Zuletzt aktualisiert am 18. April 2020.
Wie »vorsorgliche Krisenkommunikation« die Krisen erzeugt, die sie verhindern will.
Gastbeitrag von Sophie von Freiberg.
Im Juli dieses Jahres erschien in verschiedenen anthroposophischen Publikationen (Anthroposophie weltweit, Info3 u.a.) ein Text, zu dem sieben Autoren und eine Autorin jeweils ein Kapitelchen beigesteuert hatten, der die Leser, an die er sich wandte, im Ungewissen darüber ließ, welcher Literaturgattung sie ihn zuordnen sollten. Facts oder Fiction? Hatte man sich einmal für erstere entschieden, erhob sich die weitere Frage, ob es sich um ein politisches Statement, eine hoheitliche Verlautbarung, einen Aufruf, ein Manifest, eine Handlungsanleitung oder möglicherweise eine Sachinformation handelte. Nennen wir diesen Acht-AutorInnen-Text im Folgenden, der Kürze wegen, den Ogdoadentext.
Die Redaktion von Anthroposophie weltweit deklarierte diesen Ogdoadentext zurückhaltend als »Dokumentation«, eine Rubrizierung, die man als vornehme Distanzierung hätte verstehen können, stellte ihm aber gleichzeitig einführende Ausführungen voran, die von einem der Mitverfasser, Wolfgang Held, geschrieben worden waren. Held berichtete von den zweimal jährlich stattfindenden Treffen anthroposophischer »Medienschaffender« (was bedeutet eigentlich dieser Ausdruck? Handelt es sich um Personen, die Medien schaffen oder mit Medien schaffen, und wenn letzteres, was schaffen sie mit ihren Medien? Öffentlichkeit, Meinung, Stimmungen, Urteile? Möglicherweise Medienfakten – also jene Ereignisse, die dadurch zu Fakten werden, dass sie in Medien publiziert und im selbstreferentiellen Kreislauf des medial vermittelten »öffentlichen Diskurses« von anderen Medien aufgegriffen, weiter verbreitet oder kritisiert werden?)
Laut Held tauschen sich diese »Schaffenden« regelmäßig über ihre Beobachtungen »gesellschaftlicher Strömungen« und »Tendenzen« aus und beschäftigen sich »im Sinne einer vorsorglichen Krisenkommunikation« mit der Frage, »wo sich für die anthroposophische Bewegung Angriffsflächen zeigen« und »wo kommunikative Hausaufgaben unerledigt geblieben sind«. Übersetzt man diese umständlichen Andeutungen in verständliches Deutsch, dann ist wohl gemeint: die »Hausaufgabe« der Medienschaffenden bestehe darin, danach Ausschau zu halten, wo oder wodurch die »anthroposophische Bewegung« angreifbar sein könnte, um alsdann vorsorglich zu kommunizieren, um die möglichen oder denkbaren Angriffe abzuwehren bzw. diejenigen, für die sie als Kommunikationsfachleute tätig sind, dazu aufzufordern, die Angriffsflächen, von denen Held spricht, zu beseitigen – entweder durch Glättung von Oberflächen, durch vorauseilende Unterwerfung oder auch Reinigung der eigenen Reihen von potentiellen Abweichlern, die Anlass zu Angriffen geben könnten.
Bei einem dieser Treffen, am 10. und 11. April 2018, so Held weiter, habe der Leiter des Rudolf-Steiner-Archivs, David Marc Hoffmann, über das »Gedeihen von Theorien über Verschwörung sowie über rechtsnationale und germanophile Ideologien im anthroposophischen Umfeld berichtet«.
An diesen Formulierungen stößt einiges auf. Held spricht merkwürdigerweise nicht von »Verschwörungstheorien«, sondern von »Theorien über Verschwörung«. Als eine solche könnte man die Erzählungen Hoffmanns bezeichnen, denn er trug wohl kaum eine Verschwörungstheorie vor, sondern eben eine Theorie über Verschwörungen, die von anderen behauptet werden, wodurch sie selbst zu Verschwörungstheoretikern werden, – wogegen Hoffmann eine Metatheorie der Verschwörungstheorien aufstellte.
