Zuletzt aktualisiert am 10. März 2020.
Liebe Leser des anthroblog, dies ist der vorerst letzte Beitrag zur Esoterik des Islam. Wir haben diese Reihe und die früheren Beiträge über die Gnosis und Avicenna veröffentlicht, nicht etwa, weil wir zum Islam übergetreten wären und nun für ihn missionieren müssten, sondern um auf die im deutschen Sprachraum so gut wie unbekannten Leistungen Henry Corbins (1903-1978) hinzuweisen, der lange Zeit an der Sorbonne und in Teheran gelehrt und geforscht hat und zweifellos zu den großen Esoterikern und Esoterikforschern des 20. Jahrhunderts gehört. Bedauerlicherweise ist bis heute nur ein einziges seiner Bücher ins Deutsche übersetzt worden (Annemarie Schimmel: »Die smaragdene Vision. Der Licht-Mensch im persischen Sufismus«).
Die hier veröffentlichten Beiträge stellen nur einen kleinen Ausschnitt aus seiner umfangreichen Arbeit dar, die sich zum Ziel gesetzt hat, weltweit – insbesondere jedoch im Dialog zwischen Islam und westlicher Welt – das Bewusstsein der Ökumene der Esoterik zu fördern.
Wie durch die Reihe deutlich geworden sein dürfte, ist die verbreitete Behauptung, der Islam sei eine reine Gesetzesreligion, deren gesamter Inhalt mit der Scharia identifiziert werden darf und die Offenbarung sei aus seiner Sicht endgültig abgeschlossen, zumindest was den Schīismus betrifft, falsch. Das Heilige Buch (der Koran) ist zwar das Wort Gottes. Aber dieses Wort Gottes ist interpretationsbedürftig. Das Wort hat sich in ihm verhüllt, indem es sich durch seinen Propheten offenbarte – unter sieben Schleiern wie es heißt. Wer diese Schleier zu lüften vermag, dringt nach und nach in die sieben esoterischen Schichten seiner Bedeutung ein (von diesen sieben Schichten oder Geheimnissen sprachen auch H.P. Blavatsky und Rudolf Steiner). Wer buchstabengläubig – fundamentalistisch – am Wort festhält, ist aus der Sicht der hier behandelten Schīiten in Wahrheit gar kein Moslem, weil er den Koran nicht versteht. Die esoterischen Tiefen einer göttlichen Offenbarung in Buchform: Was die Kabbala in der Thora suchte, die christliche Esoterik im Neuen Testament, suchen die schīitischen Theosophen im Koran und den hadith. Und Kenner des Werkes Rudolf Steiners können es unter diesem Gesichtspunkt auch in seinem Werk finden. Die Offenbarung ist nicht abgeschlossen, sie dauert fort – denn auch die esoterische Hermeneutik, die ein spirituelles Organ des Verstehens voraussetzt, ist eine Form der Offenbarung. Den Unverständigen ist sie Torheit oder ein Skandal.
Besonders das Motiv des verborgenen Imām zeigt, dass die Offenbarung fortdauert, ist er doch der Lehrer, der nicht auf Erden lebt, der lebendige Lehrer, den im Prinzip jeder in sich selbst finden kann, der sich auf den spirituellen Pfad begibt. Durch diesen inneren Imām, der erst am Ende der Zeiten für die ganze Menschheit offenbar werden wird und durch seine Verbindung mit den übrigen elf (sie bilden zusammen die Zwölfzahl des »Pleroma«, die Gesamtheit der geistigen Lehrer der Menschheit, der Boddhisattvas), ergeben sich vielfältige Verbindungen zur jüdischen wie auch zur christlichen und buddhistischen Esoterik. Es sei an dieser Stelle nur auf die Darstellungen Rudolf Steiners über die Einweihung des Christian Rosenkreutz im 13. Jahrhundert verwiesen (GA 130, 27. und 28.9.1911). Dieses Jahrhundert unserer Zeitrechnung war auch für die Entwicklung des islamischen theosophischen und esoterischen Denkens reich an Inspiration, und wurde durch al Ghazāli, Ibn ’Arabī und Shihāboddīn Suhrawardī vorbereitet bzw. bereichert. – Zu einem späteren Zeitpunkt sollen auch einige Ausführungen Corbins zu den Themen spirituelle Hermeneutik, historisches und gnostisches Bewusstsein, Spiritualisierung des Denkens und zur Theorie der Esoterik bzw. Esoterikforschung an dieser Stelle veröffentlicht werden.
