Über die Selbsterkenntnis der Seele und des Geistes – II

Zuletzt aktualisiert am 25. März 2016.

Auf dem Weg zum Einen

Auf dem Weg zum Einen

Im zweiten Teil der Enneade V, 3 versucht Plotin († 270) die Beziehung des Geistes (nous) und des Einen (hen) zu bestimmen. Wie ist der Geist, der Vieles und zugleich Eines ist, zu denken und wie unterscheidet sich jenes Eine, das nicht Vieles ist, von ihm? Kann man überhaupt etwas über dieses Eine aussagen oder macht man es dadurch nicht zu einem Vielen, zieht es also auf die Ebene des Geistes herab? Wie kann man es, wenn es über dem Denken steht, dennoch erfassen? Es muss eine unmittelbare Erfahrung davon geben, die der Erleuchtung vergleichbar ist, die aber, sobald sie begriffen wird, die Form des Denkens annimmt. Und wie geht das Viele aus dem Einen, dem Urgrund von Allem, hervor, ohne dass es bereits als Vieles in ihm enthalten ist? – Plotins Untersuchung bezieht sich sowohl auf die Erfahrung des Geistes in der Bewusstseinsseele als auch auf die Beziehung des überkosmischen Einen zum kosmischen Nous. Erstere verhält sich zur letzteren wie ein Abbild zum Urbild. Die Nähe der seelischen und geistigen Bewegungen, die Plotin durchlebt, zum Nirmanakaya des Buddha ist gleichsam mit Händen zu greifen. – Übersetzung Lorenzo Ravagli.

10. Soviel dazu. Gäbe es aber nur das Geschaffene, so wäre dies nicht das letzte. Oben im Geiste ist das Schaffende das Erste, daher heißt es auch das Erste. Folglich muss es auch das Schaffende sein, und beide müssen Eines sein, wenn nicht, müsste es noch ein anderes geben. Wie aber? Bräuchte es dann nicht wieder ein anderes, das jenseits von diesem läge? Oder dies ist eben der Geist. Wie aber? Sieht es nicht sich selbst? Nun, dieses Andere bedarf nicht des Sehens.

Darüber an späterer Stelle. Nun aber wollen wir nochmals einen neuen Anlauf nehmen – denn es ist wahrlich »nichts Geringes«, was wir erforschen – und betonen, dass der Geist des Sichselbstsehens bedarf, vielmehr dieses Sichselbstsehen ist, erstens, weil er vieles ist, zweitens, weil er zu einem anderen gehört, und dass er notwendig Sehender ist, und zwar Sehender jenes Anderen, und dass sein Wesen das Sehen ist. Denn das Sehen muss sich auf etwas anderes richten, sonst ginge es ins Leere. Der Geist also muss vieles und nicht Eines sein, damit es ein Sehen geben kann, und das Sehen muss mit dem Gesehenen zusammenfallen, und das, was sich selber sieht, muss Vieles sein. Denn das Eine hat kein Vieles in sich, auf das es einwirken könnte, sondern es muss »einsam und allein« sein, wenn es in sich ruhen soll. Denn was wirkt, wirkt stets auf ein anderes. Wenn es kein anderes gäbe und wieder ein anderes, worauf sollte sich dann das Schaffen richten? Oder wohin sollte es aus sich heraustreten? Deswegen muss das Wirkende auf ein anderes wirken, oder es muss vieles sein, wenn es auf sich selbst wirkt. Wenn es aber nicht in ein anderes heraustritt, dann ruht es in sich; wenn es aber vollkommen in sich ruht, dann denkt es nicht. Folglich muss das Denkende, wenn es denkt, ein Zweifaches sein (entweder eines ist außerhalb oder beide sind in einem vereint), und das Denken muss ewig in der Andersheit (Differenz, heterotēs) sein, aber notwendig auch in der Selbigkeit (Identität, tautotēs). Und was im eigentlichen Sinne gedacht wird, muss für den Geist sowohl es selbst wie auch ein anderes sein. Und jedes einzelne Gedachte trägt diese Identität und Differenz zugleich in sich. Denn was sollte es denken, wenn es nicht das eine und das andere gäbe? Auch jeder einzelne samenhafte Logos ist ein Vieles. So erfasst es sich selbst wie ein vielgestaltiges Auge, das viele Farben sieht. Wenn es nämlich auf etwas Einförmiges oder Formloses blickte, wäre es sprachlos, denn was sollte es darüber sagen, was daran erfassen? Dieses Gestaltlose müsste selbst sagen, was es ist, zuvor aber, was es nicht ist, damit wäre es aber bereits vieles, um eines sein zu können. Und sagte es: »Ich bin dies«, dann wäre das »Dies« ein von ihm Verschiedenes und es würde lügen. Und wenn es ihm als Eigenschaft anhaftet, dann wäre es vieles, es könnte also nur sagen: »Ich bin, Ich bin« (eimi, eimi) oder »Ich, Ich« (egō, egō) (Das griechische Verb »eimi« – »Ich bin« enthält das Personalpronomen in sich. »Egō eimi ho egō« heißt wörtlich: »Ich, ich bin das Ich«). Wenn es aber nur zwei Wesen gäbe und das eine sagte: »Ich bin dies«? Nun, auch dann müsste es notwendig vieles geben, denn es spräche von Verschiedenem und es gäbe die Kluft des Verschiedenen und die Zahl und vieles andere.

