Zuletzt aktualisiert am 19. März 2017.
Diese Erzählung stellt die zweite in einer Trilogie imaginativer Novellen Avicennas dar. Während die erste über »den Lebenden, den Sohn des Wachenden« von der Einladung berichtet, die ihm durch einen Engel zuteil wurde, sich in den Orient aufzumachen, schildert die vorliegende Erzählung, wie die im Okzident der diesseitigen Welt gefangene und fern von ihrer Heimat lebende Seele zu sich selbst erwacht und sich in Gestalt eines Vogels auf den Weg begibt. Bei ihrem Aufstieg überquert sie die Täler und Höhenzüge des kosmischen Berges Qāf. Der Vogel erreicht den Gipfel des Berges, aber seine Befreiung ist noch nicht endgültig. Er muss in den Okzident zurückkehren. Doch von nun an begleitet ihn der »Bote des Königs«, der Engel, auf seinem weiteren Lebensweg.
Prolog
Gibt es niemanden unter meinen Brüdern, der mir für kurze Zeit sein Ohr leihen mag, damit ich ihm einen Teil meiner Sorgen anvertrauen kann? Vielleicht könnte er brüderlich meine Bürde teilen. Denn die Freundschaft eines Freundes ist nicht rein, es sei denn, er bewahrt ihre Reinheit im Glück und Unglück vor aller Beschmutzung. Wo aber soll ich einen so reinen und treuen Freund finden, in einer Zeit, in der Freundschaft zu einem Handel geworden ist, und man nur zu ihr zurückkehrt, wenn die Not es gebietet, und man sich wieder abwendet, sobald die Not nachlässt? Nicht länger wird ein Freund besucht, außer Du wirst selbst vom Unglück heimgesucht; nicht länger erinnert man sich eines Freundes, außer die Notwendigkeit hat dein Gedächtnis aufgefrischt. Gewiss, es gibt Brüder, die durch ein und dieselbe göttliche Verwandtschaft verbunden sind, Freunde, die durch denselben Umgang mit dem, was über uns ist, vereint sind; ihr Auge der inneren Schau ist der wahren Wirklichkeit hingegeben; sie haben ihre Herzen von jedem Makel des Zweifels gereinigt. Solch eine Gemeinschaft von Brüdern kann allein durch den Boten der göttlichen Berufung zustande kommen. Sind sie auf diese Weise vereint? Dann mögen sie mein Vermächtnis empfangen.
Brüder der Wahrheit! Teilt euch eure Geheimnisse mit. Kommt zusammen und hebt den Schleier, der die Tiefen eurer Herzen voreinander verbirgt, auf dass ihr einander belehrt und durch euren gegenseitigen Beistand zur Vollendung findet.
Brüder der Wahrheit! Zieht euch zurück, wie der Igel, der in der Einsamkeit sein wahres Wesen offenbart und sein offenbares Wesen verbirgt. Gott sei mein Zeuge! euer verborgenes Wesen möge sich offenbaren und euer offenbares Wesen sich verbergen.
Brüder der Wahrheit! Legt eure Haut ab, wie die Schlange. Bewegt euch wie die Ameisen, deren Schritte niemand hört. Seid wie der Skorpion, der seine Waffe am Ende seines Schwanzes trägt, denn der Dämon versucht den Menschen hinterrücks anzufallen. Nehmt Gift zu euch, auf dass ihr am Leben bleibt. Liebt den Tod, auf dass ihr lebt. Seid stets auf der Flucht; lasst euch nicht in einem Nest nieder, denn alle Vögel werden im Nest gefangen. Wenn ihr keine Schwingen habt, so stehlt welche, erwerbt sie durch List, wenn nötig, denn am besten erleuchtet euch, was die Kraft besitzt, euch in die Höhe zu tragen. Seid wie der Vogel Strauß, der brennende Steine verschlingt. Seid wie die Geier, die die härtesten Knochen schlucken. Seid wie der Salamander, der sich in die Flammen stürzt, und sich in ihnen wohl fühlt. Seid wie die Fledermäuse, die nie am Tag aus ihren Höhlen kommen; wahrlich, die Fledermaus ist der vorzüglichste aller Vögel.
Brüder der Wahrheit! Der tapferste Mann ist jener, der es wagt, seiner eigenen Zukunft gegenüberzutreten; der größte Feigling ist jener, der es wagt, seine eigene Vervollkommnung hintanzustellen.
