Zuletzt aktualisiert am 23. Mai 2019.
Während im christlichen Abendland Giordano Bruno (gest. 1600), Jacob Boehme (gest. 1624), Descartes (gest. 1650) und Leibniz (gest. 1716) mit den Geburtswehen der Moderne rangen, blühte gleichzeitig im Orient, in der Epoche der Safawiden (1587-1722), die Schule von Isfahān. Deren bedeutendste Vertreter waren Zeitgenossen der Platoniker von Cambridge (Ende des 17. Jahrhunderts). Mīr Dāmād (gest. 1631), Mollā Sadrā Shīrāzī (gest. 1640) und Qāzī Sa’īd Qommī (gest. 1691) prägten den spirituellen Denkstil dieser Schule, die ihre eigene Form der Aufklärung, der Philosophie des Lichtes und der Erleuchtung pflegte. Im Unterschied zur westlichen Form bewahrte diese Aufklärung das Bewusstsein, dass alles Licht von oben kommt.
Qāzī Sa’īd Qommī kommentierte eine mystisch-visionäre Erzählung, den hadīth »von der weißen Wolke«. Er handelt vom ersten Imām der Zwölfer-Schia, ’Alī ibn Abī Tālib (gest. 661), der zwei seiner Söhne und einige weitere Gefährten auf eine Reise in die andere Welt mitnimmt. Die theosophische Kosmogonie und Ontologie, die er seinem Kommentar zugrunde legt, weist frappante Ähnlichkeiten mit jener der Anthroposophie auf. Qāzī Sa’īds Anthropologie ist nicht nur trichotomisch (Leib, Seele, Geist), er unterscheidet auch zwischen einer physischen, seelischen und geistigen Welt. Und in Anknüpfung an ältere Überlieferungen spricht er davon, dass der kosmische Adam, der himmlische Anthropos, durch vierzig kosmische Tage und Nächte hindurch herangereift sei, bevor der irdische Mensch, der Urvater der Menschheit, in Erscheinung trat. Diese vierzig kosmischen Tage und Nächte entsprechen den vier Werdestufen des Kosmos, wie sie z.B. in der »Geheimwissenschaft im Umriß« Rudolf Steiners dargestellt werden. (Erstmalige Übersetzung aus Corbins Werk »En islam iranien« IV, III).
Die »Erzählung von der weißen Wolke« führt uns in eine andere Welt, in jene, von der auch die Memorabilia Swedenborgs (gest. 1772) handeln.
Sie gibt Anlass, hier einige Zeilen aus den Vorlesungen Kants über Psychologie zu zitieren, weil diese Zeilen – viel besser als irgendwelche anderen philosophischen Überlegungen – die Phänomenologie der visionären Erfahrung charakterisieren und Kant in ihnen seine Haltung zu Swedenborgs Werk zusammenfassend zum Ausdruck bringt:
»Die andere Welt ist demnach nicht ein anderer Ort, sondern nur eine andere Anschauung. Die andere Welt bleibt den Gegenständen nach dieselbe; sie ist den Substanzen nach nicht unterschieden; allein, sie wird geistig angeschaut«.
Oder: »Wenn sich aber die Seele vom Körper trennt, so wird sie nicht dieselbe sinnliche Anschauung von dieser Welt haben; sie wird nicht die Welt so anschauen, wie sie erscheint, sondern so wie sie ist. Demnach besteht die Trennung der Seele vom Körper in der Veränderung der sinnlichen Anschauung in die geistige Anschauung; und das ist die andere Welt«.
Und schließlich erklärt Kant nach der Erörterung, was Seligkeit und Verdammnis in der geistigen Welt bedeuten, wörtlich: »Der Gedanke Swedenborgs ist hierin sehr erhaben« (Zitate aus: Carl du Prel, Immanuel Kants Vorlesungen über Psychologie, Pforzheim 1964, S. 153-154).
