Zuletzt aktualisiert am 10. März 2020.
Ausgerechnet zu der Zeit, als die Maryamiyya sich vom Islam zu entfernen begann, gewann der Orden sein erstes und wichtigstes Mitglied, das von Geburt an Muslim war: den Iraner Seyyed Hossein Nasr. Der Iran steht dem Westen in vielerlei Hinsicht näher als die arabische Welt. Teile der iranischen Elite haben sich während des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts verwestlicht. Nasr wurde in diese Elite geboren: er war ein Sayyid, ein Abkömmling des Propheten. Sein Vater war eine Persönlichkeit von nationaler politischer und intellektueller Bedeutung, der frühere Dekan für Kulturwissenschaften an der Universität Teheran und zeitweise iranischer Unterrichtsminister.
Ein großer Teil der geistigen Welt Nasrs war westlich. Die Bibliothek seines Vaters enthielt neben persischen Klassikern Werke Montesquieus und Voltaires. Mit 12 wurde er nach New Jersey auf die Highschool geschickt. Von New Jersey ging er an das Institute of Technology in Massachusetts, um Geologie und Geophysik zu studieren. In seinem zweiten Jahr am MIT erlebte er eine spirituelle Krise, als er die begrenzten Möglichkeiten der Naturwissenschaft zu erkennen begann, die Wirklichkeit zu erklären. Seinen Glauben an die Physik erschütterten Briefe Robert Oppenheimers über das Manhattan Projekt (der aus Hindutexten zitierte) und eine Diskussion mit Bertrand Russell. Er wandte sich der Philosophie zu, schloss aber zuvor sein Studium der Naturwissenschaften ab. Giorgio de Santillana, ein Wissenschaftsphilosoph, der damals am MIT unterrichtete, führte ihn in ein weites Gebiet ein, von Plotin bis zu Jacques Maritain (einst Guénons Förderer am katholischen Institut in Paris), schließlich auch zu Guénon. Einige frühere Studenten Coomaraswamys machten ihn mit dessen Witwe bekannt, die ihm die frühen Werke Schuons zugänglich machte. Guénon, Schuon und Burckhardt halfen ihm aus der Krise. »Seither wusste ich mit Sicherheit«, so Nasr später, »dass es so etwas wie Wahrheit gibt und dass man sie erkennen kann – und zwar durch die Weisheit des Herzens und durch Offenbarung.«
Seine Lektüre weckte in ihm ein Interesse am Hinduismus. Aber die islamischen Werke Burckhardts und Schuons lenkten dieses Interesse wieder um: »Die Schriften der Sufimeister und islamischen Philosophen gewannen für mich eine neue Bedeutung … Aber diese Bedeutung war keine Imitation oder Wiederholung von Dingen, die ich von meinen Eltern übernommen hatte. Sie fußte auf einer Wiederentdeckung nach langer Suche und langem Leiden … Die islamische Weisheit wurde zu einer lebendigen Realität, … weil ich von der Barmherzigkeit des Himmels zur ewigen Sophia geleitet wurde, die sich in dieser Weisheit universell und lebendig verkörpert hat.«
Nasr stand der Religion, der er sein Leben widmen sollte, näher als Coomaraswamy der seinen, aber er näherte sich ihr aus einer westlichen, traditionalistischen Perspektive. Im Unterschied zu Coomaraswamy praktizierte er seine Religion auch. Seine Suche nach Initiation fand ein Ende, als er – wahrscheinlich während eines Besuchs in Marokko – 1957 der Maryamiyya beitrat.
Der Traditionalismus richtete das Interesse Nasrs von der Naturwissenschaft auf die Wissenschaftsphilosophie. Außerdem begann er, sich mit »islamischer Philosophie« zu beschäftigen. Dabei handelt es sich um eine im Iran beheimatete Schule ideeller Esoterik, deren bekannteste Vertreter Suhrawardi (12. Jahrhundert) und Shirazi (16. Jahrhundert) sind. Nasr erlangte einen Doktor der Wissenschaftsphilosophie in Harvard und studierte im Iran unter den zwei führenden Lehrern für islamische Philosophie, Muhammad Husayn Tabatabai’i und Abu’l-Hassan Raf’i Qazwini. Daraufhin begann er sich für die islamische Wissenschaft und Philosophie einzusetzen und diese in einen traditionalistischen Rahmen einzufügen.
