Gefährdete Freiheit. Vorschläge zu ihrer Verteidigung

Zuletzt aktualisiert am 19. April 2024.

Jonathan Haidt

Jonathan Haidt, 2012. Miller Center of Public Affairs, Charlottesville, VA – Flickr, CC BY 2.0.

Im ersten Teil unserer Auseinandersetzung mit Noah Carls Essays über die gefährdete Freiheit wurde darauf hingewiesen, dass der Autor einen Aspekt des Problems, wie Universitäten und Hochschulen in der Gesellschaft verankert sind, ausgeblendet habe: nämlich die Interferenz zwischen Bildung (Institutionen zur Weitergabe und Fortentwicklung von Kultur) und Ökonomie (Unternehmen, deren Wertschöpfung letztendlich das gesamte Kultursystem einer Gesellschaft unterhält, auch den »steuerfinanzierten« Teil).[1]

In einem zweiten Aufsatz geht Carl nun aber auf Vorschläge zu ihrer Verteidigung ein. Zu diesen gehören auch solche, die sich auf die Finanzierung des Bildungswesens beziehen. Der erwähnte Hinweis gilt also nur für den ersten Aufsatz.

Insgesamt stellt er acht Ideen vor: 1. Druck auf die Institutionen, 2. finanzielle Austrocknung, 3. Gründung neuer Universitäten, 4. vorbeugende Selbstverpflichtungen, 5. Einführung von »Vorkämpfern (»champions«) der akademischen Freiheit«, 6. Aufnahme des Kriteriums der akademischen Freiheit in Rankinglisten, 7. Gründung eines akademischen Verteidigungsbündnisses, 8. Gründung neuer Zeitschriften.

1. Druck auf die Institutionen

Zunächst geht es laut Carl darum, die Öffentlichkeit für das existierende Problem zu sensibilisieren. Dem Ideal der Freiheit verbundene Akademiker, Spender und andere Interessengruppen sollten auf die Institutionen, denen sie verbunden sind, mäßigenden Einfluss ausüben.[2] Besondere Verdienste hat sich Carls Auffassung nach der Sozialpsychologe Jonathan Haidt bei dieser Sensibilisierung erworben, der zusammen mit Greg Lukianoff das Buch The Coddling of the American Mind (Die Verhätschelung des amerikanischen Geistes) verfasste und mit dem Rechtswissenschaftler Nicholas Quinn Rosenkranz die Heterodoxe Akademie gründete.

Beispielhaft für Haidts Argumentation stehen zwei Vorträge.

Im ersten dieser Vorträge, mit dem Titel Two Incompatible Sacred Values at American Universities, erinnert Haidt seine Zuhörer in Harvard an die Bedeutung des aristotelischen Begriffs des telos. Das telos (die causa finalis) beschreibt das Ziel, auf das eine Institution ausgerichtet ist.[3] Es bestimmt jedoch nicht deren Endzweck, sondern sollte sich auch allen Verfahren aufprägen, die sie entwickelt, um diesen zu erreichen. Das Ziel des Arztes ist, zu heilen. All seine Handlungen als Arzt sollten auf diesen Endzweck ausgerichtet, jede einzelne ärztliche Tätigkeit eine potentiell heilende sein. Das Ziel eines Rechtsgelehrten ist die Gerechtigkeit, das Ziel eines Unternehmers die Erzeugung von Gütern oder Werten, die ihm und anderen die Erzeugung neuer Güter und Werte ermöglichen.

Auch Bildungs- und Forschungseinrichtungen ist ihr telos eingeschrieben.[4] Häufig finden sich diese Ziele als Leitideen auf den Wappen amerikanischer Universitäten. Das Motto von Harvard lautet »Veritas«[5] (Wahrheit), das von Yale »Lux et veritas«[6] (Licht und Wahrheit). Diese Inschriften bringen das höchste Ziel der beiden Bildungseinrichtungen und zugleich jenes der Wissenschaften zum Ausdruck, das Ziel, nach der Wahrheit bzw. der Erleuchtung zu streben.

Nun haben aber laut Haidt einige amerikanische Universitäten sich offenbar ein neues Telos gesetzt: die soziale Gerechtigkeit. Er hält es deshalb für angebracht, diese Universitäten nicht mehr als wissenschaftliche Institutionen zu betrachten, sondern als religiöse Bildungseinrichtungen, deren Ziel es ebenfalls nicht ist, der Wahrheit zu dienen, sondern z. B. »Christus und der Förderung seines Königreichs auf Erden« wie im Fall des Wheaton-Colleges in Massachusetts.

Laut Haidt stehen heute viele amerikanische Universitäten vor der Entscheidung, ob sie die Wahrheit als ihr oberstes telos beibehalten oder die »soziale Gerechtigkeit« als der ersteren widersprechendes Ziel mit aufnehmen bzw. an deren Stelle setzen wollen.

Im zweiten Vortrag, mit dem Titel Why a Twenty-First Century Enlightenment Needs Walls, der in der Royal Society of Arts in London stattfand,[7] vergleicht Haidt die bürgerliche Gesellschaft mit der Titanic. Die Titanic galt als unsinkbar, weil der Bauch des Schiffes mit automatisch schließenden Wasserschutztüren zwischen den abgeschotteten Abteilungen des Rumpfes ausgestattet war. Im Falle eines Lecks sollte das Wasser nur in einen Teil des Rumpfes eindringen können, nicht aber in die übrigen.

Diese Abteilungen des Schiffsrumpfes stehen in Haidts Überlegung für bestimmte Teile der Gesamtgesellschaft, die ihrem je eigenen telos unterstellt sind und jeweils eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorchen, z.B. Religion, Ökonomie, Medizin, Wissenschaft, Familie, Sport, Kunst, Recht usw.

Abbildung der Titanic

Abbildung der Titanic aus Haidts Vortrag. Screenshot

Genauso wie die Titanic sank, als Wasser aus einem der havarierten Abteile trotz aller Erwartungen in die anderen überströmte, besteht auch die Gefahr, dass eine Gesellschaft untergeht, wenn Normen, die in einem ihrer Teile entstanden sind, auf andere übergreifen und diese zu dominieren suchen.

