausse ernannt wurde. Während dieser Vorgänge gründeten Encausse und einige seiner Anhänger eine Monatszeitschrift mit dem Titel »L’initiation«. In der ersten Ausgabe setzte Encausse seine Angriffe auf die zeitgenössischen Maurer fort und warf ihnen vor, sie verstünden die tiefere Bedeutung ihrer eigenen Riten nicht. Kurz darauf gründete er seinen martinistischen Orden, der eine neue Maurerei auf einer gesünderen Grundlage pflegen sollte. Dieser stand mit keiner der drei damaligen maurerischen Obödienzen in Frankreich in Verbindung.
Als Ergänzung zu seinem neomasonischen Orden gründete Encausse 1889 eine unabhängige Gruppe für esoterische Studien, zu deren Zielen es gehörte, die Teilnehmer auf den Eintritt in seinen Orden bzw. die Theosophische Gesellschaft vorzubereiten und den Perennialismus zu verbreiten. Encausse verkündete, es gebe nur eine Wahrheit und keine Schule oder Religion könne sie als ihren ausschließlichen Besitz beanspruchen. Vielmehr fänden sich in jeder Religion Manifestationen dieser Wahrheit. Guénon schloss sich später der Studiengruppe und dem Orden an.
Die Ziele der unabhängigen esoterischen Studiengruppe mochten mit den Ideen der Theosophie vereinbar sein, jene des Martinisten-Ordens waren es nicht. Die tibetischen Adepten, auf die Blavatsky sich berief, wurden von ihr als Eingeweihte beschrieben und Blavatsky musste demnach selbst in manche ihrer Geheimnisse eingeweiht sein, aber die Erteilung von Initiationen an andere durch neomasonische Orden lag nicht in ihren Absichten. Außerdem bedrohten sowohl die unabhängige Studiengruppe als auch der Martinisten-Orden ihre Autorität. Blavatsky rief daher eine neue Zeitschrift, »La revue théosophique«, ins Leben, in der sie Encausse vorwarf, er habe sich von der Theosophie ab- und der Maurerei zugewandt. Encausse gründete postwendend eine zweite Zeitschrift, »Le voile d’Isis«, eine Anspielung auf Blavatskys »Entschleierte Isis«, um gegen Blavatsky und die Theosophen zu polemisieren.
Später sollte »Le Voile d’Isis« die führende Zeitschrift des Traditionalismus werden. Sie erschien bis 1992. Der erste Herausgeber war Henri Chacornac, dessen Sohn Paul sie 1933 in »Études traditionelles« (»Studien zum Traditionalismus«) umbenannte. Henri Chacornac wurde von seinem Schwiegervater zum Verleger und Buchhändler ausgebildet. Er veröffentlichte den berühmten Dichter Paul Verlaine, die Bücher seines Schwiegervaters und eine Reihe anderer Autoren. Nach seinem Tod führten die beiden Söhne Paul und Louis sein Unternehmen fort, Paul als Herausgeber und Louis als Geschäftsführer.
Nachdem die Feindseligkeiten zwischen Encausse und Blavatsky ausgebrochen waren, verließen eine Reihe von Theosophen die Hèrmes-Loge, um dem Martinistenorden beizutreten und die verbliebenen Theosophen lösten ihre Loge auf. Encausse sorgte für die Verbreitung seiner Organisation in- und außerhalb Frankreichs. Um 1900 gab es Hunderte von Martinistenlogen von Amerika bis ins Zarenreich.
Der erneuerte Templerorden
1906 trat Guénon der inzwischen in »Freie Hochschule für hermetische Wissenschaften« umbenannten Studiengruppe, dem Martinistenorden und einer weiteren irregulären Maurerloge namens »Humanidad« bei, die zwar in Frankreich ihren Sitz hatte, aber unter spanischer Obödienz stand. Die Freie Hochschule besaß eine Reihe von Sektionen und Gruppen, unter anderem eine Sektion für Initiatische Studien, eine Gruppe für das Paranormale oder eine Gruppe für Aktionen in Zentren für Frauenbildung. Die Abteilung für das Paranormale beschäftigte sich mit Phänomenen, die von Blavatsky her bekannt waren, wie der Materialisierung von Briefen und dergleichen. Der Martinistenorden in Paris besaß vier Logen: Sphinx (für allgemeine Studien), Hermanubis (für orientalische Traditionen), Velléda (für Maurerei und Symbolik) und Sphynge (für Kunst). Logen im Ausland waren mehr oder weniger sich selbst überlassen, manche von ihnen wurden von Personen gegründet, mit denen lediglich korrespondiert hatte.