Ist dies nun beunruhigend, dass Theorien über Verschwörungen, die andere behaupten, im »anthroposophischen Umfeld« gedeihen? Und überhaupt: Was heißt »anthroposophisches Umfeld«? Sind damit Alnaturakunden gemeint, die, soweit überhaupt angeboten, biodynamische Mohrrüben oder Demeterwein einkaufen, weil sie sich vor den krankmachenden Einflüssen von Gentechnik oder Ackergiften fürchten? Oder Patienten anthroposophisch orientierter Ärzte, die an Allergien leiden, die von Umweltgiften hervorgerufen werden? Oder Großeltern, Onkel und Tanten von Waldorfschülern, die Veranstaltungen im Basler »Scala« besuchen? Oder etwa ehemalige Waldorfschüler wie Ken Jebsen und Daniele Ganser, die tabuisierte Fragen stellen oder den Umgang mit Stigmatisierten nicht scheuen?
Lassen wir also dieses diffuse Umfeld beiseite und wenden uns den anderen Obszönitäten zu: den »rechtsnationalen und germanophilen Ideologien«. Was ist damit gemeint? Das Gegenteil von links-anational oder -antinational und germanophob? Dieses Gegenteil scheint im anthroposophischen Umfeld offenbar keine potentielle Angriffsfläche zu bieten, ersteres hingegen schon, sonst müsste man sich ja auch nicht vorsorglich damit beschäftigen. Ob David Marc Hoffmann bei seinen Ausführungen über »rechtsnationale und germanophile« Tendenzen wohl an Rudolf Steiners Meditation »Der deutsche Geist hat nicht vollendet, was er im Weltenwerden schaffen soll …« dachte, die Lesern mit einem längeren Gedächtnis noch als von Jutta Ditfurth oder Peter Bierl angeführter Beweis für die rechtsnationale Einstellung Steiners erinnerlich sein mag? Will man sich im Anschluss an Hoffmann nun endgültig jenem Wahnsinn mit Methode unterwerfen, der aus einem von Menschenliebe erfüllten Verkünder des Kosmopolitismus und der Auflösung des Nationalstaatsprinzips einen Propheten des Menschenhasses und der Rassifizierung zu machen versuchte?[1]
Held teilte aber noch weit mehr aus Hoffmanns Rede mit. Man höre und staune: Zum anthroposophischen Denken gehöre, »die Welt hierarchisch zu betrachten« und die »treibenden Kräfte in und hinter den Erscheinungen zu verstehen«. Dieser Hang zum Hierarchisieren und zum Verstehen der treibenden Kräfte hinter den Erscheinungen prädestiniert in Hoffmanns Augen offenbar zu einem autoritären, verschwörungsaffinen Weltbild. Denn er schloss laut Held, die genannten Eigenarten des »anthroposophischen Denkens« könnten zur Annahme »eines steuernden Willens« und zu einer »Grundskepsis gegenüber der Wirklichkeit« führen, sodass man »überall Verrat und Konspiration« wittere.
Diese zwei Sätze, die tatsächlich unwidersprochen in Anthroposophie weltweit standen, sind ein miniatureskes Kunstwerk der Propaganda und des double think. Hoffmann vergaß zu erwähnen, dass das hierarchische Denken der Anthroposophie die zehnte Hierarchie, die Hierarchie der Menschheit, als den kosmischen Ort der Freiheit versteht, die gerade alle Hierarchien aufhebt. Und er vergaß zu erwähnen, dass das Verstehen der treibenden Kräfte hinter den Erscheinungen gerade die Skepsis und den Zweifel aufhebt, weil es zu einer Erkenntnis des Wirkenden in den Erscheinungen führt. Von der Geisterkenntnis der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners führt also kein Weg zur Annahme, überall verberge sich Verrat und Konspiration – wohl aber bietet ein Blick in die Annalen des Christentums Einsicht in eine abgründige Kriminalgeschichte, die von Verrat und Konspiration geradezu überquillt.