Fühlt sich jemand dadurch an die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus erinnert? Nun, die Assoziation liegt nahe. »Man spricht […] von ›Freiheit der Wissenschaft und des Lehrens‹. Aber man betrachtet es als selbstverständlich, dass der politische Staat die ›freie Wissenschaft‹ und das ›freie Lehren‹ verwaltet. Man entwickelt keine Empfindung dafür, wie dieser Staat dadurch das Geistesleben von seinen staatlichen Bedürfnissen abhängig macht. Man denkt, der Staat schafft die Stellen, an denen gelehrt wird; dann können diejenigen, welche diese Stellen einnehmen, das Geistesleben ›frei‹ entfalten. Man beachtet, indem man sich an eine solche Meinung gewöhnt, nicht, wie eng verbunden der Inhalt des geistigen Lebens mit dem innersten Wesen des Menschen ist, in dem er sich entfaltet. Wie diese Entfaltung nur dann eine freie sein kann, wenn sie durch keine andern Impulse in den sozialen Organismus hineingestellt ist als allein durch solche, die aus dem Geistesleben selbst kommen. […] Kunst, Wissenschaft, Weltanschauung und alles, was damit zusammenhängt, bedarf einer solchen selbständigen Stellung in der menschlichen Gesellschaft. […] Die Freiheit des einen kann nicht ohne die Freiheit des andern gedeihen. […] Denn im gesunden sozialen Organismus muss alles Geistesleben dem Staate und der Wirtschaft gegenüber […] ›Privatsache‹ sein«, schrieb Steiner 1919 in den Kernpunkten der sozialen Frage ...[8]

Tatsächlich ist das Ideal der sozialen Gerechtigkeit, das sich neuerdings Universitäten auf ihre Fahnen oder Schilde schreiben, logisch gesprochen eine metabasis eis allo genos, eine ideelle und soziale Grenzüberschreitung, die Regelsysteme, die für einen bestimmten Lebensbereich konstitutiv sind (den rechtlichen), auf andere überträgt, was zu katastrophalen Folgen führen muss, so als ob man die Regeln, welchen das Verdauungssystem eines Organismus gehorcht, auf sein Nervensystem übertragen wollte oder umgekehrt.

Genau dies aber ist laut Haidt in den letzten Jahren geschehen, da die Regeln der Politik und des Aktivismus in die Universitäten eingedrungen sind und viele Studenten, aber auch deren Angestellte, diese Institutionen nicht mehr als Stätten der Forschung und Lehre, sondern in erster Linie als Orte betrachten, die gesellschaftliche Veränderungen gemäß der identitätspolitischen bzw. »kulturmarxistischen« Agenda bewirken sollen. Abhilfe liegt Haidt zufolge allein darin, dass man sich auf die spezifischen Regelsysteme der jeweiligen Teilbereiche des gesellschaftlichen Lebens besinnt, und dafür sorgt, dass die schädlichen Grenzüberschreitungen unterbunden werden. Das ist die Bedeutung der »Mauern«, die, wie es im Titel des Vortrags heißt, die »Aufklärung des 21. Jahrhunderts« benötigt. Im Fall der Universitäten heißt dies, sich auf die konstitutiven Regelsysteme und Normen des akademischen Lebens zurückzubesinnen, insbesondere die Regeln der Vernunft und ziviler Umgangsformen, sowie die Akzeptanz einer Vielfalt von Standpunkten, die geeignet sind, dem Problem der Bestätigung von Vorurteilen (confirmation bias[9]) entgegenzuwirken.

Carl sieht die Situation allerding nicht allzu optimistisch: Das gegenwärtige Ausmaß des sozialen Gerechtigkeitswahns an den Universitäten und der von ihm ausgelöste Gegenschlag der Konservativen und Republikaner von außerhalb des Campus, könnte seiner Ansicht nach darauf hindeuten, dass Haidt und seine Kollegen einen verlorenen Kampf kämpfen. Dennoch empfiehlt Carl Akademikern und anderen Interessengruppen Druck auf die Universitäten auszuüben. Erstere könnten z.B. Artikel verfassen, in denen sie die Bedeutung einer offenen Untersuchung und der Vielfalt der Standpunkte hervorheben, und sie könnten ihr Engagement für diese Werte signalisieren, indem sie sich Organisationen anschließen, die sich für eben diese Werte einsetzen.

Spender könnten ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen, indem sie Gelder zurückhalten[10] oder darauf hinweisen, dass ihre Unterstützung von der Aufrechterhaltung der Meinungsfreiheit abhängig sei. Angehende Studenten schließlich könnten mit den Füßen abstimmen, indem sie Institutionen meiden, die Sprachkodifizierungen beibehalten, mit Aktivisten koalieren oder auf andere Weise versäumen, den freien Austausch von Ideen zu unterstützen

2. Finanzielle Austrocknung

Ausgerechnet der hierzulande weitgehend dämonisierte Donald Trump hat kürzlich einen Vorstoß unternommen, Universitäten zur Meinungsfreiheit zu verpflichten, wenn sie Forschungsmittel des Bundes (»federal funds«) in Anspruch nehmen wollen.[11] Wie genau der präsidentielle Erlass umgesetzt werden soll, ist allerdings offen. Es ist unklar, wie die Überwachung der Universitäten vonstatten gehen soll und welche Arten von Verstößen sanktioniert werden würden. Viele Hochschulen haben bereits ihren Widerstand gegen die Verordnung angekündigt. Der American Council on Education, der mehr als 1.700 College-Präsidenten vertritt, bezeichnete Trumps Erlass als eine »Lösung auf der Suche nach einem Problem«.[12]

Roger Scruton, The Meaning of Conservatism

Roger Scruton, The Meaning of Conservatism

Der Philosoph Roger Scruton geht noch einen Schritt weiter. Er schlug kürzlich vor, die Universitäten »schlicht abzuschaffen«.[13] Sein Vorschlag richtet sich insbesondere gegen ihre staatliche Finanzierung. Scruton selbst unterrichtet an der Universität Buckingham, der ältesten privaten Universität des Vereinigten Königreichs. Man müsse sicherstellen, so Scruton, dass »die Finanzierungsquellen der Universitäten versiegen«. Es gehe jedoch nicht darum, präzisierte er, auf den wissenschaftlichen Fortschritt zu verzichten, den Universitäten produzierten, sondern darum, zu verdeutlichen, dass manche Bereiche der Wissenschaft sich zu Unrecht auf das Gemeinwohl beriefen, obwohl sie diesem in Wahrheit schadeten. Dies gilt aus Scrutons Perspektive – der selbst »Humanities« (Geisteswissenschaften) unterrichtet – für einen großen Teil dieser Disziplin, die zu einem Tummelplatz pseudowissenschaftlicher Praktiken geworden sei – was nicht zuletzt die »Quengelstudien«-Affäre verdeutlichte (Die Linke gebar ein Monstrum): Peter Boghossian, James Lindsay und Helen Pluckrose, die Redakteurin von Areo, platzierten eine Reihe von Schwindelstudien in wissenschaftlichen Zeitschriften, darunter einen Artikel mit einer »feministisch umgeschriebenen Version« einer Passage aus Hitlers Mein Kampf.[14] Die Affäre verdeutlichte, wie gering die Anforderungen an angeblich wissenschaftliche Publikationen im Bereich der Gender und Race Studies sind, sofern sie sich nur eines etablierten Jargons und der üblichen Literaturbezüge bedienen, die als Ausweis der Fachkenntnis gelten.