Das Denkende muss also Verschiedenes sein und verschiedenes erfassen und das Gedachte, da es gedacht wird, muss vieles sein. Sonst könnte es kein Denken des Denkens geben, sondern höchstens ein wortloses und begriffsloses Zeigen und Anfassen, das dem Denken vorausginge, bevor es das Denken gibt, und ohne dass das Zeigende denkt.

Das Denkende darf aber auch nicht völlig alleine bleiben, umso weniger, als es sich selbst denkt, denn dann muss es in sich selbst auseinandertreten – auch wenn es sich nur schweigend selbst erfasst. Jenes Eine aber muss sich nicht in vielerlei Tätigkeiten ergehen – was könnte es auch lernen, wenn es sich selber denkt? Existierte es doch bereits vor allem Denken für sich selbst. Ist doch das Erkennen so etwas wie eine Sehnsucht, oder wie das Finden eines Suchenden. Das vollkommen Andersartige hingegen bleibt es selbst für sich selbst, und sucht nichts über sich herauszufinden. Was sich aber aus sich selbst entfaltet, ist eben auch Vieles.

11. Deswegen ist der Geist auch vieles, wenn er Jenes zu denken sucht, nicht aber Jenes selbst, denn wenn er es als Einfaches zu erfassen sucht, dann ergreift er es immer schon als ein Anderes, das sich in ihm in seiner ganzen Fülle vervielfältigt. Er macht sich zu jenem nicht als Geist auf, sondern wie ein Sehen, das noch nichts sieht, und kommt von ihm, die ganze Fülle in sich tragend, zurück. Er verlangt nach einem Anderen, von dem er erst ein unbestimmtes Phantasma (eine Vorstellung) in sich trägt, und kommt mit einem Anderen zurück, das er nun in sich trägt und zu einem Vielen gemacht hat. Das Sehen trägt nun ein Abbild des Gesehenen in sich – sonst hätte es in ihm nicht Gestalt annehmen können – und auf diese Weise ist aus dem Einen Vieles geworden, und so erkannte es das Gesehene im Sehen und so wurde das Sehen sehend. Indem das Sehen nun jenes Abbild in sich trägt, ist es Geist und trägt es als Geist in sich, zuvor aber war es nur ein Verlangen und ein ungestaltetes Sehen. So also ergriff der Geist jenes (Eine) und wurde Geist, indem er es erfasste, Geist, der immerwährend Gestalt annimmt und Geist, Wesen und Denken wird, wenn er denkt. Davor aber war er nicht Geist, da er noch keinen Gegenstand hatte, und weil er noch nicht dachte. Was aber vor all diesem liegt, ist der Urgrund (archē) von all diesem, nicht als in ihm Enthaltenes – denn der Urgrund wohnt nicht den Dingen inne –, sondern als das, woraus sie hervorgegangen sind. Das aber, woraus jedes Einzelne hervorgeht, ist selbst kein solches Einzelnes, sondern ein vollkommen Anderes. Es ist also nicht Eines unter Allen, sondern eins vor Allen. Daher auch vor dem Geist. Nun ist aber der Geist alles, daher muss jenes vor dem Geist sein. Und wenn das nach ihm Kommende der Ordnung angehört, die alles enthält, dann muss es auch vor dieser Ordnung sein. Es darf ja auch nicht eines von diesen Dingen sein, muss also vor dem Seienden sein. Daher darfst du es auch nicht Geist nennen, auch nicht das Gute, wenn das Gute eines von diesen Dingen sein soll, wenn es aber das vor Allem Liegende ist, dann kannst du es so nennen. Wenn nun der Geist vieles ist und das Denken, obwohl es aus jenem stammt, sich gleichsam dazwischen drängt und mit Vielheit erfüllt, dann muss das vollkommen Einfache und Erste vor Allem gänzlich anders als der Geist sein. Denn wenn es dächte, wäre es nicht jenseits des Geistes, sondern Geist. Wenn es aber Geist wäre, müsste es selbst Fülle der Vielheit (plēthos) sein.