In der Tat sind die Bilder und Ereignisse, die sich durch die »Erzählung von der weißen Wolke« in der imaginativen Welt offenbaren, der »imaginative« oder »himmlische« Aspekt der Gegebenheiten der sinnlichen Welt. Als solche sind diese Bilder das verborgene Antlitz oder der verborgene imaginative Sinn der sinnlichen Dinge. Aber weil sich diese Gegenstände dem inneren Sinn offenbaren, wird die sinnliche Realität zum verborgenen Sinn. Beachten wir dies genau: die Bezugnahme auf die sinnlichen Dinge verfolgt kein anderes Ziel, als die Erscheinungen begreiflich zu machen, die ihnen in der imaginativen Welt entsprechen; sie soll diese Erscheinungen nicht etwa zum Verschwinden bringen, weil dies einem Rückfall in die Welt der sinnlichen Erscheinungen gleichkäme.
Der Übergang in die imaginative Welt ist die Verschleierung des Antlitzes, das sichtbar war und die Entschleierung des Antlitzes, das unsichtbar war. Die Erklärung dieses Unsichtbaren kann nicht darin bestehen, dass dieses Unsichtbare erneut unsichtbar gemacht wird, nachdem es sichtbar geworden ist. Wir würden dadurch in die Allegorie zurückfallen und das Imaginative mit etwas Eingebildetem verwechseln. Die »Erzählung von der weißen Wolke« ist keine Allegorie, sondern eine konkrete visionäre Erfahrung, die das voraussetzt, was wir als Realismus der Imagination bezeichnen.
So wie sie sich im Text präsentiert, den Qāzī Sā’īd Qommī kommentiert, stellt diese Erzählung eine Initiation dar, in deren Verlauf die Mysten unter der Anleitung des Imām eine Reise machen, und real in die imaginative Welt des Malakūt eindringen, jene Welt, die wir als mundus imaginalis bezeichnen, und deren Lage wir nicht besser beschreiben können, als indem wir uns auf den Vorschlag des Kommentators beziehen, der uns daran erinnert, dass der Kosmos aus drei Ebenen oder drei Wesensschichten besteht.
Die erste dieser Ebenen ist die »Welt des Geheimnisses«, das Übersinnliche als Region der cherubinischen Geistwesen; die zweite ist jene der sinnlichen Wahrnehmung, die Welt der sichtbaren Erscheinungen; die dritte entsteht aus dem Zusammenfließen dieser beiden Welten: dies ist die Welt der imaginativen Wahrnehmung, die man als Seelenwelt (’ālam al-mithāl, mundus imaginalis) bezeichnet. Es ist die Welt, in der die geistigen Realitäten sich in der Form sinnlicher Erscheinungen manifestieren, die imaginativ wahrgenommen werden, zum Beispiel die Erkenntnis in Gestalt der Milch oder des Wassers, der Islam in Gestalt eines Pfeilers, der Glaube in Gestalt eines Henkels, der Erzengel Gabriel in Gestalt eines Jünglings von vollkommener Schönheit.
Die Erzählung ist mit den Initiationserzählungen Suhrawardīs verwandt, insbesondere mit der »Erzählung vom purpurnen Engel«, der »Erzählung vom Exil im Okzident« und allgemein mit der immensen Literatur der »Reisen ins andere Land«. Zu den letzteren gehören die Erzählung von der Reise zur grünen Insel, »ins Land des verborgenen Imām«. Alles spielt sich in diesen Erzählungen mit bemerkenswerter Präzision ab. Ebenso, wie in den Memorabilia Swedenborgs, wird auch hier niemals die Korrespondenz zwischen den Bildern der imaginativen Welt und dem aus den Augen verloren, was in unserer Welt geschieht, selbst nicht mit dem, was sich in der Verborgenheit des Bewusstseins abspielt.
Man kann sagen, die »Erzählung von der weißen Wolke« stelle eine Initiationserzählung dar, deren Intentionen, Episoden und Konsequenzen mit jenen des spirituellen Aufstiegs vergleichbar sind, die in der mystischen Gemeinschaft jener, für welche die Oracula chaldaica die Bedeutung einer heiligen Schrift besaßen, den Sinn eines »Sakraments der Unsterblichkeit« annahm. Diese Orakel wurden von den Spätplatonikern (Proklus, Syrianus) mit Vorliebe meditiert. Tatsächlich ist jener, der in die imaginative Welt (Malakūt) eingedrungen ist, und dort Zugang zur Quelle des Lebens erlangt hat, ein Neugeborener, der immun geworden ist gegen die Anfechtungen des Todes und des Nichts.