Encausse besaß nicht nur ein Interesse an Esoterik, sondern auch an vielen progressiven Bewegungen. Viele Theosophen, die Encausse nahestanden, waren Anhänger Anna de Wolskas, die 1889 einen internationalen feministischen Kongress in Paris organisierte. Die ersten Treffen der unabhängigen Studiengruppe für Esoterik fanden in Wolskas Bibliothek statt und Wolska war bis 1895, als er heiratete, die Geliebte von Encausse. Encausse und der Martinismus waren nicht nur mit dem Feminismus verbunden, sondern mit nahezu allen alternativen Bewegungen dieser Zeit: mit der Maurerei, dem hermetischen Okkultismus, dem Vedanta, dem Bahaismus, alternativen Wissenschaften – mit fast allem –, außer der katholischen Kirche.
Guénon scheint die ursprünglichen Ziele der unabhängigen Studiengruppe Ernst genommen zu haben. Zu diesen Zielen gehörte die Entdeckung der philosophia perennis, die Encausse als das »ursprüngliche Licht« bezeichnet hatte. Encausse und seine Anhänger glaubten, sie sei durch Hermes aus altägyptischen Quellen geschöpft worden und sahen in deren Weitergabe (Transmission) die Quelle der Initiation. Encausse folgte Blavatsky und Burrow bei ihrer Zuwendung zum Hinduismus und betrachtete die »indische Tradition« als »das älteste Beispiel von Kontinuität einer religiösen Exoterik«. Seine unabhängige Studiengruppe sollte die »exoterischen Überreste« der ursprünglichen Offenbarung »im Licht der lückenlosen Transmission« der Tradition des Hermes rekonstruieren. Guénon tauchte dieser Idee folgend in das Studium des Hinduismus ein und machte sich auf die Suche nach einer ununterbrochenen initiatischen Tradition. Er war der erste von vielen Traditionalisten, die sich auf diesen Weg begaben.
Die Frage nach der Quelle der Kenntnisse Guénons über den Hinduismus hat viele seiner Biografen beschäftigt. Angesichts der Bedeutung, die der Traditionalismus später der »authentischen« Vermittlung von Meister zu Schüler beimaß, suchten sie nach den Hindumeistern Guénons und scheiterten. Es ist aber wahrscheinlich, dass es keine solchen Meister gab und dass sein Verständnis des Hinduismus aus seiner Lektüre von Texten stammte, die damals in Paris zugänglich waren. Guénon hat niemals das Gegenteil behauptet, auch wenn er einmal auf Ideen anspielte, die ihm »von gewissen Hindus« nahegebracht worden seien. Außerdem war er nie in Indien. Es gibt keinen Grund, warum Guénon damals hätte glauben sollen, er habe ohne Erfahrungen aus erster Hand kein Recht, über den Hinduismus zu schreiben. Wenn er dies tat, folgte er nur dem Vorbild vieler früherer Orientalisten, die sich ebenfalls fast ausschließlich auf Texte stützten.
Seine Suche nach der Initiation führte Guénon in einen ersten Konflikt mit Encausse. Er zweifelte bald an der martinistischen Initiation und fand nach zwei Jahren eine bessere, die auf den seit langem verstorbenen Jacques de Molay (1243-1314) zurückgehen sollte, den letzten Großmeister des Templerordens, von dem viele glaubten, er habe in und um Jerusalem initiatische Geheimnisse gehütet.