Warum reden wir hier von der »Kriminalgeschichte des Christentums«?[2] Um an den anderen Marc David Hoffmann zu erinnern, der eine Lebensgeschichte hatte, bevor er Leiter des Rudolf-Steiner-Archivs wurde.
Einen Hoffmann, der in seiner Untersuchung über Steiner im Nietzsche Archiv[3], diesen als pathologischen Lügner porträtierte, dessen »minutiöse Rekonstruktion« der Konflikte zwischen Fritz Kögel, Elisabeth Förster-Nietzsche und Steiner zustimmend von Helmut Zander in seinem opus magnum mit dem irreführenden Titel »Anthroposophie in Deutschland« zitiert werden konnte: »Wahrscheinlicher ist, dass Steiner in seinen Huldigungen an die Archivleiterin log.«[4] »Alle Seiten haben es in einzelnen Aussagen offenkundlich mit der Wahrheit nicht ganz so genau genommen, dies gilt für Förster-Nietzsche (für sie vielleicht in besonderem Maß) wie für Steiner, wie sich bei Hoffmann nachlesen lässt.«[5] »Erst auf diese Analyse hin schwang sich Steiner in seiner ›Erwiderung‹ zu der Lüge auf, er habe nie Nietzsche-Herausgeber werden wollen.«[6]
Einen Hoffmann, der sich 2011 als Leiter des Basler Schwabe Verlags bei der Präsentation eines Bandes des Augustinus-Lexikons als treuer Sohn der Kirche zu erkennen gab:
»Wir sind alle hier versammelt in der Bewunderung und im Respekt vor dem heiligen Augustinus und seinem immensen Werk. Und wir alle, ob Minister, Prälat, Priester, Senator, Professor, Redaktor, Ordensschwester oder -bruder, Lektor oder Verlagsleiter sind wohl im Stillen Augustinus dankbar, dass er nicht nur weiser Kirchenlehrer und großartiger Schriftsteller, sondern auch ein einfacher Sünder war. So können wir uns ihm bei aller Distanz auch irgendwie nahe fühlen.
Denn wir alle verrichten täglich unsere Arbeit – je nach Auffassung im Dienste unseres Arbeitgebers oder im Weinberg des Herrn – aber jeder und jede von uns hat, wenn er fein in sich hineinhorcht, ein Sündenbewusstsein, das uns mit Augustinus verbindet. Dass es aber nicht nur die Sünde sei, die wir mit dem Kirchenvater gemeinsam haben, sondern auch sein Wissen und seine Weisheit, sein Glaube und seine Kraft, dazu dient das mit einem unvergleichlichen Fleiß erarbeitete Augustinus-Lexikon. Dass wir nun mit Band 3 schon jenseits der Mitte des Gesamtwerks liegen und seit einem Vierteljahrhundert unseren bescheidenen Beitrag am Werden und Gedeihen dieses einzigartigen Nachschlagewerks beitragen können, erfüllt uns mit großer Dankbarkeit und auch Stolz – womit wir schon wieder bei der Sünde wären und vor Augen geführt erhalten, wie nahe Heiligkeit und Scheitern beieinander liegen.
Ich wünsche […] dem Team des Augustinus-Lexikons viel Kraft, Ausdauer und Gottes Segen bei der Vollendung dieses prächtigen Werks.« [7]
Honi soit qui mal y pense!
Nun aber, – die überraschende Konklusio folgt erst noch: Held fuhr nämlich in seinem Referat von Hoffmanns Erzählungen fort: »Anthroposophie ziele darauf, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen; diese Theorien und Ideologien [also die von Hoffmann inkriminierten] führten im Gegenteil dazu, dass man sich dem allgemein-gesellschaftlichen Leben entfremde«. Was nun? Neigt die Anthroposophie zum hierarchischen Denken und führt zur Entfremdung von der Wirklichkeit – oder führt sie zum gesellschaftlichen Engagement, aus was für Gründen auch immer?