…
In der »Erzählung von der weißen Wolke« tritt Salmān Pārsī, Salmān der Perser oder Salmān der Reine, ein iranischer Ritter mazdäischer Herkunft, als Erzähler auf, jener Salmān, der sich auf der Suche nach dem wahren Propheten befand und auf mysteriöse Weise zum Gefährten der Initiation des Propheten des Islam geworden ist.
Sechs Personen sind um den ersten Imām in seinem Haus in Medina versammelt: darunter seine beiden Söhne, al-Hasan und al-Hosayn, die später zum zweiten und dritten Imām [der Zwölfer-Schīa] geworden sind.
Der junge al-Hasan gibt das Leitmotiv vor, indem er folgende Frage an den Imām richtet: »Salomon, der Sohn Davids erbat von Gott eine Macht, wie kein anderer nach ihm sie jemals besitzen sollte. Besitzt du etwas von dieser Macht Salomos?« Wir werden gegen Ende der Erzählung erfahren, wie der Imām in seiner metaphysischen Realität und als esoterische Realität des gesamten prophetischen Charismas jener ist, der schon immer die Macht des Siegels verwaltet, die er auf Salomo übertrug.
Es ist die bejahende Antwort des Imām, die seinen Sohn folgenden Wunsch aussprechen lässt: »Wir würden gerne etwas von dieser imaginativen Welt (Malakūt) sehen, über die Gott dir die Herrschaft gegeben hat, damit der Glaube der Menschen zugleich mit unserem wachse«.
Dieser fromme Wunsch wird vom Imām umgehend erfüllt und damit beginnt eine mysteriöse, unbewegte Reise, die unsere Pilger zu den Imaginationen der Pflanzenwelt und der Tierwelt führt; anschließend dringen sie in die Imaginationen des Menschenreiches vor, worauf als weitere Stufen die Imaginationen des pflanzlichen Lebens (anima vegetabilis, [Ätherleib]), des tierischen Lebens (anima vitalis, [Astralleib]) und schließlich des geistigen Lebens im Menschen (anima rationalis, [Ich]) folgen.
Dieser Vorstoß in die Imaginationen des Menschen wird als Aufstieg auf den Gipfel des psycho-kosmischen Berges Qāf erlebt. Dort sind die Gesetze der chronologischen Zeit aufgehoben und die Pilger werden zu Zeitgenossen von Personen und Ereignissen der »Vergangenheit«; sie verstehen die Geheimnisse verborgener, fernabliegender Universen.
Die ganze Reise spielt sich in fünf Etappen ab. Wenn die Pilger wieder in das Bewusstsein dieser unserer Welt zurückkehren, sind sie zu Menschen der imaginativen Welt geworden und Qāzī Sā’īd kann seinem Leser gegen Ende des Kommentars mitteilen: »Wir haben dir all das erklärt, damit es auch dir möglich wird, mit den Gefährten des Imām auf der imaginativen Wolke Platz zu nehmen und dich bis in die Welt zu erheben«.
Nun, die erste dieser Erklärungen, die durch die Geste des Imām veranlasst wird, welche die weiße Wolke hervorruft und von der das Verständnis alles anderen abhängt, ist die Involution der chronologischen Zeit und des Raumes der sinnlichen Welt.
Die Involution der chronologischen Zeit und des Raumes der sinnlichen Welt
Die Orientierungsachse des gesamten Kommentars ist der Vorstoß der Adepten in die imaginative Welt des Raumes und der Zeit. Dieser Vorstoß bewirkt eine Involution des Raumes und der Zeit der sinnlichen Welt.
Metaphysisch betrachtet, erklärt Qāzī Sā’īd, erscheint der Raum als Raum aller Räume, als jener Thron, der alle räumlichen Dinge in sich enthält; räumliche Distanzen und physische Oberflächen sind nichts als Schalen ihrer metaphysischen Dimensionen.
Der Raum begründet die Ordnung des Gleichzeitigen und des Stabilen, während die Zeit die Ordnung des Aufeinanderfolgenden und Instabilen ist. Daher läuft jede Involution der Zeit darauf hinaus, ihre Instabilität zum Stillstand zu bringen und die zeitliche Ordnung in einer räumlichen Ordnung zu stabilisieren (man erinnere sich an die Antwort des Gurnemanz an Parzival: »Zum Raum wird hier die Zeit«).