Henry Corbin: Der verborgene Imām und die Eschatologie
Dieses Thema stellt den Höhepunkt der Imāmologie und ihrer heiligen Geschichte und einen bevorzugten Gegenstand der prophetischen Philosophie dar. Ohne Zweifel wurde die Idee des verborgenen Imām im Lauf der Zeit auf verschiedene Imāme projiziert, zuletzt aber konzentrierte sie sich in der Gestalt des zwölften Imām, in dem sich das Pleroma des Imāmats vollendet. Die Literatur, die sich auf Persisch und Arabisch mit diesem Thema befasst, ist beträchtlich.
Der grundlegende Gedanke ist der folgende: Ebenso wie der Zyklus der Prophetie durch das Siegel der Propheten vollendet wird, ebenso vollendet sich die Initiation, deren Kette jener der Prophetie von Epoche zu Epoche parallel verläuft, im zweifachen Siegel des mohammedanischen Imāmats: dem Siegel der allgemeinen Initiation in Gestalt des ersten Imām und im Siegel der mohammedanischen Initiation in Gestalt des zwölften Imām. Ein Meister des iranischen schīitischen Sufismus, ’Azīz Nasafī, ein Schüler Sa’doddīn Hamūyehs, drückt dies wie folgt aus: »Tausende von Propheten, die vorangegangen sind, haben nacheinander an der theophanen Form der Prophetie gearbeitet und Mohammed hat sie vollendet. Nun obliegt es der Initiation, sich selbst und die esoterischen Wahrheiten zu manifestieren. Nun, der Mann Gottes, in dessen Person sich die Initiation manifestiert, ist der Sāhib al-zamān, der Imām unserer Zeit.«
Der Ausdruck Sāhib al-zamān (Herr der Zeit) ist der spezifische Titel des verborgenen Imām, »der den Sinnen verborgen, aber im Herzen der Gläubigen gegenwärtig ist«. Auf diesen konzentriert sich sowohl die Verehrung des frommen Schiiten als auch die Meditation des Philosophen. Gestalt nahm er an im Kind des elften Imām – Hasan Askari – und der byzantinischen Prinzessin Narkes (Narzissa). Er wird als erwarteter Imām, als Mahdi , als Qā’im al-Qiyāmat, als Imām der Auferstehung bezeichnet. Die Hagiographie des zwölften Imām quillt von symbolischen, archetypischen Bildern über, die sich auf seine Geburt und seinen Rückzug in die Verborgenheit beziehen. Die historische Kritik wird sich in diesen Überlieferungen nicht zurecht finden: es handelt sich um etwas ganz anderes, um das, was wir als heilige Geschichte bezeichnet haben. Man muss hier als Phänomenologe vorgehen: die Intentionen des schīitischen Bewusstseins aufdecken, um mit dessen Augen zu sehen, was sich ihm seit seinen Anfängen offenbart hat.
Wir erinnern uns, dass der elfte Imām, Hasan Askari, der von den abbassidischen Sicherheitskräften mehr oder weniger als Gefangener im Lager von Samarra (einige hundert Kilometer nördlich von Bagdad) festgehalten wurde, im Alter von 28 Jahren, 260/873, verstarb. Am Tag seines Todes verschwand sein kleiner Sohn, der damals etwa fünf war und es begann die »kleine Verborgenheit«. Diese Synchronizität birgt für die mystische Empfindung einen reichen Gehalt. Imām Hasan Askari stellt sich den Seinen als Symbol ihres spirituellen Auftrags dar. Das Kind seiner Seele wird an jenem Tag unsichtbar, an dem er diese Welt verlässt, und aus der Kraft dieses Kindes muss die Seele seines Adepten die Parusie gebären, d.h. »die Rückkehr zur Gegenwart«.