Nasrs Leben zerfällt in zwei Hälften: die erste an der Universität Teheran bis zur islamischen Revolution 1979, die zweite in Amerika nach der Revolution. In beiden übte er durch seine Schriften Einfluss aus, aber seine wichtigsten Bücher verfasste er im Iran auf Englisch. Manche dieser Bücher richten sich an ein allgemeines Publikum – insbesondere »Ideals and Realities of Islam«, »The Encounter of Man and Nature: The Spiritual Crisis of Modern Man« und »Sufi Essays«. Sie sind Beispiele eines islamischen Traditionalismus. Andere richten sich an ein spezielleres Publikum und handeln von Werken islamischer Philosophen und der Beziehung zwischen Islam und Wissenschaft. Nahezu alle wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, in westliche und östliche, besonders in Persisch, Türkisch und Malaiisch.
Während seiner iranischen Zeit unterrichtete Nasr Philosophie der Wissenschaft und islamische Philosophie an der Universität Teheran. Hier begründete er die wichtigste traditionalistische Institution des 20. Jahrhunderts: die Kaiserliche Akademie für Philosophie im Iran. Diese wurde 1974 eröffnet und war eine unabhängige Körperschaft, der die Kaiserin Farah vorstand, zu der Nasr gute Beziehungen unterhielt. Ihre Aufgabe war die Verbreitung der traditionellen Wissenschaften, besonders der islamischen Philosophie. Sie sollte ein kleine Elite ausbilden, die ihre Botschaft in andere Institutionen in- und außerhalb des Iran weitertragen konnte. Zehn Stipendien wurden jährlich an herausragende Studenten vergeben, die nach mindestens drei Jahren an der Kaiserlichen Akademie an andere Universitäten im Iran und im Ausland gehen sollten.
Laut Nasrs Ankündigung in der ersten Ausgabe der Zeitschrift der Akademie sollte sich diese aber nicht nur mit der islamischen, sondern auch mit der »vor-islamischen geistigen Tradition Persiens« beschäftigen. Das vor-islamische Persien wurde aber vermutlich nur aus Rücksicht auf die kaiserlichen Gönner erwähnt, denn der Schah war weit mehr an der vor-islamischen, als an der islamischen Geschichte Persiens interessiert. Soweit bekannt, beschäftigte sich die Akademie später nicht mit dem vor-islamischen Persien.
Die Kaiserliche Akademie ist ein Beispiel dafür, dass der Traditionalismus nahezu unsichtbar bleiben kann. Wer nicht mit ihm vertraut ist, dem erscheinen ihre Ziele völlig normal, wer ihn aber kennt, der erkennt in ihnen den traditionalistischen Einfluss.
Der Lehrkörper der Akademie bestand weitgehend aus Maryami, die einem iranischen Zweig des Ordens angehörten, den Nasr in Teheran gegründet hatte, zum Teil aus Traditionalisten, die einem anderen Sufiorden angehörten. Aber viele weitere waren Anhänger der klassischen Schule der iranischen mystischen Philosophie und interessierten sich nicht für den Traditionalismus. Zu den wichtigsten gehörten Ayatollah Jalal al-Din Ashtiyani und Professor Henry Corbin. Ashtiyani, die führende Autorität für islamische Philosophie im Iran, verstand nur Persisch und Arabisch, und las nie eine Zeile von Guénon, obwohl er zweifellos von ihm gehört hatte.
Corbin, einer der bedeutendsten französischen Orientalisten des Jahrhunderts, der eine Zeit lang jeden Sommer als Gast der Akademie im Iran verbrachte, war ebenfalls kein Traditionalist. Im selben Jahr, in dem Nasr die Akademie gründete (1974), rief Corbin in Paris ein »Internationales Zentrum für vergleichende Erforschung der Spiritualität« ins Leben, das unter dem Namen »Université de Saint Jean de Jerusalem« bekannt wurde. Deren Ziel war laut Eliade, der bei der Gründung dabei war, die Wiederherstellung der traditionellen Wissenschaften und Forschungen im Westen. Corbins Zentrum sollte ein Forum für jene höheren Wissenschaften sein, deren Verlust seiner Auffassung nach der Grund und zugleich das Symptom der Krise unserer westlichen Zivilisation war. Es sollte ein geistiges Rittertum begründen, das sich in den Dienst dieses Ziels stellte. Mit der Idee eines geistigen Rittertums verwies Corbin laut Eliade auf »mittelalterliche Mythen, Symbole, initiatorische Strukturen und geheime Organisationen.« Eliade ordnet das Werk des späten Corbin einer »bestimmten esoterischen Tradition« zu, die »unter einer Anzahl europäischer Gelehrter und Denker« wiederauflebte, einer Gruppe, zu der er auch Coomaraswamy zählte.