Das Drama, das die initiatorische Erzählung vor uns entrollt, ist also das einer Auferstehung, einer Rückeroberung der Zeit, in dem Maße, als der Myste in den Raum der imaginativen Welt eingeführt wird. Wir müssen uns daher die Philosophie der Zeit vergegenwärtigen, die Qāzī Sā’īd entwickelt, die den Schlüssel zu seinem Kommentar zur »Erzählung von der weißen Wolke« darstellt.
…
Qāzī Sā’īd weigert sich resolut, die Zeit als eine Linie zu betrachten, die sich von der Vorewigkeit in die Nachewigkeit hinzieht. Wenn er zu einer symbolischen Repräsentation greift, dann ist es jene der Kugel oder des Kreises, welche die »Zeit der Zeit«, die »absolute Zeit« darstellen. Das Fassungsvermögen dieser Kugel oder dieses Kreises entspricht exakt der Sphäre oder dem Kreis des »Raums aller Räume«, dem absoluten Raum; die beiden koextensiven Sphären koexistieren schon immer in ihrer Totalität.
Unglücklicherweise gibt es auch »unsere Zeit« (die kompakte, verdichtete Zeit) auf der Ebene der sinnlichen Welt. Hier koexistieren die unterschiedlichen Teile der Zeit, des Raumes und der Bewegung nicht – weil das Wahrnehmungssubjekt in die Organe eines materiellen Körpers eingeschlossen ist. Für dieses ist es unmöglich, ihre Koexistenz wahrzunehmen, »denn jener, der an die Welt der sinnlichen Wahrnehmungen gekettet ist, vermag die gleichzeitige Totalität aller Teile der Zeit und der Bewegung nicht wahrzunehmen. Aber das Unvermögen, wahrzunehmen, impliziert nicht die Inexistenz dessen, was man nicht wahrzunehmen vermag …«.
Die Situation verändert sich grundlegend, sobald an die Stelle des fleischlichen Körpers ein Geistleib tritt, der aus reinem Licht besteht. So sind die Leiber der Imāme beschaffen, die aus dem reinsten Teil des Lichtes erschaffen wurden, das vom Thron ausstrahlt, und so auch die ursprünglichen Körper ihrer Adepten, die aus den Strahlen ihres Lichtes gebildet wurden.
»Unsere Tage und Nächte«, schreibt Qāzī Sā’īd, »gleichen einer Kolonne von Kamelen, welche die Karawane der Geschöpfe an den Ort der Dauer führt, wo die vergangenen Monate und Jahre vor den ›Tag der Verheißung‹ mit seinen Wolken des Abends und des Morgens treten. Aber ebenso wie die Berge – die den Augen und dem Urteil der Sinne unbeweglich scheinen – unentwegt unterwegs sind, was der Koranvers besagt: ›Du siehst die Berge und glaubst sie seien unbeweglich, während sie doch weiterziehen, wie die Wolken‹ – , ebenso sind umgekehrt die Zeit und die Augenblicke, trotz ihres Voranschreitens und ihres Vergehens, aus der Sicht des Weltgeistes oder der Weltseele stabile, dauernde Wesen. Und so erscheinen die Formen des Seins, die in der sinnlichen Welt vorherrschen, vertauscht, damit der Gnostiker begreift, dass die scheinbare Festigkeit die verborgene Beweglichkeit nicht ausschließt und die Unruhe auf der Ebene der Sinne die Ruhe, Stabilität und Festigkeit auf der Ebene des Geistes (des Nous) verhüllt …
Der Raum und die Zeit erscheinen für den Blick, der auf den Grund der Dinge dringt, als zwei Ebenen, die sich entsprechen, als zwei geistige Throne für die Wesen der oberen und der unteren Welt. In ihrer gegenseitigen Durchdringung umarmen sich Vorewigkeit und Nachewigkeit in einem einzigen Moment, Offenbarung und Verborgenheit an einem einzigen Ort. Wenn sie sich trennen und schrittweise zeigen, unterscheidet sich das erstere vom letzteren und erscheint das Verborgene vom Offenbaren verschieden«.