Der Gang in die Verborgenheit vollzieht sich in zwei Schritten. Die »kleine Verborgenheit« dauert 62 Jahre, während derer vier Stellvertreter des verborgenen Imām aufeinanderfolgen, durch die seine Schiiten mit ihm kommunizieren konnten. Den letzten dieser Stellvertreter, Alī Samarri, wies er in einem letzten Brief an, keinen Nachfolger zu wählen, weil nun die Zeit der »großen Verborgenheit« gekommen sei. Die letzten Worte seines letzten Stellvertreters lauteten: »Nun liegt die Sache in der Hand Gottes.« Von da ab beginnt die geheime Geschichte des zwölften Imām. Ohne Zweifel haben wir es nicht mit Tatsachen einer äußeren Geschichte zu tun. Da sie aber das schīitische Bewusstsein seit mehr als zehn Jahrhunderten dominiert, ist sie die Geschichte dieses Bewusstseins. Die letzte Botschaft des Imām hat dieses Bewusstsein wachsam gegen jede Hochstapelei gemacht, gegen jeden Versuch, seiner eschatologischen Erwartung, der Ankunft des Erwarteten, ein Ende zu setzen (dies war das Drama des Babismus und des Bahaismus). Der verborgene Imām wird bis zu seiner Parusie allein im Traum sichtbar oder in persönlichen Erlebnissen, die den Charakter visionärer Ereignisse haben (über solche gibt es zahlreiche Berichte), und deswegen lässt sich die »Zeit der Verborgenheit« nicht aufheben und sie wird sich auch nicht in den Gang der materiellen »objektiven« Geschichte fügen. Weil das Imāmat die Esoterik aller prophetischen Offenbarungen ist, muss der Imām sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft gegenwärtig sein. Er muss schon geboren sein. Die philosophische Meditation hat sich an der Bedeutung dieser Verborgenheit und der erwarteten Parusie bis in unsere Gegenwart abgearbeitet, namentlich in der Schule der Schaichi.
Die Vorstellung des verborgenen Imām hat die Meister dieser Schule dazu veranlasst, die Bedeutung und die Beschaffenheit dieser unsichtbaren Präsenz zu ergründen. Hier gewinnt die imaginative Welt eine neue grundlegende Funktion. Den Imām in der himmlischen Erde von Hūrqalyā zu sehen, heißt, ihn dort zu sehen, wo er in Wahrheit ist: in einer Welt, die zugleich konkret und übersinnlich ist, mit einem Organ, das fähig ist, diese Welt wahrzunehmen.
In gewisser Weise hat der Schaichismus eine Phänomenologie der Verborgenheit entwickelt. Eine Gestalt wie der zwölfte Imām erscheint und verschwindet nicht nach den Gesetzen der äußeren Geschichte. Es handelt sich um ein übernatürliches Wesen. Er repräsentiert dieselben tieferen Ahnungen, deren Ausdruck in einer bestimmten Strömung des Christentums die Idee des reinen geistigen Fleisches (caro spiritualis) Christi ist. Es hängt vom Menschen ab, ob der Imām ihm erscheinen kann oder nicht. Sein Erscheinen ist der Sinn der inneren Erneuerung des Menschen und in dieser liegt letztlich der tiefere Sinn der schīitischen Idee der Verborgenheit und der Parusie. Es sind die Menschen, die sich vor dem Imām verhüllt haben, weil sie die Fähigkeit verloren haben, ihn wahrzunehmen, weil sie die Organe der theophanen Wahrnehmung verloren oder paralysiert haben, die Organe jener »Erkenntnis des Herzens«, die von der Gnoseologie der Imāme definiert wird. Es hat demnach absolut keinen Sinn, von der Offenbarung des verborgenen Imām zu sprechen, solange die Menschen unfähig sind, ihn zu erkennen. Die Parusie ist kein Ereignis, das eines schönen Tages einfach plötzlich eintritt. Es handelt sich um etwas, was jeden Tag im Bewusstsein des gläubigen Schiiten geschehen muss. Hier ist es erneut die Esoterik, welche die Unbeweglichkeit des legalistischen Islam aufbricht, und ihre Adepten müssen sich in der aufwärts gerichteten Bewegung des Zyklus der Initiation üben.