Brüder der Wahrheit! Es ist nicht überraschend, dass der Engel das Böse flieht, während das Tier Böses begeht, denn der Engel besitzt kein Organ der Verderbtheit, während das Tier kein Organ der Erkenntnis besitzt. Aber überraschend ist der Mensch, dem die Macht über seine bösen Begierden zuteil wurde und sich ihnen trotzdem unterwirft, obwohl doch das Licht des Geistes in ihm leuchtet. Aber wahrlich, dem Engel gleich wird jener, der seinen bösen Begierden widersteht. Der aber, dessen Kraft nicht ausreicht, um die bösen Begierden zu vertreiben, der erhebt sich nicht einmal auf die Stufe eines Tieres.
Und nun, lasst uns zu meiner Erzählung kommen und euch meine Sorgen mitteilen.
Erzählung
Wisset, o Brüder der Wahrheit, dass eine Jagdgesellschaft in die Wüste aufbrach. Die Jäger breiteten ihre Netze aus, stellten ihre Fallen auf und versteckten sich im Gebüsch. Ich selbst, ich gehörte zu einem Schwarm von Vögeln. Als die Jäger uns entdeckten, versuchten sie, uns durch liebliches Pfeifen anzulocken, so dass uns Zweifel kamen. Wir wurden neugierig; wir sahen einen angenehmen, lieblichen Ort und wussten unsere Gefährten an unserer Seite. Wir fühlten uns nicht unwohl und keinerlei Verdacht hielt uns ab, auszuschwärmen. So eilten wir dem Ort entgegen und plötzlich schnappten die Fallen zu. Die Maschen umschlossen unsere Nacken, die Fäden wickelten sich um unsere Flügel, die Schnüre schlangen sich um unsere Füße. Jeder Versuch, uns zu befreien, zog unsere Fesseln enger und ließ unsere Lage verzweifelter werden.
Schließlich gaben wir uns verloren; ein jeder von uns dachte nur an seine eigenen Schmerzen und nahm die seines Bruders nicht mehr wahr. Wir versuchten nur, ein Schlupfloch zu finden, um uns selbst zu befreien. Und am Ende vergaßen wir, wie sehr wir gefallen waren. Am Ende verloren wir das Bewusstsein, gefesselt zu sein und in einem engen Käfig zu sitzen und ergaben uns erschlafft unserem Schicksal.
Aber eines Tages geschah es, dass ich durch die Maschen des Netzes hindurchsah. Ich sah eine Gruppe von Vögeln, die ihre Köpfe und Flügel aus dem Käfig befreit hatten, und bereit waren, davonzufliegen. Aber an ihren Füssen hingen immer noch Schnüre, die nicht so fest waren, dass sie sie am Fliegen hinderten, aber auch nicht so lose, dass sie ihnen ein heiteres, unbeschwertes Leben erlaubten. Als ich sie sah, erinnerte ich mich an meinen früheren Zustand, den ich völlig vergessen hatte, und der Anblick meiner einstigen vertrauten Gefährten ließ mich nur umso mehr die verzweifelte Lage empfinden, in der ich mich befand. Oh, würde ich doch an meiner Trauer sterben, dachte ich, o könnte doch meine Seele durch den bloßen Anblick ihrer Flucht lautlos aus ihrem Körper schlüpfen!
Ich rief ihnen aus den Tiefen meines Käfigs zu: »Kommt zu mir! Lehrt mich die List, die mich befreit, habt Mitleid mit meinem Leid, denn wahrlich, ich bin am Ende meiner Kräfte.« Aber sie gedachten der Fallen und Listen der Jäger; meine Schreie ließen sie erschaudern und sie strebten von mir fort. Da beschwor ich sie im Namen der ewigen Bruderschaft, der makellosen Gemeinschaft, des unverbrüchlichen Bundes, meinen Worten zu vertrauen und den Zweifel aus ihrem Herzen zu vertreiben. Und so kam sie zu mir.