12. Was aber könnte es daran hindern, auf solche Art Fülle der Vielheit zu sein, dass es zugleich nur ein Wesen ist? Wenn man nämlich die Fülle nicht als Zusammengesetztes denkt, sondern als Fülle von Wirkmöglichkeiten? Aber wenn seine Wirkmöglichkeiten nicht ihrerseits wirkende Wesen sind, sondern es erst von der Möglichkeit zur Wirksamkeit voranschreiten muss, dann wäre es zwar nicht Fülle der Vielheit, aber unvollkommen, da es sich erst als Wesen verwirklichen müsste. Wenn aber sein Wesen Wirksamkeit wäre, seine Wirksamkeit aber Fülle der Vielheit, dann wäre dieses sein Wesen eben jene Vielheit, die es in seinen Kräften offenbart. Dies mag für den Geist gelten, dem wir das Denken seiner selbst zugesprochen haben, nicht jedoch für den Urgrund aller Dinge. Vor dem Vielen muss vielmehr das Eine sein, aus dem das Viele hervorgeht. Vor allen Zahlen steht das Eine als Erstes. Über die Zahlen sagt man dies: alle Folgenden ergeben sich aus der Zusammensetzung der ersten. Warum aber besteht bei dem vielen Seienden die Notwendigkeit, dass ihm das Eine vorangeht, aus dem das Viele entsteht? Nun, das Viele wäre zerstreut, wenn es aus vielem Verschiedenem käme, ein jedes käme aus einem anderen und verbände sich nur zufällig zu einem Ganzen. Wenn man aber sagen würde, die Wirkenskräfte kämen aus dem einen, einfachen Geist, dann würde man eben jenes Einfache voraussetzen, das vor den vielen Kräften ist. Dann müsste man die Wirkenskräfte als ewig bestehende und als Wesenheiten setzen. Sind sie aber Wesenheiten, dann unterscheiden sie sich von Jenem, aus dem sie stammen, denn Jenes bleibt einfach, während das, was aus ihm stammt, Fülle der Vielheit ist und auf jenes zurückverweist. Denn wenn das Wirkende aus Jenem als Vielheit von Wesen hervorträte, dann wäre es selbst die Fülle der Vielheit. Wenn aber diese ersten Wirkenskräfte das Zweite sind, dann werden sie das vor diesen vielen Kräften Befindliche in sich selbst ruhen lassen, nachdem es dem Zweiten, das aus diesen Wirkenskräften besteht, diese Kräfte überlassen hat. Dieses selbst unterscheidet sich von den Kräften, die aus ihm stammen, denn sie sind nicht seine Kraftwirkungen. Verhielte es sich anders, könnte der Geist nicht die erste wirkende Kraft sein. Es verhält sich auch nicht so, als ob Jenes das Verlangen ergriffen hätte, dass der Geist entstehe, und dann ist der Geist entstanden, denn dann stünde das Verlangen zwischen dem Geist, der aus ihm entstanden ist und Jenem; auch hat Es niemals ein Verlangen empfunden, denn dann wäre es unvollkommen, da das Verlangen jenes nicht besitzt, wonach es verlangt; auch konnte es nicht eine Sache haben, eine andere aber nicht, es gab ja auch nichts, worauf sich dieses Verlangen, aus sich selbst herauszutreten (ekstasis), hätte richten können. Vielmehr verhält es sich wie folgt: Wenn etwas nach Jenem kam, dann ist es zum Sein gelangt, indem Jenes in sich selbst zurückblieb. Daher muss, damit ein anderes hervortreten kann, Jenes vollkommen in sich selbst ruhen und in sich bleiben. Verhielte es sich anders, müsste es sich vor aller Bewegung bewegen, vor allem Denken denken, oder seine erste Wirkenskraft wäre unvollkommen, da sie ein bloßes Verlangen wäre. Und wonach sollte es verlangen, so als ob ihm etwas fehlte?