In einem berühmten hadīth hat der Prophet erklärt: »Wenn die Welt nur noch einen Tag von ihrem Untergang entfernt wäre, würde Gott diesen Tag verlängern, bis sich ein Mensch aus meiner Nachfahrenschaft offenbaren würde, der meinen Namen und Vornamen trägt; er wird die Erde mit Frieden und Gerechtigkeit erfüllen, so wie sie bis dahin mit Gewalt und Unterdrückung angefüllt war.« Dieser Tag, der sich verlängert, ist die Zeit der Verborgenheit, und diese ausdrückliche Ankündigung ist zu allen Zeiten in allen denkbaren Abstufungen im schīitischen Bewusstsein auf Widerhall gestoßen. Die Spirituellen haben verstanden, dass die Ankunft des Imām den verborgenen Sinn aller Offenbarungen enthüllen wird. Sie wird den Triumph der esoterischen Auslegung darstellen, welcher der Menschheit erlaubt, zur Einigkeit zurückzufinden, so wie in der ganzen Zeit der Verborgenheit die Esoterik die Hüterin des Geheimnisses der wahren Ökumene ist. Deswegen konnte Sa’doddīn Hamūyeh, der große Sufischeich und iranische Schiit, erklären: »Der verborgene Imām wird nicht eher erscheinen, als bis man imstande ist, die Geheimnisse der esoterischen Auslegung bis in die Riemen seiner Sandalen hinein zu verstehen«, d.h. man muss die esoterische Bedeutung der göttlichen Einheit verstehen.
Dieses Geheimnis ist der erwartete Imām selbst, der vollendete Mensch, der ganze Mensch, »denn er ist es, der alle sprechenden Wesen und alle übrigen Dinge zum Leben erweckt und dadurch zur Schwelle der geistigen Welt wird.« Das künftige Erscheinen des Imām setzt also die Umwandlung der Menschenherzen voraus; es hängt von der Treue seiner Adepten, von ihren existentiellen Entscheidungen ab, ob diese Parusie sich fortschreitend verwirklicht. Daher die Ethik des geistigen Rittertums, dessen Idee das gesamte schīitische Ethos enthält, das Paradox seines Pessimismus, dessen Verzweiflung seine Hoffnung bekräftigt, weil seine Vision den Horizont der Metageschichte umfasst: die Präexistenz der Seelen und jene Auferstehung, welche die Umwandlung der Dinge ist, deren Vorausnahme schon die gesamte Ethik des alten zoroastrischen Iran bestimmt.
Bis zu diesem Zeitpunkt stellt die »große Verborgenheit« die Zeit einer unerkannten göttlichen Gegenwart dar, und weil sie unerkannt ist, kann sie nie zum Objekt, zu einer Sache werden, weswegen sie sich jeglicher Vergesellschaftung des Geistigen widersetzt. Aus dem selben Grund bleiben auch die Mitglieder der mystischen esoterischen Hierarchie verborgen, die dem Sufismus wohlvertraut sind, der – das darf man nicht vergessen – die schīitische Idee der Initiation voraussetzt. Denn diese Hierarchien entspringen in jenem, der den Pol der Pole darstellt, d.h. im Imām; sie betreffen jene Esoterik der Prophetie, deren Quelle der Imām ist. Auch wenn ihre Namen schon in den Unterhaltungen des vierten und fünften Imām auftauchen, und der erste Imām in den Unterredungen mit seinem Schüler Komayl die Sukzession der verbleibenden Gottesweisen von Jahrhundert zu Jahrhundert genau beschreibt, bleiben sie doch der Masse der Menschen verborgen. Später wird man von der Sukzession der Gnosis sprechen. Sie wird aus all jenen gebildet, die von Seth, dem Sohn Adams, bis zu den mohammedanischen Imāmen – zusammen mit all jenen, die sie als spirituelle Führer anerkannten –, die Esoterik der ewigen Prophetie weitergetragen haben. Aber ihr eigentliches Wesen gehört nicht der sichtbaren Welt an, die von den Widersachermächten beherrscht wird; sie bilden eine reine »Geistkirche« (ecclesia spiritualis); sie sind allein Gott bekannt.