Als ich sie über ihren Zustand befragte, ermahnten sie mich wie folgt: »Wir waren Gefangene desselben Leidens, an dem du leidest; wir kannten die Verzweiflung wie du; auch wir lernten Sorgen, Angst und Schmerz kennen«. Darauf wandten sie ihre Behandlung an mir an. Die Schnur fiel von meinem Nacken; meine Flügel wurden von ihren Fesseln befreit; die Tür meines Käfigs wurde geöffnet. Sie sagten: »Mach das Beste aus deiner Befreiung!« Aber wieder flehte ich sie an: »Befreit mich auch von der Schnur, die um meine Füße gewickelt ist«. Sie antworteten: »Läge es in unserer Macht, so hätten wir mit der Schnur begonnen, die deine Füße beschwert. Wie können Kranke die Kranken heilen?« Da erhob ich mich aus dem Käfig und flog mit ihnen fort.
Sie sagten: »Weit weg, direkt vor uns, liegt ein gewisses Land; du wirst nicht vor allen Gefahren sicher sein, bevor du nicht das ganze Gebiet durchquert hast, das dich von ihm trennt. Folge uns also, damit wir dich retten und dich auf dem rechten Weg zu jenem Ort führen können, an den du gelangen möchtest«.
Unser Flug führte uns zwischen den Flanken eines Berges hindurch, durch ein grünes, fruchtbares Tal. Wir flogen freudig dahin, bis wir alle Fallen hinter uns gelassen hatten, ohne auf das Locken irgendeines Jägers zu achten. Endlich erreichten wir den Gipfel des ersten Berges, von dem aus wir acht weitere Berge erblickten[1], die so hoch waren, dass das Auge sie nicht sehen konnte. Wir sagten zueinander: »Lasst uns eilen! Womöglich sind wir nicht außer Gefahr, bevor wir nicht diese Berge sicher überflogen haben, denn bei jedem mag eine Jagdgesellschaft lauern, die uns zu fangen versucht. Wenn wir sie beachten und dem Zauber ihrer Annehmlichkeiten und dem Frieden ihrer Orte erliegen, werden wir vielleicht niemals ankommen«.
Mit großer Mühe überflogen wir sechs Berge und gelangten zum siebenten.[2] Als wir seine Grenzen hinter uns gelassen hatten, sagte einer von uns: »Ist es nicht Zeit, zu ruhen? Wir sind müde geworden und haben die Jäger weit hinter uns gelassen, denn wir haben einen langen Weg zurückgelegt. Eine Stunde Rast wird es uns erleichtern, unser Ziel zu erreichen, wogegen wir vielleicht abstürzen, wenn wir weiterfliegen«. So hielten wir auf dem Gipfel des Berges inne. Um uns breiteten sich grüne Gärten, wunderschöne Paläste und bezaubernde Pavillons aus; es gab Fruchtbäume und Ströme lebendigen Wassers. So viel Schönheit erfrischte unsere Augen! Unsere Seelen waren bewegt, unsere Herzen ergriffen ob all der Schönheit. Und wir hörten lieblichen Gesang, rauschende Musik. Wir atmeten Düfte ein, an die nicht einmal das erlesenste Ambra oder der edelste Moschus heranreicht. Wir sammelten Früchte und stillten unseren Durst in den Strömen lebendigen Wassers und verweilten so lange, bis wir wieder bei Kräften waren. Dann sagten wir zueinander: »Lasst uns eilen! Keine Falle ist so gefährlich wie falsche Sicherheit; es gibt keine Sicherheit außer in der Wachsamkeit, keine bessere Festung als warnenden Argwohn. Wir verweilten schon viel zu lange hier. Länger zu bleiben, wäre gefährlich. Unsere Feinde sind uns auf der Spur, auf der Suche nach dem Ort, wo sie uns fangen könnten. Lasst uns aufbrechen!«
So sagten wir diesem Ort ab. Auch wenn er lieblich war, wog unsere Rettung doch mehr. Nachdem wir uns geeinigt hatten, aufzubrechen, rissen wir uns von ihm los und wir gelangten endlich zum achten Berg.[3] Sein Gipfel war so hoch, dass er sich im Firmament verlor. Vögel bevölkerten seine Abhänge; noch nie hatte ich so rauschende Musik gehört, solch leuchtende Farben und anmutige Formen gesehen und so süße Gefährten erlebt. Als wir bei ihnen angekommen waren, behandelten sie uns mit solcher Anmut, Umsicht und Großzügigkeit, dass nichts Geschaffenes sie beschreiben oder begreiflich machen könnte.[4] Als wir vollkommen mit ihnen vertraut waren, erzählten wir ihnen von den Leiden, die wir erduldet hatten. Sie nahmen den größten Anteil daran. Dann sagten sie zu uns: »Jenseits dieses Berges befindet sich eine Stadt, in welcher der höchste König residiert. Wenn jemand, der bedrückt ist, bei ihm Zuflucht sucht und sich ihm vollkommen anvertraut, dann befreit er ihn durch seine Kraft und Hilfe von aller Ungerechtigkeit und allem Leid«.