Man kann den krassen Widerspruch zwischen diesen beiden Aussagen nur verstehen, wenn man sich klar macht, dass Hoffmann und Held von zwei verschiedenen Anthroposophien redeten bzw. reden: derjenigen Steiners und derjenigen, die sie sich wünschen.
Erstere ist in jeder Hinsicht revolutionär, sie bricht mit allen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Konventionen, sie führt die Menschheit durch einen epochalen Bruch auf ein höheres Niveau des Bewusstseins; letztere hingegen schmiegt sich allen modischen gesellschaftlichen Konventionen an und striegelt sich selbst solange zurecht, bis sie sogar von der evangelischen Kirche oder der Mainstreamwissenschaft verdaut werden kann, ohne Magengrimmen zu verursachen.
Die zweite Variante hat zwar mit der von Steiner ins Leben gerufenen Wissenschaft vom Geiste nichts mehr zu tun, und ist daher nur durch dessen Verabschiedung, durch eine gründliche Distanzierung von ihrem Gründer zu haben, der ihrem Begriff seinen Inhalt gegeben hat – aber was soll’s? In stürmischen Zeiten, die von Lüge und Konvention beherrscht werden, muss man wendig sein und sich anpassen, wenn man nicht untergehen will.
Nun teilte Held in seiner Einführung oder Erklärung oder Entschuldigung – man weiß es nicht genau – noch etwas mit. »Auch ausgehend von jenem Gespräch« der anthroposophischen »Medienschaffenden« – es gab also noch andere Ausgangspunkte, die er allerdings nicht näher bezeichnet – hätten sich »Vertreterinnen und Vertreter einiger anthroposophischer Einrichtungen« getroffen und »vereinbart«, »ihre Fragen und Gedanken zu diesem Thema aufzuschreiben, um ihre Sorge um eine offene Anthroposophie ins größere Gespräch zu bringen.« Das Ergebnis waren die in Anthroposophie weltweit und Info3 veröffentlichten »Statements«, also der Ogdoadentext. Wer im Einzelnen diese »Vertreter und Vertreterinnen« waren und um welche »Einrichtungen« es sich handelte, erfährt man nicht. Man könnte aufgrund der Anonymität dieser Gruppe von Verschwörern und einer Verschwörung sprechen, die sogenannte »offene Anthroposophie«, eine subtile Erfindung dieser Verschwörer, »ins größere Gespräch« zu bringen.
Ob die acht AutorInnen des Ogdoadentextes zu jener Gruppe von Verschwörern gehörten oder ob sie vielleicht nachträglich zu diesem klandestinen Kreis hinzugebeten wurden, ist ebenso unklar, wie die Frage, ob die acht ihre Statements als Vertreter oder im Auftrag ihrer Institutionen verfassten und publizierten oder nur ihre persönlichen Meinungen kundtaten. Jedenfalls wurde der Leser durch Helds Einführung zum Zeugen der Verabredung zu einer politischen Kampagne gegen Verschwörungstheorien und Verschwörungstheoretiker und noch manch anderes, was laut Vorspann des Textes »Die offene Anthroposophie und ihre Gegner« »in der anthroposophischen Bewegung« »zunehmend Widerhall« finden soll.
Die acht AutorInnen zeichneten ihre Statements namentlich und sind auch außerhalb dieser Publikation als »Vertreter oder VertreterInnen« teils renommierter, teils umstrittener »anthroposophischer« Institutionen bekannt, darunter der Bund der Freien Waldorfschulen, das Goetheanum (die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft), die Zeitschrift Info3, die Alanus Hochschule und das Rudolf Steiner Archiv.