Aber trotz der Ähnlichkeiten zwischen Corbins Universität und dem Traditionalismus, beschritten Corbin und seine Mitarbeiter einen anderen Weg. Dieser Weg verlief teilweise parallel zu dem des Traditionalismus, aber Corbin und seine Mitstreiter waren keine Traditionalisten. Laut einem französischen Gelehrten, der über diese Frage mit Corbin diskutiert hat, war Corbin an den Gemeinsamkeiten des Islam, des Christentums und des Judentums – auch ihrer esoterischen Aspekte – interessiert. Was ihn nicht interessierte, war die primordiale Religion, die transzendente Einheit oder alles, was mit Hinduismus und nicht-monotheistischen Religionen zu tun hatte. Nasr sagte, Corbin habe eine Abneigung gegen die Lehren der führenden Autoren der traditionalistischen Schule gehabt, Guénon eingeschlossen.
Auch wenn alle Studenten, die an der Kaiserlichen Akademie studierten, dem Traditionalismus ausgesetzt waren, schwenkten nicht alle auf seine Linie ein. Aber die meisten gelangten in wichtige Positionen. Unter ihnen waren Gholam-Reza A’avani, den Nasr von der amerikanischen Universität Beirut mitgebracht hatte und William Chittick. A’avani übernahm nach der Revolution die Leitung der Akademie und Chittick wurde in den USA die führende Autorität für Ibn al-Arabi. Ein Freund Nasrs, der die Akademie schon wegen ihres Namens nie betreten hätte, Ayatollah Mortada Motahhari, entsandte trotzdem Hadda Adil an sie, der später Philosophieprofessor in Teheran wurde und in der islamischen Republik großen Einfluss erlangte. Corbin brachte Pierre Lory mit, der ihn später an der Sorbonne ablöste. Lory las Traditionalisten und blieb an ihnen interessiert, aber sein Werk oder sein Leben beeinflussten sie nicht.
Die Akademie erhöhte das Ansehen des Traditionalismus auch außerhalb des Iran und erleichterte die Einladung angesehener Fachleute. Die Jahrestagung des internationalen Instituts für Philosophie fand 1975 in der Akademie statt und beschäftigte sich mit der Beziehung zwischen Religion, Philosophie und Wissenschaft. Der englische Teil der Akademiezeitschrift enthielt viele traditionalistische Artikel und erreichte ein viel größeres Publikum als die »Studien zum Traditionalismus«.
Noch einflussreicher war die Akademie im Iran. Sie führte nicht nur Teile der Elite in den Traditionalismus ein, sondern verstärkte auch das Interesse an islamischer Philosophie. Aber der Traditionalismus selbst reichte nie über kleine intellektuelle Zirkel hinaus und strebte das vermutlich auch nicht an. Obwohl der persische Teil der Akademiezeitschrift einige offen traditionalistische Artikel enthielt und Nasr die erste Veröffentlichung eines Werkes von Guénon in einer nichteuropäischen Sprache gelang (»Die Krise der modernen Welt« wurde 1970 auf Persisch gedruckt), wirkte Nasr in Persien an erster Stelle für die Tradition, nicht den Traditionalismus. Seine traditionalistischen Aktivitäten konzentrierten sich aufs Ausland.
Nicht nur an der Akademie wirkte Nasr für die Wiederentdeckung der Tradition. Nach seiner Rückkehr aus den USA erhielt er an der Uni Teheran einen Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Philosophie bedeutete damals »westliche Philosophie«, denn die Uni Teheran war nach amerikanischem Vorbild aufgebaut. Nasr erweiterte den Kanon um die islamische Philosophie und setzte sich zusammen mit seinem Freund Ayatollah Motahhari erfolgreich für deren Verbreitung ein.