Die Anweisungen Jacques de Molays wurden Guénon während einer Seance 1908 zuteil und sollten zur Wiedererrichtung des Templerordens führen. Guénon machte sich daran, mit Hilfe von fünf anderen Martinisten einen solchen Orden zu gründen. Einer von ihnen verhalf ihm zu den Adresslisten des Martinistenordens. Zwei dieser Martinisten wurden zu treuen Anhängern Guénons, die noch in den 1920er Jahren an seiner Seite standen und auch später zu den Hauptmitarbeitern seiner Zeitschrift »Le Voile d’Isis – Études traditionelles« gehörten. Der eine war Alexandre Thomas, ein Ingenieur, der sich enttäuscht von der Theosophischen Gesellschaft abgewandt hatte, der andere Patrice Genty, ein Mitglied der irregulären Loge »Humanidad«. Genty war Angestellter der städtischen Gasgesellschaft. Er verbrachte seine Vormittage damit, Gasometer abzulesen, seine Nachmittage in der Nationalbibliothek. Er lebte in einer kleinen Wohnung, die mit Büchern so vollgestopft war, dass kaum Platz für Besucher blieb.
Der erneuerte Templerorden traf sich in den Räumen der Freien Hochschule für hermetische Wissenschaften unter dem Mantel einer Gesellschaft für höhere religiöse und philosophische Studien. Was genau bei diesen Treffen geschah, ist unbekannt; die Geschichte des erneuerten Templerordens empfand Guénon in späteren Jahren als peinlich und vermied es, darüber zu reden.
Wie zu erwarten, betrachtete Encausse den Orden, sobald er von dessen Existenz und dem Verlust seiner Adressliste erfuhr, als Bedrohung. Es war kaum zwanzig Jahre her, dass er selbst durch die Gründung eines Ordens die Theosophische Gesellschaft in eine Krise gestürzt hatte. Daher schloss er Guénon und einige andere (darunter Thomas und Genty) aus dem Martinistenorden und der Loge Humanidad aus und unterstellte die verbleibenden Neutempler wieder seiner Autorität. Der erneuerte Templerorden Guénons scheint seine Arbeit aufgegeben zu haben, auch wenn er erst 1911 offiziell aufgelöst wurde.
Ananda Kentish Coomaraswamy
Die unmittelbaren Ursprünge des Traditionalismus liegen im Martinismus und der Theosophie, aber er entwickelte sich in eine andere Richtung als diese. Während der Martinismus und die Theosophie erfolgreiche Massenorganisationen waren, deren Zuspruch teilweise darauf zurückzuführen ist, dass sie nahezu nichts ausschlossen, war der Traditionalismus weder allumfassend, noch zielte er auf ein Massenpublikum. Ein anderer wichtiger Unterschied zwischen dem Traditionalismus und seinen Vorläufern im 19. Jahrhundert war nach Sedgwick der gänzliche Mangel an evolutionärem Optimismus. Blavatsky glaubte, die Menschheit habe den absteigenden Bogen der Entwicklung hinter sich gelassen und sei bereits wieder auf dem Weg zurück zur göttlichen Welt. Auch Emerson unterscheidet sich in zwei wichtigen Aspekten von Guénon, die beide mit der Romantik zusammenhängen: er kennt eine Spiritualität der Natur und schätzt die menschliche Originalität (das Gegenteil der Tradition). Ein Echo der Naturspiritualität lässt sich im späteren Traditionalismus finden, aber die Verehrung der Originalität ist die wahre Antithese des Traditionalismus. 1836 schrieb Emerson: »Die früheren Generationen standen Gott und der Natur von Angesicht zu Angesicht gegenüber, warum sollten wir nicht auch durch unsere Augen eine ursprüngliche Beziehung zum Universum genießen? … In den Wäldern findest du die ewige Jugend. In diesen Gärten Gottes … wurde ich zu einem allsehenden Auge; ich bin nichts; ich sehe alles; die Ströme des göttlichen Wesens fließen durch mich; ich bin ein Teil oder ein Stück Gottes.« Guénon war da viel pessimistischer. Sein Thema war nicht die Natur und in der »heiligen Wissenschaft« hielt er neue Entdeckungen für unmöglich.
Coomaraswamy durchlief eine andere Bildungsgeschichte. Trotz seines Namens war er Engländer. Sein Vater Mutu stammte zwar aus der tamilischen Bevölkerung Ceylons, war aber ein anglisierter Tamile, der oft nach England reiste. Mutu war der erste Inder, der englischer Anwalt wurde (1860). 1874 wurde er zum Ritter geschlagen und 1876 durch den Erzbischof von Canterbury mit einer Engländerin verheiratet. Ananda Coomaraswamy wurde in Ceylon geboren, aber als er zwei war, entschloss sich sein Vater, nach England zu gehen, um bei der Parlamentswahl zu kandidieren, ein Vorhaben, bei dem ihn der damalige britische Premier, Benjamin Disraeli, unterstützte. Aber Sir Mutu starb, bevor er in England ankam und Ananda wurde daraufhin in Kent von der Familie seiner Mutter großgezogen.