Da der Ogdoadentext auch ausdrücklich politisch Stellung bezieht und Vertreter pädagogischer Institutionen an ihm beteiligt sind, sei hier daran erinnert, dass es weder Aufgabe allgemeinbildender Schulen noch von Hochschulen ist, im politischen Meinungsstreit Partei zu ergreifen.
Hochschulen als Körperschaften des öffentlichen Rechts, als Stätten der Pflege und Verteidigung der Freiheit von Forschung und Lehre, unterliegen ohnehin dem staatlichen Neutralitätsgebot. Die gilt auch für ihr Personal, sofern es in seiner Funktion als Vertreter einer staatlichen Institution lehrt.
Es gilt aber auch für allgemeinbildende Schulen. Die explizite politische Deklaration, die in Parolen wie »Schulen gegen Rechts« oder auch »Schulen gegen Rassismus« zum Ausdruck kommt, widerspricht nicht nur dem Verständnis der Aufgabe von öffentlicher Schule, sondern auch jenem von politischer Bildung, wie es zum Beispiel der Beutelsbacher Konsens zusammenfasste, der seit 1976 als Regulativ einer solchen Bildung anerkannt war.
Nach diesem Konsens sollte für politische Bildung dreierlei maßgeblich sein: das Verbot der Überwältigung (Indoktrination), das Neutralitätsgebot, das verlangt, kontroverse Positionen in Politik und Wissenschaft gleichermaßen leidenschaftslos zu würdigen und die Förderung der politischen Urteils- und Handlungsfähigkeit der Schüler. Indoktrination liegt nach diesem Konsens vor, wenn Schüler mit welchen Mitteln auch immer zu von wem auch immer »erwünschten Meinungen« gebracht werden sollen. Neutralität gebietet, dass Lehrer nicht nur linke, sondern auch rechte Positionen, nicht nur die herrschende Meinung in der Wissenschaft, sondern auch alternative Denkmodelle und Erfahrungswege zur Diskussion stellen. Die politische Urteilsfähigkeit schließlich setzt voraus, dass Schüler befähigt werden, politische Situationen und ihre eigene Interessenlage zu analysieren und die ihr entsprechende Handlungsfähigkeit, dass sie über Mittel und Wege aufgeklärt werden, wie sie aktiv an der Gestaltung ihres Gemeinwesens partizipieren können.
Gilt all dies auch für private Bildungseinrichtungen, Einrichtungen in freier Trägerschaft? Sofern sie den staatlichen Bildungseinrichtungen gleichwertig und gleichgestellt sein wollen, vermutlich schon.
Nach all dem ist es nicht verwunderlich, dass sich gegen den Ogdoadentext umgehend ein Sturm des Protestes erhob. Bereits das Septemberheft von Anthroposophie weltweit zeugte davon (S. 12-13). Hier war von einem »regen« Echo auf die »Dokumentation« die Rede. Und es erfolgte – nach zwei Monaten – eine Klarstellung, die sich auch als Distanzierung lesen lässt: »Wenn in ›Anthroposophie weltweit‹ ein Beitrag wie die acht Statements erscheint, ist dies kein Ausdruck einer wie auch immer gearteten ›offiziellen‹ Meinung oder Haltung gegenüber den Inhalten.
Ein solcher Abdruck bedeutet auch nicht, dass Inhalte oder Wertungen von Herausgeber oder Redaktion geteilt werden. Der Abdruck sagt lediglich, dass nach Einschätzung der Redaktion ein relevanter Vorgang vorliegt, in diesem Fall eine öffentliche Stellungnahme von acht Repräsentant/inn/en aus öffentlich wirksamen anthroposophischen Institutionen.« Was für ein Sturm mag hinter den Kulissen getobt haben, dass sich Herausgeber oder Redakteur zu einer derart zerquälten Klarstellung genötigt sahen?