Betrachten wir daher dem Begriff gemäß die Wirkenskraft, die aus Jenem sozusagen herausfließt, wie das Licht, das aus der Sonne herausfließt. Dann denken wir uns das gesamte Wesen des Geistes wie eine Art Licht. Und Jener erhebt sich über der Höhe der geistigen Welt wie ein König, der sie beherrscht, ohne das, was von ihm ausstrahlt, von sich fortzustoßen – denn dann müssten wir noch ein anderes Licht vor dem Licht annehmen –, und indem er ewig über der Welt des Geistes stehenbleibt, leuchtet er auf sie herab. Denn das, was von ihm kommt, ist nicht von ihm abgetrennt, aber auch nicht dasselbe wie er, und es ist nicht so, als ob es kein Wesen und als ob es blind wäre, sondern es sieht und erkennt sich selbst und ist das erste Erkennende.

Was aber jenseits des Geistes liegt, liegt auch jenseits des Erkennens, es bedarf keines anderen, ebensowenig wie des Erkennens. Erst dem Zweiten Wesen wohnt das Erkennen inne. Denn auch das Erkennen ist Eines. Das wahrhaft Eine aber ist ohne Wesensbestimmung (ti), denn wäre es ein Eines mit einer Wesensbestimmung, dann wäre es nicht das Eine schlechthin, das an sich Eine, denn das Eine an sich liegt vor jeder Wesensbestimmung. [Ein unübersetzbares Wortspiel: das an sich Eine ist das »autoen«, das »Selbsteine« oder »Eine an und für sich selbst«, das Selbst, »auto« liegt vor dem »ti«, dem »Was«, der Wesensbestimmung. Durch eine Wesensbestimmung, ein »Was«, würde sich das Eine von einem anderen Einen mit einer anderen Wesensbestimmung unterscheiden].

13. Deswegen ist es in Wahrheit auch unaussagbar. Denn was immer du von ihm aussagst, du musst »Etwas« sagen. Das einzig Wahre ist daher, von ihm als dem zu sprechen, das »jenseits von allem und jenseits des erhabenen Geistes« ist, was kein Name ist, sondern bedeutet, dass es nichts von allem ist und dass es »keinen Namen« hat, weil wir nichts über es aussagen, sondern lediglich versuchen können, uns gegenseitig mit Zeichen auf es hinzuweisen.