Um dies zu verstehen, müssen wir uns vorstellen, dass alles, was konkret existiert, sei es nun materiell oder geistig, eine Einheit, eine einzigartige Individualität darstellt. Ebenso wie jeder Individualität ein gewisses Quantum an Stofflichkeit und Raum zugeteilt ist, besitzt sie ein gewisses Quantum an Eigenzeit, eine einzigartige persönliche Zeit, mit individueller Ausdehnung und Dauer. Jede Individualität besitzt ihre Zeit, die sich von allen anderen unterscheidet, einen Ort, der sich von allen anderen unterscheidet.
Die Gleichzeitigkeit im wahren Sinn des Wortes setzt eine Übereinstimmung zwischen diesen Zeiten voraus.
Mit jedem Quantum der Zeit kann nun dasselbe geschehen, was mit einem Stück Wachs geschieht, wenn man es zusammenpresst oder ausdehnt, ohne dass das Quantum seines Stoffes sich vermindert oder vermehrt.
Je geistiger ein Körper ist, um so geistiger ist auch sein Quantum an Zeit, und umso mehr erweitert er sein Fassungsvermögen und seine Ausdehnung. Daher gibt es die kompakte, dichte und undurchsichtige Zeit der sinnlichen Welt; die geistige Zeit der imaginativen Welt; und schließlich die absolut geistige Zeit der geistigen Welt (Jabarūt) …
Obwohl das Quantum der Zeit, das einer geistigen Individualität zugeteilt ist, dasselbe bleibt, vermag es doch eine immense Fülle des Seins in sich aufzunehmen; das Subjekt vermag die Fülle, ja die Totalität der Momente des Seienden in vollkommener Gleichzeitigkeit anzuschauen. Die Aufeinanderfolge wird zur Gleichzeitigkeit; die Zeit wird zum Raum, abhängig von der Sublimation, die sie von Stufe zu Stufe höher trägt …
Je geistiger der Raum, um so geistiger auch die Bewegung und die Zeit, bis hinauf zum absolut geistigen Zustand. Der imaginative Leib der Seelenwelt ist vollkommen geistig und besitzt eine vollkommene Leuchtkraft; kein Vorhang und keine Mauer verbergen etwas vor ihm, Erde oder Himmel sind für ihn kein Hindernis. So verhält es sich mit den Engeln, die von der höchsten Ebene herabsteigen, um den Propheten die Offenbarung zu bringen. So verhält es sich auch mit den Propheten, wenn sie sich in jenen Zustand erheben, der im Koran als ›Entfernung von zwei Bogenlängen oder noch weniger‹ (53:9) bezeichnet wird.
Die himmlischen Wesen der Seelenwelt sind nicht an die Orte des sinnlichen Raums gebunden; alle Orte sind für sie gleich und gleichgültig; die Totalität der Orte ist für sie nicht mehr, als was die Erde (von ihrer Größe her) für den Himmel ist. Ebenso verhält es sich mit der imaginativen Zeit und der imaginativen Bewegung. Diese Wesen sind so geistig, dass die Zeit und die Bewegungen, die es bei uns gibt, sich für sie in die imaginative Zeit und Bewegung einrollen, und zwar so, dass ein kleiner Teil der imaginativen Bewegung oder Zeit, wenn sie sich entfalten, Monaten oder Jahren unserer Zeit entspricht. Wenn es sich schon so mit der Seelenwelt verhält, dann überlege, wie es sich erst mit den Welten verhält, die über dieser liegen«.
Diese Theorie des Raumes und der Zeit ist Voraussetzung für die Hermeneutik der »Erzählung von der weißen Wolke«, weil diese Erzählung von der Erfahrung der absoluten Zeit, der Gleichzeitigkeit der Zeiten, berichtet, wie sie in der Welt der Imaginationen erlebt wird, und weil diese Erfahrung vom Geistleib erlebt wird, der das Quantum der Zeit, das dem, der an dieser Erfahrung teilhat, gehört, ebenso ausdehnt, wie ein Stück Wachs ausgedehnt wird.
Die sechs Gefährten, die Söhne und Schüler des ersten Imām sitzen in seinem Haus in Medina, in eine spirituelle Unterhaltung vertieft. Sein Sohn, al-Hasan, richtet an ihn eine Frage. Als Antwort erhebt sich der Imām, spricht ein Gebet und geht hinaus in den Hof des Hauses. Die Schüler verfolgen ihn mit ihren Blicken.