Ihren Erzählungen vertrauend, beschlossen wir, die Stadt des Königs aufzusuchen. Wir gelangten an seinen Hof und warteten auf eine Audienz. Schließlich wurde der Befehl erteilt, ihm die Neuankömmlinge vorzustellen und wir betraten sein Schloss. Wir fanden uns in einer Umfriedung wieder, deren Weite unbeschreiblich war. Nachdem wir sie durchquert hatten, wurde vor uns ein Vorhang hochgezogen, und wir erblickten einen Saal, der so groß war und so sehr leuchtete, dass wir den ersten Hof vergaßen, oder besser, der vorige schien uns im Vergleich mit diesem nicht der Erwähnung wert. Endlich erreichten wir den Gebetsraum des Königs. Als der letzte Vorhang beiseite gezogen war und wir der strahlenden Schönheit des Königs gegenüberstanden, waren unsere Herzen gefesselt und von einem Staunen erfüllt, das uns daran hinderte, unsere Klagen in Worte zu fassen. Er aber, der unsere Schwäche erkannte, stellte unser Selbstvertrauen durch seine Leutseligkeit wieder her; sodass wir Mut fassten, zu sprechen und ihm unsere Geschichte zu erzählen. Darauf sagte er zu uns: »Niemand vermag die Fesseln an euren Füßen zu lösen, als jene, die euch gebunden haben. Nun will ich ihnen einen Boten senden, der ihnen auferlegt, euer Begehr zu erfüllen und eure Fesseln zu lösen. Geht also, glücklich und zufrieden!«
Epilog
Woraufhin meine Brüder mich drängten, und mich baten, ihnen von der Schönheit des Königs zu erzählen. Ich werde sie mit einigen wenigen, aber ausreichenden Worten beschreiben. So höret denn: Was für eine Schönheit auch immer du in deinem Herzen trägst, ohne Beimischung des geringsten Makels, welche Vollkommenheit auch immer du dir vorstellst, die unberührt sein mag von irgendeinem Mangel – bei diesem König fand ich all das in vollkommenster Ausprägung. Denn er ist alle Schönheit im wahren Sinn dieses Wortes; jegliche Unvollkommenheit, auch nur im Sinne einer Metapher, ist ihm fremd. Durch seine Schönheit ist er ganz Antlitz, das Du beschauen möchtest; durch seine Großzügigkeit ist er ganz Hand, die schenkt. Wer immer sich ihm nähert, findet die höchste Wonne; wer immer sich von ihm abwendet, hat diese Welt verloren und die Welt, die da kommen wird …
Wie viele meiner Freunde werden, kaum, dass diese Erzählung an ihre Ohren geklungen ist, zu mir sagen: »Ich sehe, dass du ein wenig neben dir stehst, sofern du nicht vollkommen verrückt geworden bist. Komm schon! Nicht du bist geflogen; deine Vernunft hat diese Reise unternommen. Kein Jäger hat dich jemals gefangen genommen; allein deine Vernunft wurde erjagt. Wie könnte ein Mann auch fliegen? Und wie könnte ein Vogel sprechen? Wahrlich, man könnte sagen, dass die Galle in deinen Säften übergeflossen ist und dass sich Trockenheit in deinem Gehirn ausgebreitet hat. Eine Diät wird dir helfen: trink einen Thymianaufguss, nimm regelmäßig heiße Bäder, gieß warmes Wasser über deinen Kopf, inhaliere das Öl der Wasserlilie. Dann mach eine leichte Diät, vermeide zu langes Sitzen, und vor allem, überanstrenge deinen Geist nicht. Denn wir kennen dich als einen vernünftigen Mann, mit einem gesunden, durchdringenden Urteilsvermögen. Gott allein weiß, wie sehr wir um dich besorgt sind. Wenn wir dich so verwirrt sehen, dann fühlen wir uns selbst ganz krank!«
Oh, was für eine Verschwendung von Worten! und mit welch erbärmlichem Resultat! Die schlimmste Art von Unterhaltung ist dieses Geschwätz, mit dem die Leute ohne allen Grund so freigiebig sind. Gott sei meine Zuflucht; gegenüber Menschen meine Freiheit. Wer sich zu einem anderen Glauben bekennt, wird sein Leben verlieren in der Welt, die kommt und in der unsrigen ebenso, »denn jene, die als erste angreifen, werden eines Tages begreifen, durch was für einen Umsturz sie gestürzt werden«.[5]
Kommentar
Auch diese Erzählung hat Corbin kurz kommentiert. Hier ein Auszug.