Bis zum Heftabschluss waren 25 Zuschriften eingegangen, deren Abdruck 16 Druckseiten umfasst hätte, nur eine dieser Zuschriften war positiv. Deswegen wurden sie zu diesem Zeitpunkt nicht veröffentlicht, der Redakteur (Sebastian Jüngel) fasste stattdessen die wesentlichen Kritikpunkte der Verfasser der Zuschriften zusammen. Gefragt wurde beispielweise: »Wieso muss gewarnt, statt geforscht werden?«
Die Vorwürfe im Einzelnen: die Autoren ließen es an begrifflicher Präzision fehlen, sie definierten weder, was sie unter »Verschwörungstheorien« verstünden, noch was sie mit einer »offenen Anthroposophie« meinten. Sie ergingen sich in Polemik gegen andere und diese Polemik falle auf sie selbst zurück. Sie entmündigten das Publikum, indem sie es vor angeblich gefährlichem Denken warnten. Sie werteten Personen ab und verlören sich in Pauschalisierungen. Sie seien behördengläubige Konformisten oder betrieben Konkurrentenschelte. Gegen die pauschale Verurteilung des Glaubens an Verschwörungen wurde auf eine Fülle von geschichtlich erwiesenen und anerkannten Verschwörungen hingewiesen.
Angesichts dieser massiven Kritik ruderte Jüngel, der für die Veröffentlichung der »Dokumentation« die Verantwortung trug, vorsichtig zurück, mit einer Argumentation, die nicht der unfreiwilligen Komik entbehrt. Er redete sich darauf hinaus, der Begriff »Verschwörungstheorie« sei eigentlich neutral, musste aber in einem Klammerzusatz zugestehen, dass er heute »weitgehend abwertend« verwendet werde. Es besteht kein Zweifel, dass dieser Begriff von den AutorInnen des Ogdoadentextes ausschließlich pejorativ gemeint war. Den Vogel schoss Jüngel aber damit ab, dass er sich auf Anetta Kahane von der Amadeu-Antonio-Stiftung berief, die im deutschen Sprachraum möglicherweise das prominenteste Beispiel für eine politische Verschwörung zulasten der freien Meinungsbildung ist, die angeblich vor einer »vorschnellen Pathologisierung« warne. Unklar blieb in diesem ominösen Zitat, was nach Kahane vorschnell pathologisiert werden soll. In Wahrheit erklärt Kahane im herangezogenen Text Verschwörungstheorien ohne Umschweife zu einer Erwachsenen»pathologie« und verunglimpft alle, die an sie glauben, als »Ideologen voller Ressentiments«.[8] Bereits in dieser Ausgabe von Anthroposophie weltweit wurde eine Gegenstellungnahme von Thomas Meyer, dem Herausgeber der Zeitschrift Europäer, der zu den explizit Angegriffenen gehörte und der Redaktion von Ein Nachrichtenblatt publiziert, die ebenfalls vom Ogdoadentext betroffen war.
Am 28. September 2018 erschien schließlich eine Sondernummer von Anthroposophie weltweit, die auf 23 Seiten 40 kritische Zuschriften dokumentiert, die seit Veröffentlichung des Ogdoadentextes bei der Redaktion eingegangen sind. Nur zwei dieser Zuschriften sind positiv. Im übrigen ist die Kritik an den Autoren vernichtend. Da diese Sondernummer nur durch eine Email an die Redaktion abgerufen werden kann, wird sie unten, ebenso wie die beiden anderen vorangegangenen Publikationen, zugänglich gemacht. Die Empfehlung lautet, sich die am 28. September erschienene kleine Enzyklopädie des Protestes im Namen des gesunden Menschenverstandes eingehend zu Gemüte zu führen.
Eine Frage bleibt: Was folgt aus diesem nahezu ausschließlich negativen Echo und was für Konsequenzen ziehen diejenigen, die die Kampagne losgetreten haben, daraus, dass sie durch ihren Versuch, abweichendes Denken zu skandalisieren, selbst zum Skandal geworden sind?