Coomaraswamys Kindheit und Erziehung waren englisch, auch wenn man davon ausgehen kann, dass die Reaktionen auf seinen Nachnamen und vor allem seine Hautfarbe bei seinen Mitschülern im Wycliffe College ihm das Gefühl vermittelten, weniger Engländer zu sein, als in seiner Kindheit. An der Universität studierte er Geologie und Botanik und wurde 1903 zum Assistenzprofessor am University College in London ernannt. 1902 heiratete er Ethel Partridge und erbte 1905 ein ansehnliches Vermögen.
Der Weg vom reichen englischen Geologen zum amerikanischen Kunsthistoriker und Traditionalisten war lang und führte durch den antikolonialistischen Nationalismus. Kurz nach seiner Heirat bewarb sich Coomaraswamy für den Posten des Direktors der mineralogischen Forschungskommission Ceylons, den er ab 1903 innehatte. Später sprach er oft von einem Erlebnis im Jahr 1904, als er in einem abgelegenen Dorf frühstückte und dort eine Eingeborene mit ihrem Kind sah, die beide »dreckige und zerknitterte« westliche Kleider trugen, was bedeutete, dass sie sich zum Christentum bekehrt hatten. »Sie waren die örtlichen Konvertiten zu einer fremden Religion und einer fremdartigen Bekleidung«, bemerkte er, »die beide gleich unnatürlich und unverstanden wirkten.« Zwei Jahre später sprach er zu einem ceylonesischen Publikum in ähnlichem Sinn: »Es ist schwer für jeden von uns, der nicht in England aufgewachsen ist, die Hoffnungslosigkeit unserer Versuche der Imitation zu erkennen; für Engländer ist die Absurdität offensichtlich, uns aber bleibt sie verborgen.«
1906 gründete Coomaraswamy die Gesellschaft für soziale Reform, deren Ziel die kulturelle und nationale Wiedergeburt Ceylons war. Die Erinnerung an jenen Morgen im Jahr 1904 begleitete ihn weiter: die »Übernahme eines Furniers westlicher Sitten und Gebräuche, während die wahren Elemente der westlichen Überlegenheit völlig vernachlässigt wurden«, habe zu einer Vernachlässigung der überlegenen Elemente in der Kultur und Zivilisation des Ostens geführt, einer Vernachlässigung, die Coomaraswamy beseitigen wollte. Zu den Zielen der Reformgesellschaft gehörte »die Vereinigung der östlichen Rassen Ceylons«, Erziehung in lokalen Sprachen statt Englisch, »die Wiedergeburt der eingeborenen Künste und Wissenschaften« und schließlich »der Schutz alter Bauten und Kunstwerke.«
Aber die Reformgesellschaft scheint kaum aktiv geworden zu sein. Stattdessen begann Coomaraswamy sich auf alte Bauten und Kunstwerke zu konzentrieren. Wahrscheinlich lenkte seine Frau Ethel, eine Fotografin, deren Bruder Fred Partridge mit der »Arts and Craft«-Bewegung von William Morris verbunden war, seine Aufmerksamkeit auf die Kunst. 1906 jedenfalls organisierte Coomaraswamy eine Ausstellung für Kunsthandwerk in Ceylon und kehrte 1907 nach England zurück, wo er 1908 ein Buch über »Mittelalterliche singhalesische Kunst« veröffentlichte und beim dritten internationalen Kongress für Religionsgeschichte über die »Beziehung von Kunst und Religion in Indien« vortrug. 1910 wurde er in eine öffentliche Auseinandersetzung über den Status der indischen Kunst verwickelt, deren Schauplatz die Leserbriefspalten der Londoner Times und anderer Zeitungen waren. Sie begann, als Sir George Birchwood, der zu dieser Zeit den Vorsitz über die indische Abteilung der Königlichen Gesellschaft der Künste innehatte, behauptete, es gebe keine wirkliche Kunst in Indien und auf den Einwand, eine bestimmte Buddhastatue sei ein Beispiel für Kunst, antwortete: »Dieses sinnlose Bildnis in seiner unvergesslich starren Haltung ist nicht mehr als ein uninspiriertes Stück Bronze … Ein Pudding aus Rinderfett wäre ein ebenso gutes Symbol der leidenschaftslosen Reinheit und Erhabenheit der Seele.« Die Kontroverse gipfelte in der Gründung der »India Society«, der späteren »Royal India Society«, die es sich zur Aufgabe machte, die Ansichten der Birchwoods dieser Welt zu bekämpfen. Coomaraswamy spielte bei dieser Unternehmung eine Hauptrolle.