Es gibt laut Carl Indizien dafür, dass Wissenschaftler aus den Geistes- und qualitativen Sozialwissenschaften im Aktivismus, insbesondere im Aktivismus, der gegen die freie Rede gerichtet ist, überrepräsentiert sind.[15] An akademischen Petitionen und offenen Briefen beteilige sich eine unverhältnismäßig große Zahl von Angehörigen der Geistes- und qualitativen Sozialwissenschaften, namentlich Vertreter von Gender-Studien, der Kritischen Rassentheorie und Postkolonialer Studien.[16]

Analysen von Wählerregistrierungsdaten zeigten darüber hinaus, dass diese akademischen Disziplinen das geringste Ausmaß an Meinungsvielfalt aufwiesen. Eine von Carl zitierte Studie aus dem Jahr 2018 von Mitchell Langbert ergab, dass das Verhältnis von demokratischen zu republikanischen Professoren in Bereichen wie Ingenieurwesen, Wirtschaft und Mathematik kleiner als 6 zu 1 war, in der Soziologie hingegen rund 44 zu 1, in der Anthropologie 133 zu 1 und in »interdisziplinären Studien« 108 zu 0.[17] Fakultätsbefragungen, die von Mark Horowitz und Kollegen durchgeführt wurden, belegten, dass große Prozentsätze der Soziologen und Anthropologen den Aktivismus als integralen Bestandteil ihrer Arbeit betrachteten. So stimmten 59 % der Soziologen der Aussage zu, »dass ein zentrales Ziel der Soziologie sein sollte, alle Formen sozialer Unterdrückung zu analysieren und zu überwinden«,[18] während 43 % der Anthropologen der Meinung widersprachen, dass »Interessenvertretung und Feldarbeit so getrennt wie möglich gehalten werden sollten, um die Objektivität der Forschung sicherzustellen«[19]

Schließlich seien viele Konzepte der Bewegung gegen die freie Rede wie »weiße Privilegien« oder »epistemische Gewalt« aus den sogenannten theoretischen Geisteswissenschaften hervorgegangen.[20]

Zwar hält Carl Trumps Erlass für »unausgegoren«, die Grundidee, Steuergelder solchen Bildungsinstitutionen vorzubehalten, die ihren (verfassungsmäßigen) Verpflichtungen zum Schutz der Meinungsfreiheit nachkommen, jedoch für vernünftig. Man stelle sich den kollektiven Aufschrei in Deutschland vor, wenn ein führender Politiker vorschlagen würde, die Millionensummen, die aus dem Steuertopf in die Finanzierung von Organisationen fließen, deren Ziel es ist, die Meinungsfreiheit einzuschränken, nur noch solchen zuzuwenden, die sie durch entsprechendes Handeln fördern! Das Grundgesetz enthält aber die nahezu gleichlautende Garantie der Meinungsfreiheit wie die amerikanische Verfassung. Umso verwunderlicher ist es, wenn staatlicherseits die Zensur gefördert wird. Ein entsprechendes, vom Bundestag verabschiedetes Gesetz (es ist vielsagend, dass uns die Vorstellung, der Bundestag könnte ein solches verabschieden, ohne weiteres Nachdenken als absurd erscheint) würde die deutsche Debattenlandschaft – und nicht nur sie – radikal umgestalten. Speziell in Deutschland wäre auch die Zwangsfinanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks abzuschaffen, der zu einer gigantischen Manipulationsmaschinerie degeneriert ist.

Trumps Verordnung wird zwar nach Carls Einschätzung kaum niedrigschwellige Bedrohungen wie Mobbing, Sanktionen durch akademische Zeitschriften und Selbstzensur verhindern. Aber sie könnte dazu beitragen, diesen Bedrohungen entgegenzuwirken.

Die Attraktivität von Scrutons Vorschlag wiederum hängt davon ab, wie hoch man den wissenschaftlichen Wert der Arbeit in den relevanten Disziplinen veranschlagt und ob man es für möglich hält, dass sie überhaupt noch für die Wissenschaft gerettet werden können. Um in diesem Kontext (der Finanzierung von Hochschulen) noch einmal die Kernpunkte der sozialen Frage … zu zitieren: »Nicht nur die Hervorbringung, sondern auch die Aufnahme des Geisteslebens durch die Menschheit muss auf dem freien Seelenbedürfnis beruhen. Lehrer, Künstler und so weiter, die in ihrer sozialen Stellung nur im unmittelbaren Zusammenhange sind mit einer Gesetzgebung und Verwaltung, die aus dem Geistesleben selbst sich ergeben und die nur von dessen Impulsen getragen sind, werden durch die Art ihres Wirkens die Empfänglichkeit für ihre Leistungen entwickeln können bei Menschen, welche durch den aus sich wirkenden politischen Staat davor behütet werden, nur dem Zwang zur Arbeit zu unterliegen, sondern denen das Recht auch die Muße gibt, welche das Verständnis für geistige Güter weckt. […] Der handwerklich Arbeitende […] wird auf dem Boden des politischen Staates die Rechte ausbilden, welche ihm den Anteil sichern an dem Ertrage der Waren, die er erzeugt; und er wird in freier Weise dem ihm zukommenden Geistesgut denjenigen Anteil gönnen, der dessen Entstehung ermöglicht. Auf dem Gebiet des Geisteslebens wird die Möglichkeit entstehen, dass dessen Hervorbringer von den Erträgnissen ihrer Leistungen auch leben. Was jemand im Gebiete des Geisteslebens treibt, wird seine engste Privatsache bleiben; was jemand für den sozialen Organismus zu leisten vermag, wird mit der freien Entschädigung derer rechnen können, denen das Geistesgut Bedürfnis ist. Wer durch solche Entschädigung innerhalb der Geistesorganisation das nicht finden kann, was er braucht, wird übergehen müssen zum Gebiet des politischen Staates oder des Wirtschaftslebens.«[21]