Wenn wir aber zweifelnd fragen: »Nimmt sich dann jenes nicht selbst wahr, begreift und erkennt es sich nicht?«, dann müssen wir uns klar sein, dass wir, wenn wir so sprechen, uns selbst widersprechen und zur entgegengesetzten Ansicht übergehen. Denn wir machen es zu Vielem, wenn wir es zum Erkennbaren und zur Erkenntnis machen. Und wenn wir ihm das Denken zuschreiben, erklären wir, dass es des Denkens bedürftig ist. Und wenn das Denken bei ihm wäre, so wäre ihm dieses Denken doch nichts nütze. Denn das Denken scheint ein Zusammenlaufen des Verschiedenen im Gleichen zu sein, das in diesem als Ganzes wahrgenommen wird (wenigstens, wenn etwas sich selbst denkt, was Denken im eigentlichen Sinne ist, bei dem jedes Einzelne ein Bestimmtes ist und nichts außerhalb gesucht wird, während das Denken, das sich auf etwas Äußeres bezieht, unvollkommen und kein eigentliches Denken ist). Was aber wirklich einfach und selbstgenügsam ist, leidet keinen Mangel. Nur was in einem nachrangigen Sinn selbstgenügsam ist, da es seiner selbst bedarf, das bedarf auch des Sichselbstdenkens; das was seiner selbst bedarf, das erlangt die Selbstgenügsamkeit erst, wenn es ganz geworden ist, wenn es sich aus all seinen Teilen zusammengesammelt hat, und so zu sich heimkehrt und bei sich ist. So ist ja auch die Mitwahrnehmung (synaisthēsis) eine Wahrnehmung des Vielen (was schon ihr Name bezeugt), ebenso das Denken, welches früher anwesend ist. Der Geist aber wendet sich auf sich selbst in sich selbst zurück und muss ein Vieles sein. Und wenn er nur dies eine sagt: »Ich bin das Seiende«, so spricht er aus seiner Fülle und sagt etwas Glaubhaftes, denn das Seiende ist Vieles. Denn wenn er sich als Einfaches erblickte und sagte: »Ich bin das Seiende«, dann hätte er weder sich noch das Seiende richtig erfasst. Denn er spricht von dem Seienden nicht als einem Ärmlichen, wenn er wahr spricht, sondern umfasst mit einem einzigen Wort das Viele. Denn das Sein, wenn es als Seiendes ausgesagt wird, und nicht als etwas, das nur die Spur des Seienden in sich trägt – so wie ein Abbild das Urbild, das deswegen auch nicht als Sein bezeichnet werden könnte –, das Sein enthält das Viele in sich. Wie nun? Muss dann nicht jedes Einzelne, das in ihm enthalten ist, gedacht werden? Nun, wenn du das »Einsame und Einzige« erfassen willst, dann darfst du nicht denken, aber das Sein selbst ist in sich Vieles, und welches andere du auch benennen magst, es ist im Sein enthalten. Wenn es sich aber so verhält, dann kann das Einfachste von Allem sich nicht selbst denken, denn dächte es sich selbst, dann durch das Viele. Daher denkt es sich nicht selbst und gibt es kein Denken des Selbstes.

14. Wie aber können wir dann überhaupt über es sprechen? Nun, wir sprechen wohl über es, aber wir sprechen nicht es selbst aus und wir haben von ihm auch keine Erkenntnis (gnōsis) oder eine denkende Anschauung (noēsis). Wie aber können wir über es sprechen, wenn wir es nicht besitzen? Nun, auch wenn wir es nicht in unserer Gnosis haben, so ist es deshalb doch nicht vollständig in uns abwesend, sondern wir haben es so, dass wir wohl über es reden, nicht aber es selbst aussprechen können. Wir sagen ja, was es nicht ist, nicht aber, was es ist; und so geht das, was wir über es sagen, aus dem hervor, was nach ihm kommt. Wir sind nicht unfähig, es zu haben, auch wenn wir es nicht aussprechen können. Sondern wie die von Gott Ergriffenen und Erfüllten (enthousiōntes) wissen wir, dass wir ein Größeres in uns tragen, wenn wir auch nicht wissen, was es ist, aber wir sprechen aus dem heraus, was uns bewegt, und aus dieser Wahrnehmung des Bewegenden heraus erfassen wir das, was von dem Bewegenden verschieden ist; ebenso scheint es, verhalten wir uns auch zu Jenem. So ahnen wir, wenn wir den reinen Geist berühren, dass er der Geist in uns ist, der uns das Wesen und alles andere gibt, wie wir auch von Jenem – was immer es sein mag – erahnen, dass es nichts von diesem ist, sondern ein Höheres als das, was wir als »Sein« bezeichnen, mehr und größer, als wir zu sagen vermögen, so dass es höher als das Wort (logos) und der Geist (nous) und die Wahrnehmung (aisthēsis) steht, dies alles gewährend, aber nichts von diesem seiend.