Was unterscheidet die »Erzählung vom Vogel« von der ersten über den »Lebenden, den Sohn des Wachenden«? Der Pass der Initiation wurde überschritten. Der Vogel muss sich in einen Bewusstseinszustand erheben, in dem er seine Fesseln als unerträglich empfindet, und sich mit Hilfe seiner Brüder, die ihn erst dann als solchen erkennen, von diesen Fesseln befreien. Und diese Befreiung kann nicht mit Hilfe noch so voluminöser philosophischer Werke erfolgen, genau dies bezeugen die imaginativen Erzählungen Avicennas.
Die ergreifenden Beschwörungen des Prologs sind im Rückblick nach dem eigentlichen Ereignis verfasst. Die Brüder der Wahrheit werden angesprochen; sie sollen das Vermächtnis entgegennehmen. Vergleichen wir den Prolog mit einer Episode der Erzählung selbst: der Vogel bittet seine Brüder um Hilfe, aber sie lassen nicht von ihrem Misstrauen ab und stehen ihm auch nicht bei, solange der Gefangene sie nicht im Namen der initiatorischen Bruderschaft anruft. Nachdem der erste Gipfel erreicht ist, der der Sphäre des Mondes entspricht, eröffnet sich der Ausblick auf acht weitere Gipfel, die den neun Sphären entsprechen, die sich an jene des Mondes anschließen. Die Vögel überqueren sechs weitere Gipfel, bis sie zum Saturn gelangen, und dort sehen sie den siebenten nach dem ersten, von dem aus sie bereits den kosmischen Berg, den gesamten himmlischen Orient, erblickt hatten. Der achte Himmel ist der Fixsternhimmel und über ihm erhebt sich der letzte Berg, der neunte Himmel.
Der Gipfel dieses letzten Berges verschwindet im Firmament, denn diese Region hat keine Grenze. Hier erhebt sich die Stadt der Geist-Engel, der Erzengel-Cherubim. Ihre leuchtende Schönheit und ihre süße Liebe können Worte nicht beschreiben. Der Vogel Avicennas hält sich aber nur als Besucher in dieser himmlischen Welt auf. Er muss in die irdische zurückkehren. Aber von nun an hat sich durch die Zustimmung zur Aufforderung des Engels: »Folge mir nach« alles verändert. Der Pilger ist nicht mehr der einsame Wanderer, er ist nicht mehr der Philosoph, der nur vom System seiner Gedanken umgeben ist, denn von nun an wird er vom »Boten des Königs« begleitet. Die Botschaft der Erzählung vom Vogel fasst der letzte Satz zusammen.