3. Gründung neuer Universitäten

Jordan Peterson sprach sich für die Gründung neuer Universitäten aus, die zu den bestehenden in Wettbewerb treten könnten.[22] Sein Vorschlag impliziert, dass es einen wirtschaftlichen Vorteil bedeutet, wenn man ein besseres Produkt auf den Markt bringt als andere, im vorliegenden Fall also eine Universitätsausbildung, in der alle Ideen diskutiert werden können, im Unterschied zu einer anderen, von der manche Ideen ausgeschlossen sind. Die Gründung einer neuen Institution, die sich der Meinungsfreiheit verschreibt, könnte nicht nur ökonomischen Gewinn bringen, sondern auch bestehende Institutionen dazu anregen, ihrerseits Änderungen vorzunehmen und damit die allgemeine Qualität der Bildung zu verbessern.

Jordan B. Peterson, 12 Rules for Life

Petersons ursprüngliche Idee war es, eine Online-Universität zu gründen. Sie sollte ähnlich wie Streamingdienste durch ein monatliches Abonnement finanziert werden, dessen Einnahmen dazu dienen könnten, die Bildungsinhalte zu produzieren. Eine solche Online-Universität würde Menschen ansprechen, die die erdrückende Atmosphäre[23] und fragwürdigen Kursinhalte[24] der bestehenden Universitäten satt haben. Es gibt allerdings laut Carl zwei Umstände, die dem Erfolg dieser Idee entgegenstehen.

Der erste sei, dass bestehende Universitäten ihren Studenten nicht nur Bildung anbieten, sondern ein ganzes Bündel weiterer Dienstleistungen. Zum Beispiel die Möglichkeit, außerhalb des Elternhauses zu wohnen, neue Bekanntschaften zu machen, einen potenziellen Ehepartner zu finden, außerschulische Aktivitäten auszuüben und an interuniversitären Sportveranstaltungen teilzunehmen. Während die Verwaltung von Vorlesungen und Prüfungen online relativ einfach sein dürfte, sei es nahezu unmöglich, auf diesem Wege die anderen Dienstleistungen anzubieten bzw. durchzuführen. Zudem hingen die Entscheidungen Jugendlicher, welche Universität sie besuchen, bis zu einem gewissen Grad davon ab, wo andere junge Menschen hingingen, und gegenwärtig entschieden sich fast alle dafür, ein drei- oder vierjähriges, real existierendes College mit all den Vorteilen, die es biete, zu besuchen.

Der zweite Umstand, der dem Erfolg der Idee entgegensteht, ist laut Carl die Tatsache, dass Studenten dazu neigten, Universitäten auf der Grundlage ihres allgemeinen »Prestiges« zu wählen, und nicht aufgrund der tatsächlichen Qualität der Lehre, die sie anböten. Die renommiertesten Institutionen seien in der Regel die ältesten, wie Oxbridge und die Ivy League, die über große Stiftungen verfügten, viele berühmte Alumni aufwiesen und mit ihren attraktiven neogotischen Szenerien lockten.

Die Frage, warum angehende Studenten mehr auf das Prestige als auf die Unterrichtsqualität einer Uni achteten, beantwortet Carl mit dem Hinweis auf Bryan Caplans Untersuchung The Case Against Education, nach welcher der Besuch einer Universität nicht sonderlich zur Vermehrung des Humankapitals eines Individuums beitrage. Nach dem sogenannten Signalmodell von Bildung ergebe sich der Wert eines Universitätsabschlusses[25] eher aus dem, was der Besuch einer prestigeträchtigen Uni über die zu erwartenden Eigenschaften eines Individuums – wie Intelligenz, Arbeitsmoral und Anpassungsbereitschaft – aussage, als aus irgendwelchen nachhaltigen Auswirkungen auf dessen Wissen oder Fähigkeiten. Wenn dies zutreffe, scheine es rational, eine Universität zu wählen, deren Abschlüsse dafür bekannt seien, dass sie hohe Produktivität signalisierten, woraus folge, dass man sich für eine angesehene und schwer zugängliche Universität entscheide.

Mit jemandem wie Peterson an der Spitze hätte eine neue Online-Universität im Wettstreit um Prestige möglicherweise eine Chance. Aber eine große Anzahl von Studenten von renommierten Hochschulen wie Oxford, Harvard und MIT wegzulocken, wäre ein nahezu aussichtloses Unterfangen[26].

4. Vorbeugende Selbstverpflichtungen

Ein weiterer Vorschlag wurde vom FIRE-Präsidenten Greg Lukianoff vorgebracht: die Verwendung vorbeugender Selbstverpflichtungen oder verpflichtender Leitbilder.[27]

Greg Lukianoff, Jonathan Haidt, The Coddling of the American Mind

Administratoren, so Carl, würden es im Prinzip vorziehen, Forderungen nach Zensur nicht nachzugeben. Sobald sich jedoch ein Protest erhebe und Aktivisten begännen, mit Beschimpfungen um sich zu werfen[28] und andere Formen emotionaler Erpressung zu nutzen, könnten Administratoren entgegen ihrer Überzeugung zum Schluss kommen, dass es für die Institution von Vorteil sei, den Forderungen nachzugeben, um den Skandal zu minimieren.

Die wirksamste Strategie, um solche Ad-hoc-Entscheidungen gegen die eigenen Prinzipien zu verhindern, bestehe darin, sich möglichen Forderungen von Aktivisten vorab entgegenzustellen. Wenn es gelinge, konsequent vorzugehen, hätten die Aktivisten weniger Anreiz, Proteste zu inszenieren und Petitionen zu starten. Laut Lukianoff, »sollte eine entsprechende Politik öffentlich und nachdrücklich kommuniziert werden, bevor eine Kontroverse überhaupt entsteht.«

Eine von FIRE empfohlene Option besteht darin, sich der »Chicago-Erklärung« anzuschließen – einer Erklärung zur Bedeutung der Meinungsfreiheit, die 2015 von der Universität Chicago verabschiedet wurde.[29] Seit November 2019 haben 70 US-Colleges eine Version der Erklärung angenommen, was Carl als vielversprechender Start erscheint.