Die Akademie veröffentlichte und edierte viele klassische Texte der islamischen Philosophie. Im ersten Jahr ihrer Existenz waren dies fünfzehn Titel, darunter drei Bibliographien und neun Übersetzungen islamischer Philosophen ins Englische. Der persische Teil der Akademiezeitschrift veröffentlichte ebenfalls Texte islamischer Philosophen oder Artikel über sie.
Eine Folge all dieser Aktivitäten kam unerwartet. Nach übereinstimmender Meinung iranischer Philosophen und Kleriker trugen Nasr und seine Akademie zur islamischen Revolution im Iran bei. Das steigende Interesse an islamischer Philosophie steigerte auch das Interesse am Islam unter den iranischen Studenten. Nasrs Lehrer Tabataba’i meinte, die Studenten seien voller westlicher und marxistischer Ideen zu ihm gekommen und die islamische Philosophie habe diese Ideen in ihren Köpfen verdrängt. Zudem trugen Nasrs Plädoyers für die Tradition und gegen die Moderne zur allgemeinen Agitation für den Islam und gegen die westliche Dekadenz bei und arbeiteten damit insgeheim gegen das Regime des Schahs.
Aber Nasr Beitrag zur Revolution war zweitrangig und weit geringer als jener Ayatollah Khomeinis, Ayatollah Motahharis (des Hauptideologen islamischer Souveränität) und Ali Shariatis, eines Soziologen, dessen Verbindung aus Islam und Sozialismus am meisten dazu beitrug, die iranischen Studenten vor der Revolution dem Islam zuzuführen.
Nasrs Beitrag zur Revolution war nicht zufällig, aber er wünschte sie keineswegs herbei. Solange er im Iran wirkte, war er ein strammer Unterstützer des Shahregimes. Dafür gab es persönliche Gründe: er war ebenso wie sein Vater mit dem Hof verbunden und diese Verbindung stand seiner akademischen Laufbahn nicht im Weg. So wurde er zum Dekan der Geisteswissenschaften an der Teheraner Uni ernannt und zum Vizekanzler einer technischen Universität. Aber noch wichtiger waren prinzipielle Gründe: Nasr scheint die Monarchie als eine traditionelle Regierungsform betrachtet zu haben, die – trotz ihrer offensichtlichen Nachteile – allem, was sie hätte ersetzen können, vorzuziehen war. Besonders abgeneigt war er der in seinen Augen antitraditionalistischen Verbindung zwischen Islam und Sozialismus, die Shariati vertrat.
Als die Revolution nahte und das iranische Leben sich zunehmend politisierte, wurde Nasrs enge Verbindung zum Hof immer mehr zu einer Verwicklung. Der Fall Abd al-Karim Soroushs, eines iranischen Intellektuellen, der später höchst einflussreich war, zeigt dies. Soroush hatte Guénon gelesen, als er Philosophie der Wissenschaft bei einem Popperschüler in London studierte, und war nach seiner Rückkehr in den Iran zuerst von Nasr angezogen. Bald aber kam er zur Ansicht, dessen Auffassungen seien nicht mehr relevant und Nasr ein Heuchler, wenn er behaupte, gleichzeitig loyal gegenüber dem Islam und dem Hof zu sein. Wie viele andere, wandte er sich Shariati zu und behauptete später, der Aufstieg Shariatis habe den Niedergang Nasrs bewirkt.
Als sich Einzelne und ganze Organisationen von Nasr und der Akademie zu distanzieren begannen, legten manche ihm nahe, sich ebenfalls vom Schah zu lösen und den Namen der Akademie zu ändern. Er weigerte sich. Stattdessen wurden seine Beziehungen zum Hof wurden noch enger. Als er Tabatabai’s Buch über den schiitischen Islam (Shi’ite Islam) ins Englische übersetzte, strich er die Verurteilungen der Monarchie im Buch. 1977 stimmte er seiner Ernennung zum Privatsekretär der Kaiserin zu und führte in ihrem Auftrag diplomatische Missionen im Ausland durch. Die Revolution traf ihn 1979 in London, als er auf dem Weg nach Japan war. Die Kaiserin riet ihm telefonisch, im Ausland zu bleiben. Im Jahr 2003 war er noch nicht wieder in den Iran zurückgekehrt.
In welchem Ausmaß die Revolution die Ziele des Traditionalismus voranbrachte oder inwieweit sie selbst der fehlgeleitete Triumph einer partikulären Form der Moderne war, ist schwer zu beurteilen.