Was heißt es, in Begleitung des Boten des Königs unterwegs zu sein? Denken wir an den edlen Boten, den Rasūl Karīm, als der der Erzengel Gabriel, der Bote der göttlichen Offenbarung, im Koran bezeichnet wird. Nun, es ist derselbe Engel, den die Philosophen mit der aktiven Intelligenz (des Mondes) identifizieren, und den letzteren erlebt der Schauende in Gestalt Hadsch ibn Jaqzāns. Dieser ist eine Individualisierung des Boten, des Engels des Philosophen, sein »vollendetes Wesen«, zugleich Engel der Offenbarung und der Erkenntnis, da die Vereinigung mit ihm jeden Mystiker zum »Siegel der Prophetie« macht. Der Engel hat seinen Schüler eingeladen, ihm zum König zu folgen, dessen Schönheit einzigartig ist. Indem er ihm folgt, erhält er Zutritt zum geheimen Gebetsraum des Königs und indem er dessen Gebetsraum betritt, ist er fortan der Gefährte des Engels. Diese Gegenseitigkeit beschreibt in Form einer persönlichen Beziehung, die hinfort gelebt wird, das Verhältnis, das die Erkenntnislehre als jenes zwischen der aktiven Intelligenz und den Seelen charakterisiert, die von ihr durch die intelligiblen Formen erleuchtet werden, die sie in sie einstrahlt, sofern sie sich dazu aufschwingen, sie in Empfang zu nehmen. In seiner Begleitung zu wandern bedeutet, sich mehr und mehr dieser Erleuchtung, den herabströmenden Formen, der Pädagogik des Engels zu öffnen, durch die er den bloß virtuellen Engel zu einem wirklichen macht. Der virtuelle, irdische Engel ist das anschauende Denken (intellectus contemplativus), jener Engel, der in der letzten der drei Erzählungen seinen eigenen persönlichen Namen – Absāl – erhält. Und ebendies bedeutet, »in den Orient zu gehen«, die orientalische Philosophie zu praktizieren. Von nun an wandern Tobias und der Engel, Hadsch ibn Jaqzān und Absāl gemeinsam Richtung Orient, als ewige Gefährten eines Schicksals. Der Eintritt in den Orient – die Ankunft bei der königlichen Heiligkeit der Heiligkeit jenseits des neunten Himmels – war nur vorübergehend, eine Verheißung und Vorausnahme. Sie ist der Beginn der »himmlischen Pädagogik«, nicht die letzte Stufe, von der die Seele nicht mehr zurückkehrt. Von dieser letzten Stufe, der Vollendung des mystischen Weges handelt die dritte Erzählung.
Übersetzung aus der englischen Version des Buches von [amazon_textlink asin=’0691600708′ text=’Henry Corbin, Avicenna and the Visionary Recital‘ template=’ProductLink‘ store=’anthroblog-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’04b0f655-0ccb-11e7-a56e-37ea5bc84e12′], Princeton 1960 durch Lorenzo Ravagli.
Anmerkungen
[1] Der erste Gipfel ist die Sphäre des Mondes. Der Weltenberg Qāf besteht insgesamt aus neun Gipfeln.
[2] Also zum siebenten nach dem ersten. Der Gipfel entspricht dem achten Himmel, der Sphäre der Fixsterne.
[3] Dem neunten Himmel.
[4] Die befreite Seele findet ihre himmlische Familie wieder.
[5] Koran, XXVI, 227. Dieser Schluss enthält vielleicht das ganze Geheimnis des Autors. Avicenna war sich der Tatsache bewusst, dass sein Flug in den Orient nicht die Sache eines »vernünftigen Mannes« war. Seine spirituelle Erfahrung weist über jene Vernunft hinaus, die ihn am Ende seiner Erzählung so beredt zur Besinnung ruft.
Mir dünkt schon, daß hier Avicenna ein wenig selbst zum Jäger geworden ist. Das sollte jedoch nicht verwundern, denn werden wir nicht alle mehr oder weniger zu Jägern? Die Gejagten werden zu Jägern und die Jäger werden zu den Gejagten. Das Schicksalsrad dreht sich immerfort.
Der immer so wunderschön leuchtenden König, wer ist denn der? Dieser König wohnt doch selbst in einer Welt. Unbeschränkte Macht hat er auch nicht. Luzifer, der Morgenstern? Es mag ja sein, daß dieser König gute Arbeit leistet, aber er wird stets als das Höchste Wesen dargestellt. Doch das kann nicht ehrlich sein. Das ist Luzifer.
Doch Luzifer sagt zum Teil die Wahrheit, daß die übrig gebliebenen Fesseln an den Füßen nur von den Jägern hinweggenommen werden können. Das ist zum Teil richtig. Nur zum Teil.
Ich kenne Avicenna nicht, bin auch in islamischer Religionslehre nicht bewandert, aber ich verstehe das was dieser gute Mann erzählt. Mir gefallen diese Erzählungen und Geschichten sehr, die mehr sind als Erzählungen und Geschichten.
Man müsste Avicenna fragen, was er damit meinte, daß man nicht zu einem anderen Glauben wechseln soll. Hier wird Avicenna zum Jäger. Meine Überzeugung ist jene, daß der Mensch niemals an ein festes Glaubenssystem gebunden sein soll. Wenn Avicenna aber davon spricht, so legt er den Menschen eine Fußfessel an und macht sie so zu Gejagten und Gefangenen. Was ist hier los?