Dokumentation:
• Die offene Anthroposophie und ihre Gegner (Ogdoadentext), Anthroposophie weltweit 7-8-2018, Download
• Reaktionen auf den Ogdoadentext, Anthroposophie weltweit 9-2018, Download
• Zuschriften zu den acht Statements zu Verschwörungstheorien, Anthroposophie weltweit extra 10-2018, Download
Aktualisierung, 28.12.2018:
Die Zeitschrift Anthroposophie, deren verantwortlicher Redakteur Jost Schieren, ein Mitverfasser des Ogdoadentextes ist, hat inzwischen in der Weihnachtsausgabe (Nr. 286) eine Reihe kritischer Leserzuschriften veröffentlicht: Download.
Anmerkungen:
- Steiner wies wiederholt darauf hin, dass im 1879 angebrochenen Michaelzeitalter das gabrielische Prinzip der Blutsverwandtschaft und des damit zusammenhängenden Nationalismus in Bälde von einer kosmopolitischen Form der Menschheitskultur verdrängt werde. Zum Beispiel am 19. Juli 1924 in Arnheim: »Ein solches Michael-Zeitalter charakterisiert sich durch die verschiedensten Verhältnisse, insbesondere aber dadurch, dass in einem solchen Michael-Zeitalter die geistigen Interessen der Menschheit, je nach der besonderen Veranlagung, die ein solches Zeitalter hat, tonangebend werden. Namentlich wird es so sein, dass in einem solchen Zeitalter ein kosmopolitischer, ein internationaler Zug durch die Welt geht. Die nationalen Unterscheidungen hören auf. Gerade im Zeitalter des Gabriel begründeten sich innerhalb der europäischen Zivilisation und ihres amerikanischen Anhanges die nationalen Impulse. In unserem Michael-Zeitalter werden sie im Laufe von drei Jahrhunderten vollständig überwunden werden. In jedem Michael-Zeitalter ist es so, dass ein allgemeiner Zug durch die Menschheit geht, ein allgemein-menschlicher Zug gegenüber den speziellen Interessen von einzelnen Nationen oder Menschengruppen«. GA 240, S. 106-107. Oder am 3. August in Dornach: »Die Menschen, die in der gegenwärtigen Inkarnation durch die Anthroposophie die Michael-Impulse aufnehmen, sie bereiten ihr ganzes Wesen dadurch […] so vor, dass das weit hineingeht in diejenigen Kräfte, die sonst bloß durch Rassen- und Volkszusammenhänge bestimmt sind.Denken Sie einmal, wie stark man davon sprechen kann: Da ist irgendeiner, der in einem Volkszusammenhang drinnensteht. Man kann ihm ansehen, er ist ein Russe, er ist ein Franzose, er ist ein Engländer, er ist ein Deutscher. Man sieht das dem Menschen an, und man logiert die Menschen so, man versetzt sie in eine Stelle, indem man nachdenkt, wenn man sie sieht, wohin sie gehören können. Man wird es für bedeutsam halten, wenn man einem ansieht, er ist ein Türke, er ist ein Russe und so weiter. Bei denen, die heute mit wirklicher innerer Seelenkraft, mit Herzensimpulsivität Anthroposophie aufnehmen als ihre tiefste Lebenskraft, werden solche Unterscheidungen, wenn sie wiederum zur Erde heruntersteigen, keinen Sinn mehr haben. Man wird sagen: Wo ist denn der her? Der ist nicht von einem Volke, der ist nicht von einer Rasse, der ist, wie wenn er aus allen Rassen und Völkern herausgewachsen wäre. […] die Zeit wird kommen, wo man nicht mehr wird sagen können: Der Mensch schaut so aus, also gehört er dorthin, er ist ein Türke oder Araber oder ein Engländer oder ein Russe oder ein Deutscher; sondern man wird sagen müssen: Der Mensch war in einem früheren Erdenleben dazu gedrängt, sich nach dem Geistigen im Michaelischen Sinne zu wenden. So dass also unmittelbar physisch-schöpferisch, physisch-gestaltend dasjenige auftritt, was von Michael beeinflusst ist«. GA 237, S. 141. [Den Hinweis auf diese Aussagen Steiners verdanke ich Lorenzo Ravagli :-)]. ↑