Man sagt, der Prophet Mohammed sei, wie Mani, mit dem Parakleten identifiziert worden. Aber so wie es eine Analogie zwischen dem Siegel der Prophetie und dem Siegel der Initiation gibt, so hält die Imāmologie auch die Idee des Parakleten, als dessen, der kommen wird, aufrecht. Mehrere schīitische Autoren identifizieren den zwölften, erwarteten Imām, ausdrücklich mit dem Parakleten, dessen Ankunft im Johannes-Evangelium angekündigt wird, auf das sie sich auch beziehen. Dies tun sie deswegen, weil die Ankunft des Imām-Parakleten den Beginn der Herrschaft der rein geistigen Bedeutung der göttlichen Offenbarungen mit sich bringt, d.h. jener Religion, welche die ewige Initiation darstellt. Deshalb kündigt die Herrschaft des Imām auch die große Auferstehung an. Die Auferstehung der Toten, sagt Schams Lāhījī, ist die Voraussetzung dafür, dass am Ende das Ziel der gesamten Schöpfung erreicht wird. Unsere Autoren wissen, dass das Ende der Welt philosophisch denkbar ist; ihre Imāmologie widerlegt diese Möglichkeit. Der eschatologische Horizont des Iran blieb beständig, vor und nach dem Islam. Die schīitische Eschatologie wird von der Gestalt des Qā’im und seinen Gefährten beherrscht (so wie die zoroastrische Eschatologie vom Saoshyant und seinen Gefährten beherrscht wird). Sie trennt nicht die Vorstellung der »kleinen Auferstehung«, des individuellen Exodus, von der Idee der »großen Auferstehung«, dem Beginn des neuen Äons.
Was hat es mit der Identifikation des Imām und des Parakleten durch die schīitischen Denker auf sich? Diese Identifikation lässt eine eindrückliche Übereinstimmung zwischen der grundlegenden Idee des Schīismus und den gesamten philosophischen Strömungen des Abendlandes erkennen, die vom Joachimismus des 13. Jahrhunderts an bis in unsere Tage von der Idee des Parakleten geleitet wurden, und aus der Perspektive der Herrschaft des Heiligen Geistes gedacht und gehandelt haben. Wenn diese Tatsache einmal erkannt wird, könnte sie große Konsequenzen haben. Wie erwähnt, wird der erwartete Imām kein neues Buch der Offenbarung, kein neues Gesetz bringen, sondern den verborgenen Sinn aller Offenbarungen, weil er selbst als vollendeter Mensch diese Offenbarung aller Offenbarungen, die Esoterik der »ewigen prophetischen Wesenheit« ist. Der Sinn der Parusie des erwarteten Imām liegt in einer vollendeten Offenbarung des Menschen, dem vollständigen Aufblühen des inneren Menschen, der im Geist lebt. Das aber heißt zuletzt: die Offenbarung des göttlichen Geheimnisses, das vom Menschen angenommen wurde, die Offenbarung jener Last, die nach dem Koran (33:72) vom Himmel, der Erde und den Bergen zurückgewiesen wurde. Nun, wir haben gesehen, dass die Imāmologie von Anfang an diesen Vers als ihr eigenes Geheimnis, als das Geheimnis der Initiation betrachtet hat. Denn das göttliche Geheimnis und das Geheimnis des Menschen, des anthropos der mohammedanischen Esoterik, ist ein und dasselbe Geheimnis.
Dieser Text stellt die Fortsetzung und den Abschluss der erstmaligen deutschen Übersetzung aus Corbins »Geschichte der islamischen Philosophie« (1964) dar. Vorheriger Beitrag: Esoterik des Islam IV – Heilige Geschichte und Metageschichte.
Sehr verdienstvoll diese Texte. Hilfreich scheint mir der Hinweis, dass es weder einen separaten Himmel gibt für Christen noch für Anthroposophen, noch für Schiiten noch für Sunniten, sondern dies sind jeweils unterschiedliche Wege dorthin. Aus der Frosch-Perspektive mögen sie verschieden sein, jedoch nicht von einer höheren Warte aus. Je höher man steigt, umso deutlicher erschliesst sich die Einheit des Seins und damit die Einheit der Erkenntnis. Seyyed Hossein Nasr, ein kongenialer Kollege von Henry Corbin, plädiert deshalb für eine erweiterte Philosophie Perennis; eine kommentierte Fassung dazu als PDF bei: Rudolf_Steinmetz@web.de
Zu Seyyed Hosein Nasr und Henry Corbin siehe auch: Islamische Philosophie und iranische Revolution. Von Seyyed Hossein Nasr zu Henry Corbin und wieder zurück
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