Die Einleitung lässt mich vermuten, daß Avicenna schon älter geworden ist und viel Erfahrung im Leben gesammelt hatte, die oft nicht gerade positiv waren. Fast alle Menschen, die Erleben, suchen nach Strohhalmen oder Schiffen, an denen sie sich festklammern können um vermeintliche Sicherheit zu erhalten. Ein festes Glaubenssystem ist solch eine Titanic, ein scheinbar unsinkbares großes Schiff modernster Technik, Ingenieurskunst und Geisteskraft.
Ein kleiner Eisberg oder ein mickriger Torpedo hat noch jedes Schiff versenken können. Es gibt keine sicheren Strohhalme oder Schiffe. Und was lehrt uns das Neue Testament dazu?
Der Meister hat sich von der Notwendigkeit eines Bootes befreit und wandelt selbst im stürmischen Meer und zwingt es sogar zur Ruhe wenn es notwendig sein sollte. So ist das. Der Mensch selbst hat alles zur Verfügung um im Leben ohne Schaden zu bestehen. Er muß aber einiges dazu kapieren und richtig Denken, Sprechen und Tun. Sonst geht er eben unter, so wie es dem Petrus ergangen ist, der Vieles nicht kapiert hat.
Wobei wir natürlich darauf bedacht sein müssen, daß die Geschehnisse und Personen im Neuen Testament nur eine geschickte und ausgeklügelte Konstruktion sein könnten. Viele Hinweise lassen das vermuten. Die Menschen lieben es, wenn sie sagen können: „Da gab es mal den oder jenen, der hat dies und das erlebt“. Auch oft beschriebene Visionsbilder sind keine Beweise für irgend eine Wahrheit, denn alle Visionsbilder haben eine Gemeinsamkeit: die Bilder und Worte in der Vision sind immer sehr eng an die eigenen Lebenserfahrungen und an das Gelernte geknüpft.
Das ist kein Problem für mich. Es muß aber beachtet werden, damit man versteht, daß jede Vision niemals rein objektiv sein kann. Und desshalb darf man sich von Visionen keine Fesseln anlegen lassen, sonst werden die Visionen zum Netz des Jägers in dem sich die Menschen ihre Flügel verheddern.
Übrigens will ich noch erwähnen, daß mir diese Artikel helfen, wieder entgegenkommendere Gedanken gegenüber den Menschen zu haben, die den Islam leben wollen. Ich war immer bereit jede Religion zu akzeptieren und sogar zu respektieren und zu ehren, wenn diese Religion sich wahrlich bemüht das Leben zu ehren und dem Leben zu dienen. Fanatiker egal welcher Religion trüben diese Offenheit natürlich. Ebenso wird diese Offenheit durch Lügen getrübt, die in den jeweiligen Religionslehren von den Klerikern weitergegeben werden. Dennoch lehne ich eine Islamisierung Europas natürlich aus verschiedenen Gründen ab. Aber ich höre gerne zu und lerne auch gerne vom Islam.
Übrigens, die Jesuiten lehren es ja in ihrem eigentlich geheimen Verhaltenscodex: auch der Verlust von Offenheit, der Argwohn, das Mißtrauen, der Protest sind Fesseln, die nicht nur von den Jesuiten gerne genutzt werden. Man kann alles nachlesen wenn man ein wenig sucht.
Zum Abschluß noch ein Wort zum in weiten Kreisen stärker werdenden Interesse an den alten germanischen Glaubenslehren, weil ich darüber soeben etwas gesehen habe. Dort wurde erklärt, die alten Germanen glaubten nicht an eine Hölle, sondern an eine Art Taverne in der sich die Gefallenen treffen und versammeln, bis sie erneut ausziehen um den Weg der Ahnen mit einem neuen Leben weiterzuführen. Dies sind natürlich für viele Menschen tröstende Worte, da sie Angst vor schrecklichen Orten im Jenseits hinwegfegen.
Doch auch hier können wir ganz klar die kaum erkennbaren Fußfesseln der Jäger erkennen. Das Böse war schon immer daran interessiert, die Folgen der Bosheit oder der Abkehr vom Dienst am Leben allgemein zu verschleiern. Die Taktik der Verschleierung wird dabei sehr geschickt ausgetüftelt und ausgesät.
Umso ehrenwerter ist die Erklärung von Avicenna in Bezug auf die Wesensarten von Mensch und Tier. Die Erklärung dieses ehrenwerten Mannes mit dem Namen Avicenna ist excellent und absolut korrekt.