15. Wie aber kann es sie gewähren? Entweder, indem es sie besitzt oder nicht besitzt. Wie aber kann es gewähren, was es nicht besitzt? Und wenn es sie besitzt, ist es nicht einfach. Wenn es sie aber nicht besitzt, wie kann aus ihm die Fülle hervorgehen? Denn dass das Eine aus sich ein Einfaches hervortreten lässt, kann man wohl zugeben – auch wenn es weiterer Untersuchung bedürfte, wie ein solches aus dem schlechthin Einen hervorgehen kann –, aber man kann vielleicht sagen, wie aus dem Licht das es umgebende Leuchten – wie aber soll das Viele aus ihm hervortreten? Nun, was aus Jenem hervorgeht, soll ja nicht dasselbe sein wie Jenes. Wenn aber nicht dasselbe, dann gewiss nicht besser, denn was könnte besser sein als das Eine oder es als Ganzes übersteigen? Also geringer; und dies ist das Bedürftige. Was ist bedürftiger als das Eine? Das Nichteine, das Viele, das dem Einen gleich zu werden begehrt, das Eine, das zugleich Vieles ist. Denn alles, was nicht Eines ist, wird durch das Eine erhalten und ist durch Es, was es ist. Denn wenn das, was aus vielem besteht, nicht zu Einem wird, dann kann man nicht von ihm behaupten, es »ist«. Und wenn eines unter diesem Vielen sagen kann, was es ist, dann nur deshalb, weil jedes von ihnen ein und dasselbe ist. Was aber nicht Vieles in sich enthält, ist nicht deswegen Eines, weil es am Wesen des Einen teilhat, sondern ist selbst Eines, und nicht gemäß einem anderen, sondern weil es Jenes ist, durch das die anderen irgendwie Eines sind, die einen, weil sie ihm näher stehen, die anderen, weil sie ihm ferner stehen. Was ihm nämlich am nächsten steht, muss dadurch zum nächsten geworden sein, dass die Fülle seiner Vielheit überall Eines ist. Und auch wenn es Fülle ist, so ist das Sein in ihm dasselbe, und Du vermagst es nicht von sich selbst zu unterscheiden, weil es in allem dasselbe ist. Jedes Einzelne in ihm, solange es am Leben (zoē) teilhat, ist als Vieles zugleich Eines; denn durch sich selbst vermag dieses Viele sich nicht als Eines zu erweisen. Jenes selbst aber ist das Eine im Vielen, denn es ist der erhabene Urgrund (megalē archē); der Urgrund aber ist das im wahren Sinn Eine. Was aber nach dem Urgrund kommt, ist, weil das Eine gleichsam mit seiner ganzen Macht auf es einwirkt, Alles, was am Einen teilhat, und jedes Beliebige davon ist Alles (panta) und Eines (hen) zugleich.

Was aber ist dieses Alles? Nun, alles, was in Jenem seinen Urgrund hat. Warum aber ist Jenes der Urgrund von Allem? Weil es all dies im Sein erhält, indem es jedes Einzelne ins Sein ruft, oder weil es in ihm Gestalt angenommen hat? Wie nun? Weil es dies alles in sich trägt. Aber wir sagten, dass es dann Fülle der Vielheit wäre! Nun, es trägt dieses Viele als Ununterschiedenes in sich; erst im Zweiten, im Logos, tritt es auseinander und wird zur Wirkenskraft, Jenes aber ist die Möglichkeit von Allem. Was für eine Art von Möglichkeit ist das? Nicht so, wie man den Stoff (hylē) als Möglichkeit bezeichnet, der alles in sich aufnimmt und erleidet, denn dies steht im Gegensatz zum Wirken. Wie also kann es hervorbringen, was es nicht in sich trägt? Wohl nicht zufällig, ohne Grund, bringt es hervor. Es wurde gesagt, dass, was aus dem Einen hervorgeht, sich von ihm unterscheiden muss. Wenn es aber ein anderes ist, dann nicht Eines, denn dieses Eine war Jenes. Wenn aber nicht Eines, dann muss es notwendig Zweiheit und damit Fülle der Vielheit sein, denn dann ist bereits Differenz (Andersheit) und Identität (Selbigkeit) und Wesensbeschaffenheit und alles andere in ihm. Dass also, was aus Jenem kommt, nicht Eines sein kann, haben wir damit gezeigt. Wie es aber Vielheit sein kann und zwar eine solche Vielheit, wie sie an jenem geschaut wird, das nach ihm kommt, ist eine preiswürdige Zweifelsfrage. Und die Notwendigkeit, dass etwas nach ihm kommt, ist ebenfalls zu untersuchen.