- Karlheinz Deschner, Kriminalgeschichte des Christentums, 10 Bände Hamburg, 1986-2013. ↑
- David Marc Hoffmann: Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs, Berlin/New York 2011. ↑
- Helmut Zander, Anthroposophie in Deutschland, Bd. 1, S. 514. ↑
- Ebd., S. 515. ↑
- Ebd., S. 516. ↑
- Die Ansprache Hoffmanns ist nur noch über eine wayback-machine auffindbar: https://web.archive.org/web/20120331133733/http://augustinus.de/bwo/dcms/sites/bistum/extern/zfa/lexikon/praesentation/praesentation_bd_3_schwabe.html ↑
- Broschüre »›No World Order‹. Wie antisemitische Verschwörungsideologien die Welt verklären«, abrufbar auf der Webseite der Amadeus-Antonio-Stiftung, hier S. 4. ↑
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die Zusammenarbeit Hoffmanns mit Christian Clemens und seine SKA konnte man das auch nicht verstehen als ein Bestreben offene Anthroposophie in obigen Sinne zu betreiben?
Sehr gut geschrieben! Ich mag ja polemische Zuspitzung, aber hier werden reihenweise namentlich bekannte und zumindest von mir geschätzte KollegInnen verunglimpft nach dem Motto alle doof außer mir. Wenn man sich Mühe gibt, kann man z.B. auch den Begriff „Medienschaffende“ partout nicht verstehen wollen und daraus ableiten, wenn diese Idioten noch nicht mal sagen können, was sie eigentlich machen, ist von Ihnen nicht mehr zu erwarten. Das Thema Verschwörungstheorien ist zu ernst und wirkungsvoll in der Gesellschaft heute, als dass man einfach sagen könnte, hier sollen „Andersdenkende“ auf Linie gebracht werden. Über die Qualität einzelner Kleinbeiträge dazu kann man sich streiten, die Thematisierung ist wichtig.
Sehr geehrter Herr Denger,
Verstünde man den Ausdruck »Idiot« (der im von Ihnen kommentierten Artikel nicht verwendet wird) im ursprünglichen Wortsinn, wäre er eine Auszeichnung.
In seinem Blog belleslettres.eu hat Daniel Scholten jüngst darauf hingewiesen:
Im alten Athen war der »Idiot« ein freier Mann ἐλεύθερος (eleútheros).
Frei, »nicht im Sinne von frei von einem Herrn oder irgendwas, sondern zugehörig zur herrschenden Schicht. Sklaven nannte man dagegen δοῦλος (dũlos).
Als ἰδιώτης (idiōtēs) galt in Attika jeder Bürger, der sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern konnte, weil er kein Staatsamt ausübte. Der Idiotes ist also das Gegenteil eines Amtsträgers. Er handelte und sprach nur für sich selbst, während ein Amtsträger ja im Namen der Athener (Athen) sprach und amtshandelte.«
Neben »Privatmann« »bedeutet ἰδιώτης (idiōtēs) sekundär unkundig, das als nicht zuständig, nicht kompetent zu verstehen ist, denn zuständig und kompetent sind im Rahmen des Öffentlichen nur die Staatsämter. Gemeint ist also nicht charakterliche oder intellektuelle Ahnungslosigkeit.
Davon, daß die Idiotai im alten Athen nichts zu melden hatten […], kann keine Rede sein: Es handelte sich schließlich um die Masse der Männer mit Bürgerrecht, und Athen war eine direkte Demokratie.«
http://www.belleslettres.eu/content/wortkunde/idiot-idiotes.php
Zu den Genderpartizipien (Medienschaffende / Kulturschaffende usw.) hat Scholten in einem weiteren Blogbeitrag alles Nötige gesagt:
http://www.belleslettres.eu/content/deklination/genus-gendersprech.php
Herzliche Grüße