»Da streckte der Imām seine edle Hand in Richtung Westen aus und hielt sie so, bis sich aus ihrem Ballen eine Wolke erhob. Diese Wolke dehnte sich aus, bis er sie über dem Haus zum Stillstand brachte. Auf diese Wolke ließ er eine zweite folgen«.
Von diesem Augenblick an tritt die innere Schau in Aktion, das Organ des Vorstoßes in die Welt der Imagination. Ohne es zu bemerken, werden die Beteiligten aus der Welt der sinnlichen Wahrnehmungen entrückt, sie nehmen nicht mehr die sinnliche Welt wahr. Jedes kleinste Detail wird berichtet, um die Phasen dieses Übergangs festzuhalten; daher betont auch Qāzī Sā’īd die Bedeutung jeder einzelnen Phase.
Zuallererst weist er darauf hin, dass sich von diesem Augenblick an alles in der Welt der Imaginationen abspielt; der Imām agiert mit seinem Geistleib und erscheint seinen Gefährten in diesem. Aber diese realisieren das nicht sogleich; man muss auf die Szene der »Transfiguration« warten, die sich kurz darauf ereignet, sobald sie zusammen auf der weißen Wolke Platz genommen haben.
Die leichte und die schwere Wolke
Zuerst die Handbewegung des Imām. Diese Hand ist ein Glied seines Geistleibes, seine imaginative Hand, für die es nichts Nahes und nichts Fernes gibt, denn unsere Erde ist in bezug auf die Erde der Seelenwelt »wie eine Nuss, die du in deine hohle Hand nimmst«. Und wenn der Imām die Hand seines Geistleibes in die westliche Richtung der höheren Welt ausstreckt, »dann deswegen, weil seine esoterische Vollmacht, die das Geheimnis der Prophetie zu enthüllen vermag, sich auf der westlichen Seite der höheren Welt befindet, während die Sonne der Prophetie sich an ihrer östlichen Seite befindet, weil die Freunde Gottes durch das Licht der Propheten erleuchtet und zu ihrer Vollkommenheit durch die Gnade geführt werden, die aus der Richtung des Propheten kommt«.
Diese Lage der esoterischen Vollmacht im Westen entspricht der Behandlung des Themas bei anderen Autoren, die den Zyklus der esoterischen Enthüllung als die Nacht der Esoterik und als Wanderung beschreiben, die in dieser Nacht durch die Symbole hindurchgeht. Weil die Macht und Herrschaft der Imāme auf der westlichen Seite, dem Ort der Esoterik in der höheren Welt liegt, wird begreiflich, warum die imaginative Hand des Imām in den Westen weist.
Die Bedeutung der beiden Wolken, die aus der Handbewegung hervorgehen, erläutert Qāzī Sā’īd unter Bezug auf einen hadīth des sechsten Imām, Ja’far al-Sādiq, in dem es heißt: »Imām ’Alī ist der Herrscher über das, was sich auf der Erde und das, was sich unter der Erde befindet. Ihm zeigen sich zwei Wolken: eine schwere und eine leichte. Der Imām wählt die schwere Wolke. In der schweren Wolke befindet sich alles, was unter der Erde liegt, in der leichten, alles, was auf ihr liegt. Aber der Imām zieht die schwere Wolke vor«.
Unser Kommentator erklärt: unter dem, was sich auf der Erde befindet, muss man das Sichtbare, Äußere, Exoterische verstehen. Das, was sich unter der Erde befindet, ist das Verborgene, Innere, Esoterische, also nicht etwa das infernum (die Hölle), sondern die Welt der Imaginationen. In unserem hadīth folgt die leichte auf die schwere Wolke. Der Imām herrscht über beide, denn er hat erklärt, auch wenn er der schweren Wolke den Vorzug gegeben habe, sei er doch nicht weniger Herrscher über das, was sich auf der Erde befindet.
Dies vorausgesetzt, wendet sich Qāzī Sā’īd der metaphysischen Realität der beiden Wolken zu. Er geht dabei von zwei Voraussetzungen aus, aus welchen sich die Wahrheit dessen erschließt, was imaginativ als Wolke wahrgenommen wird.