16. Dass es etwas geben muss, das nach dem Ersten kommt, haben wir bereits anderswo erörtert. Dass es, allgemein gesagt, Möglichkeit ist und unerschöpfliche Möglichkeit wird aus der Gesamtheit alles Anderen glaubhaft, da es nichts gibt, auch nicht unter dem, was als Letztes kommt, das nicht das Vermögen besitzt, zu zeugen. Nun aber müssen wir ein weiteres ansprechen, nämlich, dass es in allem, was erzeugt wird, kein Hinauf-, sondern nur ein Hinabschreiten gibt, ein immer stärkeres Hineinschreiten in die Fülle der Vielheit, und dass der Urgrund eines jeden einfacher ist als dieses selbst. Was also diesen sichtbaren Kosmos (kosmos aisthētos) hervorgebracht hat, ist selbst kein sichtbarer Kosmos, sondern Geist und geistiger Kosmos (kosmos noētos). Was aber vor diesem liegt, und ihn erzeugt, ist weder Geist noch geistiger Kosmos, sondern einfacher als der Geist und der geistige Kosmos. Nicht aus dem Vielen geht das Viele hervor, sondern das Viele hier unten geht aus dem Nichtvielen hervor. Denn wäre auch dieses selbst Vieles, wäre es nicht der Urgrund, sondern ein anderes vor ihm. Es muss sich also das Eine aus allem Seienden herausziehen, und außerhalb aller Fülle und beliebigen Einfachheit liegen, wenn es wahrhaft einfach sein soll.

Wie aber entstehen aus ihm die vielen und in allem wirkenden samenhaften Logoi, wo es selbst doch kein Logos sein kann? Wenn es aber kein Logos ist, wie kann der Logos aus dem hervorgehen, was selbst kein Logos ist? Und wie das Abbild des Guten aus dem Guten? Was trägt es von jenem in sich, dass man es als sein Abbild bezeichnen kann? Was trägt es von jenem in sich, das ihm gleich ist? Und was ist dies beim Guten? Das ihm Entsprechende suchen wir ja erst, wenn das Gute bereits in Erscheinung getreten ist. Wir suchen als Erstes jenes andere, aus dem wir nicht heraustreten müssen, weil es gut ist. Und wenn es nicht gut wäre, würden wir besser von ihm Abstand nehmen. Und ist das Leben ihm entsprechend, sollten wir dann nicht aus unserem eigenen Wesen heraus in ihm bleiben? Und lieben wir dieses Leben, dann suchen wir kein anderes. Daher wäre das ihm Entsprechende, dass das uns Erreichbare uns genügt. Wenn aber alles Erreichbare vorhanden ist, dann lieben wir dieses Leben nur um so mehr, zumal, wenn es so vorhanden ist, dass es sich nicht von ihm selbst unterscheidet. Wenn aber das gesamte Leben in ihm ist, und zwar das sich selbst genügende, vollkommene Leben, dann ist auch die ganze Seele und der ganze Geist in ihm und nichts von diesem Leben oder Geist steht ihm fern. Es genügt sich also selbst und sucht nichts. Und wenn es nichts suchen muss, dann trägt es bereits in sich, was es suchen könnte, als ob es nicht in ihm anwesend wäre. So trägt es also das Gute als ein solches in sich, das wir Leben oder Geist nennen, oder als ein anderes, das mit diesen verbunden ist. Wenn aber dies das Gute ist, dann kann es jenseits davon nichts mehr geben. Wenn aber Jenes existiert, dann muss das Leben auf es gerichtet und an es gebunden sein und seine Gestalt aus Jenem haben, denn Jenes ist sein Urgrund. Daher muss Jenes mächtiger sein als Leben und Geist, denn so kann es zu Jenem auch das Leben hinwenden, das in ihm ist, – ein Nachbild dessen, was in Jenem ist, insoweit es in ihm lebt, kann auch den Geist, der in ihm ist, zu Jenem hinwenden (epistrephein), ein Nachbild dessen, was in Jenem ist, was immer auch dies sein mag.