Die Erklärung der Uni Chicago hat seiner Auffassung nach allerdings den Nachteil, dass sie relativ lang und umständlich formuliert ist. Ein weiterer Mangel der Erklärung bestehe darin, dass sie nicht explizit das Problem anspreche, dass Universitäten aufgefordert würden, Verhalten oder Äußerungen ihrer Angestellten offiziell anzuprangern oder zu dementieren. Eine häufige Taktik von Aktivisten bestehe darin, öffentliche Erklärungen einzufordern, die sich von einer bestimmten Person, einem Artikel oder einer Idee distanzierten. [30]

Carl schlägt daher eine alternative Erklärung vor:

Diese Universität bekennt sich zur Meinungsfreiheit. Außer wenn ein Gesetz dies vorschreibt, wird sie keine Person wegen ihrer geäußerten Überzeugungen sanktionieren. Einzelpersonen dürfen auf dem Campus frei sprechen, solange sie andere nicht bedrohen, einschüchtern oder belästigen. Die Universität gibt keine Kommentare zu den Äußerungen einzelner Personen ab.

Eine derartige Erklärung ließe sich an Anschlagbretter heften, an Universitätsdokumente anhängen oder in offiziellen E-Mails zitieren. Wenn es jemals zu einer Situation käme, in der Aktivisten Auftrittsverbot für einen Redner oder die Entlassung eines Akademikers forderten, könnte die Universitätsverwaltung auf die Erklärung verweisen und sagen: »Was Sie fordern, widerspricht unserer Politik der Meinungsfreiheit, über die wir sie vorab informiert haben.«

Allerdings treffe es nicht immer zu, so Carl weiter, dass Administratoren es vorzögen, niemals Forderungen nach Zensur nachzugeben. Wie der Politikwissenschaftler Sam Abrams betont habe[31], förderten Universitätsverwalter sogar häufig den studentischen Aktivismus. Abrams zufolge habe das Studentenbüro seiner eigenen Institution, des Sarah Lawrence Colleges, viele »offensichtlich progressive Veranstaltungen« organisiert, darunter Programme wie »Bleib gesund, bleib bewusst (woke)« oder »Weiße Privilegien erkennen«. Abrams’ Darstellung stimme mit den Beobachtungen Steven Pinkers überein, der behaupte, viele illiberale Aktivitäten gingen »von einer radikalen Randgruppe von Studenten aus, die von einer autonomen Bürokratie studentischen Lebens angestachelt« werde.[32] In einem »besonders ungeheuerlichen Fall administrativer Komplizenschaft« seien zwei der Aktivisten, die Professor Nicholas Christakis im Silliman College Yale belästigten, für ihre Bemühungen sogar mit Preisen für die Förderung von »Rassenbeziehungen« ausgezeichnet worden.[33] Und wie Heather MacDonald bemerke, sei kein einziger Student »jemals für die groteske Insubordination«, die er gegenüber Christakis gezeigt habe, »diszipliniert oder auch nur gerügt« worden.[34] Die Wirksamkeit von Selbstverpflichtungen setze voraus, dass die Verwaltung gewillt sei, sie auch tatsächlich konsequent anzuwenden.

5. »Vorkämpfer der akademischen Freiheit«

Ein weiterer Vorschlag stammt von den Politikwissenschaftlern Tom Simpson und Eric Kaufmann. Sie empfehlen »akademische Vorkämpfer der Freiheit« an Universitäten und in Englands nationaler Regulierungsbehörde (Office for Students) zu ernennen.[35]

Was genau würden diese Meister der akademischen Freiheit tun? An Universitäten würden sie dem Vorschlag zufolge mit vier Hauptaufgaben betraut: sie müssten »Beschwerden über politische Diskriminierung untersuchen« und »gegebenenfalls Maßnahmen empfehlen«; »Hinweise von Informanten auf politische Diskriminierung bei akademischen Ernennungen und Beförderungen untersuchen«; einen Jahresbericht über den Stand der akademischen Freiheit an ihrer Hochschule erstellen und »bestehende Politiken und Verhaltenskodizes prüfen und gegebenenfalls überarbeiten«. In der britischen Regulierungsbehörde hätte der Vorkämpfer der akademischen Freiheit zwei Hauptaufgaben: »Vorwürfe von Verstößen gegen die akademische Freiheit« an bestimmten Institutionen zu untersuchen und »verstärkte Überwachung oder andere Sanktionen« für Institutionen durchzusetzen, bei denen solche Vorwürfe sich als wahr erwiesen hätten.

Der Hauptvorteil dieses Vorschlags besteht laut Carl darin, dass er dem Grundsatz der akademischen Freiheit jene breite institutionelle Unterstützung angedeihen ließe, die den Grundsätzen der »Gleichheit« und »Diversität« bereits zuteil werde. Simpson und Kaufmann wiesen darauf hin, dass ohne eine solche institutionelle Unterstützung die Gefahr bestehe, »dass expansive Interpretationen der Forderungen nach Gleichheit und Diversität, die in der Praxis zur Legitimierung politischer Diskriminierung dienen, de facto Priorität erhalten.« Carl gibt jedoch zu bedenken, dass dieser Vorteil auch als Hauptnachteil des Vorschlags angesehen werden könnte. Denn wenn eine bürokratische Infrastruktur zum Schutz der akademischen Freiheit neben die bereits bestehende trete, die über die Prinzipien der Gleichheit und Diversität wache, werde implizit zugestanden, dass die akademische Freiheit nur eines von mehreren Prinzipien sei – im Gegensatz zum einzigen Prinzip –, das Universitäten fördern sollten. Doch die Prinzipien der Gleichheit und Diversität bedürften zumindest des gleichrangigen Gegengewichts der akademischen Freiheit, wenn es schon nicht gelinge, sie wieder aus den Universitäten zurückzudrängen, wofür manche Autoren plädierten.[36]

6. Rankings der akademischen Freiheit

Mohan Dutta, Richard Ashford und Shampa Biswas schlugen vor, das Kriterium der akademischen Freiheit in Hochschulranglisten aufzunehmen.[37] So habe zum Beispiel die Universität Illinois nach dem Rückzug eines Jobangebots an Professor Steven Salaita[38] nach »anti-israelischen« Tweets einen mehrjährigen Skandal (mit Protesten, einem Massenboykott und einer Zurechtweisung durch die Amerikanische Vereinigung der Hochschulprofessoren) durchlebt, aber diese Vorgänge hätten sich kaum auf ihre Position in der nationalen Universitätsbenotung ausgewirkt. Die Autoren vertreten die Auffassung, wenn man bedenke, wie wichtig die Redefreiheit der Professoren für die Hochschulbildung sei, dann hätten die Geschehnisse in Illinois sich in einem Abstieg der Universität auf den Ranglisten widerspiegeln müssen.