A) Auf der einen Seite symbolisiert die schwere Wolke den Besitz dessen, was unter der Erde ist, d.h. die Esoterik. Als solche wickelt sie die Zeit in sich ein, denn die Pilgerschaft in den metaphysischen Realitäten vollzieht sich außerhalb der Gesetze der chronologischen Zeit. Die leichte Wolke symbolisiert den Besitz dessen, was sich auf der Erde befindet, d.h. die Exoterik. Diese Wolke wickelt das Sichtbare der Erde in sich ein, d.h. den Ort und die Räumlichkeit des Ortes. Es versteht sich von sich selbst, dass diese Wolke in der Hierarchie des Seins nur an zweiter Stelle erscheinen kann; ebenso wie die Involution der Zeit jene des Raumes einschließt, und nicht umgekehrt.
Auf der anderen Seite gehen die Theosophen davon aus, dass es für jede Art in der sichtbaren Welt ein Wesen in der Seelenwelt gibt, das mit göttlicher Erlaubnis der Herrscher und Beschützer dieser Art ist, der ihre Einheit bewahrt und ihre Vielheit zusammenhält. Die orientalischen Theosophen aus der Schule Suhrawardīs bezeichnen dieses Wesen als »Herrn« oder »Engel der Art«. Die Aristoteles zugeschriebene »Theologie« nennt es Kalima, »Logos« oder »Wort«. Die theologischen Theosophen sprechen entweder von diesem oder jenem göttlichen Namen, oder vom Engel, der aufgrund der Autorität dieses oder jenes Namens handelt. Dieser imaginative Herr oder Engel der irdischen Art besitzt ein Antlitz, durch das er den Einfluss dessen aufnimmt, was sich über ihm befindet und ein zweites, durch das er diesen Einfluss an das weitergibt, was sich unter ihm befindet. Wenn der Gnostiker seinen Blick auf diesen himmlischen oder imaginativen Herrscher richtet, kann es geschehen, dass er selbst mit dieser Eigenschaft des Vermittlers zwischen zwei Welten ausgestattet wird.
B) Die erste Wolke, so Qāzī Sā’īd weiter, stellt die Macht des Engels oder himmlischen Herrn über die Esoterik der Art dar, die er beherrscht, d.h. über die Imagination (den spirituellen oder himmlischen Zustand) dieser Art; daher hat er die Macht, die Zeit einzurollen.
Die zweite Wolke stellt die Herrschaft über die Exoterik dar, d.h. über den physischen, sinnlichen Zustand dieser Art, und daher kommt die Macht, den Raum einzurollen.
Durch sein Imāmat und seine integrale esoterische Vollmacht sind dem Imām die beiden Herrschaften über die Seelenwelt und über die physische Welt eigen. Der Imām unterscheidet sich von Alexander [dem Großen, der gegen Gog und Magog kämpfte, siehe dazu weiter unten]. Denn Alexander erlebte nur die Involution des Raumes, als er in die Region der Dunkelheit eintrat, in der Khezr ihm aus der Quelle des Lebens zu trinken gab, während der Imām die doppelte Involution des Raumes und der Zeit erlebt, um die es in der »Erzählung von der weißen Wolke« geht.
Qāzī Sā’īd präzisiert nunmehr seine Erläuterungen:
a) Es gibt ein Wesen der Seelenwelt, das der Herr der Exoterik der Erde ist; dieses Wesen bezeichnet er als Engel oder Wort des Irdischen der Erde;
b) Es gibt ein Wesen der Seelenwelt, das der Herr der Esoterik der Erde ist; dieses Wesen bezeichnet er als Engel oder Wort der Imagination der Erde;
c) Über beiden gibt es den Herrn der niederen und der höheren Geistwelt (Jabarūt und Lahut) der Erde (d.h. der Erde auf der Ebene der cherubinischen Intelligenzen und auf der Ebene der göttlichen Namen); diesen bezeichnet er als göttlichen Logos oder göttliches Wort.
Unter der Herrschaft des Engels der Imagination oder der Esoterik der Erde befindet sich die metaphysische Realität der Zeit, und durch diesen Engel vollzieht sich die Involution der Zeit unserer Chronologie. Dies bedeutet die Bewegung des Imām, wenn er die Hand seines Geistleibes in Richtung des Westens der imaginativen Welt ausstreckt, dorthin, worüber die Macht seiner Esoterik herrscht.