17. Was aber ist mächtiger, als das vom Geist erfüllte Leben, das nicht strauchelt oder fehlgeht, und mächtiger als der Geist, der doch alles in sich enthält, mächtiger als das Leben als Ganzes und der ganze Geist? Wenn wir sagen: »Was sie hervorgebracht hat« – wie hat es sie dann hervorgebracht (poiein)? Und wenn nichts Mächtigeres in Erscheinung tritt, dann wird unser Denken zu nichts anderem hinaufsteigen, sondern bei diesem stehenbleiben. Aber wir müssen hinaufsteigen, aus vielen anderen Gründen, vor allem aber deshalb, weil das, was sich selbst genügt, sein Sein aus allem schöpft, aus dem es besteht, von dem aber jedes Einzelne eines anderen bedarf und weil jedes Einzelne am durch sich selbst Einen (autoen) teilhat, also nicht selbst jenes durch sich selbst Eine ist. Was also ist dies, an dem es teilhat, das das Sein selbst und alles, das ihm gleich ist, hervorbringt? Wenn es alles ins Sein ruft, und die Fülle des Vielen allein durch die Parousie (Anwesenheit) des Einen sich selbst genügt, dann kann Jenes nur Wesen und Selbstgenügsamkeit hervorbringen, weil es »nicht Wesen, sondern jenseits des Wesens« und jenseits der Selbstgenügsamkeit ist.

Ist damit nicht genug gesagt und dürfen wir uns nun entfernen? Nein, denn die Seele liegt jetzt erst richtig in den Wehen. Und vielleicht muss sie bald gebären; denn sie hat sich zu Jenem hinaufgeschwungen und ist, von Ihm erfüllt, schwanger geworden. Aber wir wollen sie noch einmal durch unseren Gesang bezaubern, vielleicht finden wir einen Zauberspruch, der ihre Wehen besänftigt. Vielleicht ließe sich auch in dem bereits Gesagten Hilfe finden, wenn man es ihr oft genug vorsänge.

Aber was haben wir denn für einen neuen Zaubergesang? Alles Wahre hat sich ihren Blicken dargeboten, auch alle Wahrheit an der wir nur Anteil haben, trotzdem entflieht sie, wenn jemand verlangt, dass sie spricht und ihren Verstand betätigt, denn die Verstandesseele muss, um etwas aussagen zu können, eines nach dem anderen ergreifen, denn so schreitet sie durch die Bestimmungen des Denkens hindurch. Wie aber soll es beim schlechthin Einfachen ein Herumschreiten (diexodos) geben? Da reicht wohl eine geistige Berührung (ephaptein). Wenn man aber berührt, dann hat man im Augenblick der Berührung weder die Fähigkeit noch die Muße, herumzureden, sondern man ergeht sich erst hinterher in umständlichen Überlegungen. Man muss aber darauf vertrauen, dass man Jenen in dem Augenblick gesehen hat, in dem die Seele blitzartig (exaiphnēs) von Licht (phōs) erfüllt wurde, denn dieses Licht kommt von Ihm und ist Er selbst. Und man soll seine Anwesenheit in diesem Augenblick anerkennen, so wie man einen anderen Gott anerkennt, den man in sein Haus ruft und der es durch sein Kommen erleuchtet, denn wäre er nicht gekommen, hätte er es nicht erleuchtet. So ist auch die Seele, wenn sie von Jenem nicht erleuchtet wird, gottlos (atheos), wird sie aber erleuchtet (phōtizein), hat sie erlangt, was sie suchte. Und dies ist die wahre Vollendung (telos) der Seele: das Licht jenes Einen zu berühren und Es durch dieses Licht anzuschauen, nicht durch ein anderes Licht, sondern in jenem Licht, durch das sie sehend wird. Denn das, wodurch sie erleuchtet wurde, ist eben das Licht, das sie schauen soll: man sieht ja auch nicht die Sonne durch ein anderes Licht. Und wie kann sie zu dieser Vollendung gelangen? Lass alles hinter Dir (aphele panta)!

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