In die Ranglisten des U.S. News & World Reports[39] gehen sogenannte »Expertenmeinungen« ein, die aus Befragungen hochrangiger Mitarbeiter von Universitätsverwaltungen generiert werden. Es wäre möglich, Fragen zur akademischen Freiheit hinzuzufügen oder – alternativ – eine neue Befragung zu diesem Thema durchzuführen. Allerdings liegt das Problem solcher Befragungen darin, dass Mitglieder der Universitätsverwaltung oft mehr um den öffentlichen Ruf ihrer Institution besorgt sind, als um die akademische Freiheit. Eine weitere Möglichkeit bestünde laut Dutta et al. darin, Universitäten aufgrund des Vorhandenseins von institutionellen Aussagen zur Unterstützung der akademischen Freiheit, einer robusten Strategie zum Umgang mit angeblichen Verstößen und einiger weiterer verwandter Kriterien einzustufen. Eine Einstufung aufgrund des Vorhandenseins von Sprachkodifizierungen wäre ebenfalls denkbar. Darüber hinaus könnten Ad-hoc-Sanktionen gegen Universitäten verhängt werden, die Referenten ausgeladen oder Akademiker sanktioniert haben.

Zweifellos wäre jedes Kriterium für akademische Freiheit, nach dem Universitäten eingestuft werden – auch eines, das tatsächliche Zensurvorfälle berücksichtigte – möglichen Manipulationen ausgesetzt. Die Universitäten könnten die Neigung entwickeln, Lippenbekenntnisse zur Bedeutung der akademischen Freiheit abzugeben und gleichzeitig darauf hinwirken, das Risiko von Kontroversen zu minimieren, indem sie beispielsweise ihre Personalabteilungen »ermutigten«, sich für Kandidaten mit »geringem Risiko« zu entscheiden. Trotzdem dürften die Vorteile der Einbeziehung von Maßnahmen zugunsten der akademischen Freiheit in die Hochschulbenotungen – und damit die Rechenschaftspflicht der Institutionen – laut Carl überwiegen. Schließlich dürfte die Existenz mehrerer miteinander konkurrierender nationaler und internationaler Hochschulranglisten, die voraussichtlich jeweils unterschiedliche Kriterien der akademischen Freiheit implementieren würden, es den Bildungseinrichtungen schwerer machen, alle gleichzeitig auszutricksen.

7. Akademische NATO

Der Historiker Niall Ferguson schlug mit leicht ironischem Unterton die Schaffung eines akademischen Äquivalents zur NATO vor.[40] Artikel 5 des Nordatlantikpakts – der ursprünglich zur Eindämmung der geopolitischen Expansion der Sowjetunion eingeführt wurde –, bestimmt, dass »ein bewaffneter Angriff gegen eines oder mehrere [Mitglieder des Pakts] als Angriff gegen alle angesehen werden wird«. Bei einem solchen Angriff tritt der kollektive Verteidigungsfall für das gesamte Bündnis ein.

Niall Ferguson, Der Westen und der Rest der Welt

Eine akademische NATO müsste Ferguson zufolge genau so funktionieren. Alle intellektuellen Dissidenten, die sich bedroht fühlten, würden ein Abkommen unterzeichnen, in dem jeder von ihnen versprechen müsste, jeden anderen, der zufällig von Aktivisten angegriffen wird, öffentlich zu verteidigen. (Laut Ferguson »hängen wir entweder alle zusammen oder jeder für sich.«) Dabei wären die Unterzeichner nicht verpflichtet, die gesamte Arbeit des angeprangerten Individuums öffentlich zu verteidigen, sondern lediglich sein Recht, seine Überzeugungen frei von Schikanen, Einschüchterung und Angst vor Existenzverlust zum Ausdruck zu bringen.

Ein Mechanismus, mit dem eine akademische NATO eine gemeinsame Verteidigung erreichen könnte, bestünde darin, schnell Petitionen – oder Gegenpetitionen – zur Verteidigung bedrängter Akademiker zu organisieren. Diese Petitionen würden in erster Linie dazu dienen, die Beanstandeten der Unterstützung ihrer Mitstreiter zu versichern. Und da Stärke auch in Zahlen liege, trügen sie dazu bei, das zu überwinden, was Lukianoff und Haidt in The Coddling of the American Mind (https://amzn.to/2rKCW0g) »die Angst vor der Verteidigung der Angeklagten« genannt hätten. Gegenpetitionen könnten auch dazu beitragen, künftige Ausladungsversuche abzuschrecken, da sie breiten Widerstand dokumentierten. Als beispielsweise die Historikerin Rachel Fulton-Brown in einem offenen Brief angeprangert wurde[41], die »theoretischen Grundprinzipien der Rassentheorie« zu missachten, organisierte die National Association of Scholars (eine konservative Vereinigung von Akademikern) einen offenen Brief, der sie verteidigte. Zwar sollten akademische Streitigkeiten nicht durch eine endlose Reihe von Petitionen und Gegenpetitionen beigelegt werden. Aber manchmal, so Carl, müsse Feuer auch mit Feuer bekämpft werden.