Trotz seines Schwenks von der Geologie und dem ceylonesischen Nationalismus zur Kunstgeschichte interessierte sich Coomaraswamy auch weiter für Politik. Als 1914 der I. Weltkrieg ausbrach, setzte er sich gegen die indische Teilnahme an britischer Seite ein und als die Wehrpflicht eingeführt wurde (die ihn betroffen hätte) verließ er England Richtung Amerika. 1916 wurde er auf Wunsch eines Mäzens, der seine bedeutende Sammlung indischer und ceylonesischer Kunstwerke gekauft und dem Kunstmuseum in Boston gestiftet hatte, zum Kurator der Indischen Abteilung dieser Institution ernannt. Vermutlich war es dieser Kauf, der Coomaraswamy veranlasste, in Amerika zu bleiben und nicht nach Indien überzusiedeln, wo es ihm nicht gelungen war, einen Gönner zu finden, der seine Sammlung als Grundstock eines nationalen Museums für indische Kunst erworben hätte.
Während dieser Ereignisse beschritt Coomaraswamy einen spirituellen Weg, an dessen Ende er zu einem Perennialisten geworden war. Der früheste Einfluss auf ihn ging von der »Arts and Crafts«-Bewegung von William Morris aus. Coomaraswamys Begeisterung für Morris veranlasste ihn, isländisch zu lernen und als er 1907 nach England zurückkehrte, hatte er schon beträchtliche Summen für die Unterstützung von Charles Asbees »Guild and School of Handicraft« ausgegeben. Sein Buch über mittelalterliche singhalesische Kunst wurde sogar auf der Kelmscott-Druckmaschine hergestellt, die Morris für seine Chaucer-Ausgabe entwickelt und Coomaraswamy von Asbee gekauft hatte. Morris bereitete Coomaraswamy auf die antimodernistischen Elemente des Traditionalismus vor.
Die wichtigste Vorbereitung auf den Traditionalismus stellte aber zweifellos seine Blake-Lektüre dar. William Blake, der große englische Dichter und Maler an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert, war mit dem Perennialismus der Renaissance durch einen Zeitgenossen, den englischen Neuplatoniker Thomas Taylor, vertraut. Vor seiner Abreise nach Amerika befreundete sich Coomaraswamy außerdem mit William Butler Yeats, dem irischen Dichter, Okkultisten und Blake-Kenner.
1914 hatte Coomaraswamy den Perennialismus für sich entdeckt. In diesem Jahr veröffentlichte er einen Artikel über die »Religiösen Fundamente von Leben und Kunst«. Darin schrieb er, Blakes Werk enthalte »das Wesentliche der Religion, das sich bereits in den Hieroglyphen und Veden findet, das bereits von Christus, Orpheus und Krishna, von Lao-Tse, Eckhart und Rumi gelehrt wurde.« Coomaraswamy war Perennialist, aber noch kein Traditionalist. Im selben Artikel schrieb er hoffnungsvoll, dass »die Religion der Zukunft als Themen, Pflichten und Sinn des Lebens die Freiheit verkündigen wird, die göttlichen Künste der Imagination zu üben.« Hier klingt er wie Emerson (den er ebenfalls gelesen hat). Aber selbst nachdem er Traditionalist geworden war, bewahrte er etwas von seinen früheren Ansichten, und diese Tatsache erlaubte es ihm laut Sedgwick, einen individuellen Beitrag zur traditionalistischen Philosophie zu leisten, der in der Würdigung des Ästhetischen bestand, einer Würdigung, die letztlich von Blake und Morris herrührte.