Ferguson brachte die Idee einer akademischen NATO Anfang 2019 ins Gespräch. Seitdem versuchte der Journalist Toby Young, eine ähnliche Organisation zu schaffen. Er schlug vor, eine »Free Speech Union« zu gründen, die wie eine Gewerkschaft für Betroffene funktionieren würde, die befürchten, ihre Rederechte könnten bedroht werden. Die Organisation könnte den Mitgliedern »Zugang zu einer Liste von Diffamierungs- und Beschäftigungsanwälten, Fachberatung zum Crowdfunding für ihre Prozesskosten, Zugang zu Listen von potenziellen Spendern und PR-Beratung« zur Verfügung stellen, sowie eine »günstige Medienberichterstattung [und] Zugang zu einem Netzwerk von sympathisierenden Kollegen generieren, von denen viele durch eine ähnliche Folter gegangen sein werden.«[42]

8. Neue Zeitschriften

Einen weiteren Vorschlag machten vergangenes Jahr die Philosophen Francesca Minerva, Jeff McMahan und Peter Singer: die Schaffung einer neuen Zeitschrift mit dem ausdrücklichen Ziel, Debatten über strittige Themen zu fördern. Die Zeitschrift, die diese Akademiker gegründet haben, nennt sich Journal of Controversial Ideas. Die Idee für das Projekt kam von Francesca Minerva, die 2012 als Koautorin eines Artikels über die Ethik der Abtreibung nach der Geburt (»after-birth abortion«, Euphemismus für Infantizid)[43] ihre eigenen Erfahrungen mit Kontroversen machen durfte. Der Artikel provozierte nicht nur eine Flut von Droh-E-Mails, sondern führte auch dazu, dass beide Autoren akademische Beschäftigungsmöglichkeiten verloren.

Ziel des Journal of Controversial Ideas ist es,[44] Akademikern die Publikation von Artikeln zu ermöglichen, die manche als »offensiv, unmoralisch oder gefährlich« betrachten könnten und ihnen dabei zu helfen, dies »ohne Angst vor Belästigung« zu tun. Eine Neuerung der Zeitschrift ist, dass Autoren die Möglichkeit haben, unter Pseudonym zu publizieren, was sie vor Bedrohungen und etwaigen Ausladungen schützen soll. Wie die Gründer anmerken, erlaubt es die Anonymität, »jungen, unbestallten oder … schutzbedürftigen Akademikern, die sonst von der Veröffentlichung abgehalten werden könnten, Ideen zu äußern, ohne um ihre persönliche Sicherheit oder ihren beruflichen Lebensunterhalt zu fürchten.«

Die Entscheidung der Gründer, Anonymität anzubieten, stieß auf Kritik[45]: sie werde es Autoren ermöglichen, höchst umstrittene Ideen zu publizieren, ohne »Verantwortung zu übernehmen« oder »zur Rechenschaft für sie gezogen zu werden«.[46]

Auf diese Kritik haben die Gründer mit einigen Gegenargumenten reagiert.

Erstens gebe es bedeutende Vorbilder für die Verwendung von Pseudonymen oder Noms de plume[47] in der wissenschaftlichen Publizistik, eines der berühmtesten Beispiele sei der Anwalt der freien Meinungsäußerung George Orwell.

Zweitens müssten sich »Ideen aufgrund ihrer eigenen Verdienste bewähren oder verworfen werden«; es sei jedenfalls besser, eine interessante Idee anonym in die öffentliche Diskussion einzubringen – wo sie erforscht, diskutiert und potenziell widerlegt werden könne –, als sie überhaupt nicht zu publizieren.

Drittens wirke sich die Veröffentlichung eines pseudonymen Artikels mangels Zuschreibung nicht positiv auf die Laufbahn seines Autors aus, daher sei es unwahrscheinlich, dass jemand den damit verbundenen Aufwand in Kauf nehme, der nicht ernsthaft der Überzeugung sei, einen wichtigen Beitrag zur Erweiterung der Erkenntnis zu liefern, der einer breiteren Betrachtung wert sei.

Andere Kritiker wandten ein, das Journal stelle eine »Kapitulation« vor genau jener akademischen »Kultur« dar, die Minerva, McMahan und Singer überhaupt erst veranlasst habe, die Zeitschrift ins Leben zu rufen.[48] Die Autoren, die diese Kritik vorgebracht haben – Bradley Campbell und Clay Routledge – befürchten, dass die Zeitschrift ein »neues Opfernarrativ« im Zusammenhang mit akademischer Zensur schaffen könnte. Carl hält diesen Einwand für wenig stichhaltig, da nicht klar sei, wie ein solches »Narrativ« entstehen sollte, da allein die Veröffentlichung von Artikeln in derselben Zeitschrift kaum zu einer besonderen Verbundenheit führe. Campbell und Routledge halten es außerdem für sinnvoller, wenn jede Zeitschrift ein Ort für Kontroversen wäre. Diesem Plädoyer dürfte kein Befürworter der akademischen Freiheit widersprechen, doch dürfte es nicht sehr realistisch sein, ausgerechnet von jenen Zeitschriften die Förderung von Debatten über strittige Themen zu erwarten, die sie bisher erfolgreich verhindert haben. Schließlich ist ihre Veröffentlichungspolitik mit ein Grund für die Gründung des Journal of Controversial Ideas. Dessen Existenz könnte hingegen die etablierten Zeitschriften dazu anregen, sich ebenfalls wieder vermehrt dem Dissens als dem Ferment des Erkenntnisfortschritts zuzuwenden.

Um diese Betrachtung mit einem weiteren Popper-Zitat abzuschließen: »Wir sollten […] im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamkeit nicht zu dulden. Wir sollten geltend machen, dass sich jede Bewegung, die die Intoleranz predigt, außerhalb des Gesetzes stellt, und wir sollten eine Aufforderung zur Intoleranz und Verfolgung als ebenso verbrecherisch behandeln, wie eine Aufforderung zum Mord, zum Raub oder zur Wiedereinführung des Sklavenhandels.«[49] Betrachten wir aus der Perspektive dieser Maxime die geistige Situation in unseren westlichen Demokratien.


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Anmerkungen:


  1. Auch der letztere Teil der Kulturfinanzierung beruht auf der Wertschöpfung der Unternehmen, da es ohne diese keine Einkommen und damit keine Steuern gäbe, die von der Legislative (oder Exekutive) zur Finanzierung anderer gesellschaftlicher Aufgaben abgeschöpft werden könnten.
  2. Da eine Reihe der bedeutendsten amerikanischen Universitäten von privaten Stiftungen und nicht von der öffentlichen Hand finanziert werden, haben erstere einen erheblichen Einfluss auf die von ihnen geförderten Institutionen: Colleges and universities in the US by endowment. Wikipedia.  
  3. Jonathan Haidt: Two Incompatible Sacred Values at American Universities. Speech at Harvard. youtube.  
  4. Der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach beispielsweise ist das telos eingeschrieben, »auf geistigem Felde« zu forschen.
  5. Das ursprüngliche Motto von Harvard, der ältesten amerikanischen Universität, die 1636 von Puritanern gegründet wurde, lautete: »Veritas Christo et Ecclesiae« (»Die Wahrheit für Christus und die Kirche«).
  6. Yale ist die drittälteste Universität der USA und wurde 1701 gegründet. Der Name der Universität stammt von einem Stifter, Elihu Yale, der als Repräsentant der Ostindischen Kompanie in Madras ein Vermögen gemacht hatte und der Universität die Errichtung eines neuen Domizils ermöglichte. »Lux et veritas« sind mögliche Übersetzungen der hebräischen Inschrift des Buches auf dem Wappen. Abgebildet sind die Worte Urim und Thummim, die Namen der Orakelsteine des Hohepriesters der Israeliten. Ex 28,30. Buber übersetzt die Namen mit: »die Lichtenden und die Schlichtenden«, eine andere Übersetzung lautet: »Lichter und Vollkommenheiten«, Luther übersetzte: »Licht und Recht«. Sowohl Luthers als auch Bubers Übersetzung widerspräche Haidts Argument, Yale sei allein der Wahrheit verpflichtet, denn Recht oder Schlichtung bedeutet auch Gerechtigkeit.
  7. Jonathan Haidt: Why a 21st Century Enlightenment Needs Walls. RSA Replay. youtube.  
  8. Rudolf Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft, Dornach 1976, S. 81 f. Unter »Privatsache« ist im Zusammenhang der Ausführungen der Kernpunkte eine Sache zu verstehen, die den Staat nichts angeht und in die er durch Gesetze nicht hineinregieren darf, die aber ebenso vor dem Zugriff wirtschaftlicher Interessen geschützt werden muss.
  9. Confirmation Bias: Encyclopedia Britannica  
  10. Javier Espinoza, Gordon Rayner: Cecil Rhodes statue to remain at Oxford University after alumni threaten to withdraw millions. The Telegraph.  
  11. Executive Order On Improving Free Inquiry, Transparency, and Accountability at Colleges and Universities.  
  12. Trump threatens to cut fundings for colleges »hostile to free speech«. The Guardian.  
  13. Sir Roger Scruton: »Get Rid of Universitites Altogether«. Human Events.  
  14. Maria Gonzalez, Lisa A. Jones: Our Struggle Is My Struggle: Solidarity Feminism as an Intersectional Reply to Neoliberal and Choice Feminism. Bei den umgeschriebenen Passagen aus Hitlers Mein Kampf handelt es sich um Ausführungen aus dem 12. Kapitel des ersten Bandes. Helen Pluckrose, James A. Lindsay, Peter Boghossian: Academic Grievance Studies and the Corruption of Scholarship. Areo Magazine.  
  15. James Lindsay: Social Justice is Academia’s New Theology. The American Mind.  
  16. Noah Carl: A List of Academic Petitions and Open Letters. medium.com.  
  17. Mitchell Langbert: Homogenous: The Political Affiliations of Elite Liberal Arts College Faculty. Springer Link.  
  18. Mark Horowitz: Sociology’s Sacred Victims and the Politics of Knowledge: Moral Foundations Theory and Disciplinary Controversies. Springer Link.  
  19. Mark Horowitz et al.: Anthropology’s Science Wars. Current Anthropology, Vol. 60, No. 5, October 2019.  
  20. Musa Al-Gharbi: Seizing the Means of Knowledge Production. Heterodox Academy.
  21. GA 23, Dornach S. 84 f.
  22. Jordan Peterson aims to start an online university. youtube.
  23. Edward Schlosser: I’m a liberal professor, and my liberal students terrify me. Vox.  
  24. Roger Scruton: How Fake Subjects like Women Studies Invaded Academia. Institute of Public Affairs.  
  25. Job Market Signalling. Wikipedia.  
  26. Sean Coughlan: US buyers to protect ethos of AC Grayling’s London college. BBC.  
  27. Greg Lukianoff: Five ways university presidents can prove their commitment to free speech. FIRE.
  28. David Mikics: 100.000 Little Stalinists, tabletmag.  Mikics berichtet über ein neues Trainings-Programm der Stadt New York zum Abbau von Vorurteilen, das für alle Angestellten der Stadt verpflichtend ist. Das Programm erklärt, dass »Perfektionismus«, »Individualismus« und »Objektivität« Ausdrucksformen »weißer Herrschaftsansprüche« seien, und fordert Lehrer dazu auf, diese heimtückischen Werte zu zerstören. »Jeder denkende Mensch«, so Mikics, »wird augenblicklich erkennen, dass dieses Trainingsprogramm allem widerspricht, wozu öffentliche Schulen verpflichtet sind: die Kinder zu fördern und sie gleichzeitig darüber aufzuklären, dass sich Wunschträume von der Realität unterscheiden.«
  29. Report of the Committee on Freedom of Expression, University of Chicago.
  30. Noah Carl: How to Write An Academic Petition. medium.com.  
  31. Samuel J. Abrams: Think Professors Are Liberal? Try School Administrators. The New York Times.  
  32. Steven Pinker: Universities are becoming laughing stocks of intolerance. The Spectator.  
  33. Anemona Hartocollis: Yale Lecturer Resigns After Email on Halloween Costumes. The New York Times.  
  34. Heather Mac Donald: Drawing the Line, At Last. City Journal.  
  35. Tom Simpson, Eric Kaufmann: Academic freedom in the UK. Policy Exchange.  
  36. Zum Beispiel Heather Mac Donald: The Cost of Americas Cultural Revolution. City Journal.  
  37. Mohan J. Dutta, Richard Ashford, Shampa Biswas: College Ranking Metrics Should Include Academic Freedom. Inside Higher ED.  
  38. University of Illinois censored for pulling Steven Salaita job over anti-Israel tweets. The Guardian.  
  39. US News & World Report.  
  40. Niall Ferguson: Join my NATO or watch critical thinking die.
  41. Noah Carl: A List of Academic Petitions and Open Letters. medium.com.  
  42. Toby Young: The Intellectual Dark Web is more liberal than you’d think. The Spectator.  
  43. Alberto Giubilini, Francesca Minerva: After-birth abortion: Why should the baby live? BMJ Journals.  
  44. The Journal of Controversial Ideas: An Interview with Jeff McMahan and Francesca Minerva. Blog of the APA (= American Philosophical Association).  
  45. Ebd.
  46. Ebd.
  47. List of pen names, Wikipedia.  
  48. Bradley Campbell, Clay Routledge: The Problem with »The Journal of Controversial Ideas«. Quillette.  
  49. Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1, Tübingen 1980, S. 359, Anm. 4.

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