Da er durch diese Geste die »schwere Wolke« über seinen Aufenthaltsort aussendet, stellt er diesen unter die Herrschaft des Engels der Imagination, d.h. jener Macht, die imstande ist, die Zeit einzurollen, die folglich auf die ursprüngliche metaphysische Realität der Zeit einwirkt, die alles Vergangene und Zukünftige in sich enthält.
Die zweite Wolke, die der Imām über seinen Aufenthaltsort aussendet, stellt diesen unter die Herrschaft des Engels des Irdischen oder Exoterischen der Erde, d.h. unter die Herrschaft des Engels, der über den Raum der Erde herrscht.
Wir sehen daher die Gefährten auf die Einladung des Imām auf der ersten, der weißen Wolke Platz nehmen. Dadurch wird angedeutet, dass der Imām von diesem Augenblick an den Wunsch seiner Gefährten erfüllt, der darin bestand, »in die Welt der Imagination einzudringen«; er vollzieht die Einwicklung der Zeit und des Raumes.
Daher bedürfen der Imām und seine Gefährten, gemessen an unserer Chronologie, nur einer extrem kurzen Zeit, um die Reise durch jene vielfältigen Universen zu unternehmen, von denen noch die Rede sein wird. Sie werden die Propheten der Vergangenheit sehen: Sālih z.B., der zum Volk der Thamūd geschickt wurde. Sie werden Zeugen des Kampfes, den der Imām gegen das im Koran erwähnte Volk von ’Ad führt, das den zu ihm gesandten Propheten Hōd zurückwies. Dies alles ist nur möglich wegen ihrer Präsenz in der Zeit, in der das Volk von ’Ad lebt. »Beobachte genau, was sich dir zeigen wird«, fordert Qāzī Sā’īd den Leser auf, »damit du nicht ins Schwanken gerätst, nachdem du Sicherheit erlangt hast«.
Danach ruft der Imām einen Windstoß herbei. Bei diesem Windstoß, so der Kommentator, handelt es sich um die Imagination der Bewegung, um deren Engel, den göttlichen Logos oder das göttliche Wort, das über die beiden anderen Engel herrscht, welche die Imagination der Zeit und die Imagination des Raumes repräsentieren. Von diesem »himmlischen« Windhauch, der esoterischen Seite des Windes unserer irdischen Welt, hat der Prophet erklärt, dass er »aus dem Atem des Barmherzigen« hervorgehe.
Dank des Gehorsams dieser drei Engel oder göttlichen Worte wird sich die fremdartige und weitreichende Reise des Imām und seiner Gefährten vollziehen, die, gemessen an der »dunklen und obskuren« Zeit unserer Uhren, nur wenige Stunden dauern wird.
In den Worten Salmān des Reinen klingt dies so: »Danach gab der Imām einem bestimmten Windhauch ein Zeichen, und sagte: Komm zu uns herab, o Wind! Nun, ich zeuge für Gott den Erhabenen! Wir sahen, wie der Wind und die Wolke herabstiegen und ausriefen: Wir bezeugen, dass es keinen Gott außer dem Einen gibt. Wir bezeugen, dass Mohammed sein Diener und Gesandter ist, und dass du (Imām) der Freund (oder der Nächste) Gottes bist. Wer daran zweifelt, ist auf immer verloren. Wer sich dir anschließt, ist auf dem Wege des Heils. Nun senkten sich die beiden Wolken herab und nahmen das Aussehen zweier Teppiche an. Sie dufteten wie Moschus. Der Imām sagte zu uns: Nehmt Platz auf der weißen Wolke. Wir setzten uns und nahmen unsere Plätze ein. Dann sagte der Imām: O Wind! hebe uns empor. Und wir wurden in die Höhe emporgehoben«.
Die Verklärung des Imām
Von nun an sind die Gefährten in der Welt der Imagination präsent und ihre Reise ist eine visionäre Reise. All ihre Wahrnehmungen sind Wahrnehmungen von Wesen und Ereignissen der imaginativen Welt, die durch ihre Geistleiber zustande kommen. Es versteht sich von selbst, dass der Imām nicht weiter seinen vergänglichen fleischlichen Leib an sich trägt, den er während seiner irdischen Manifestation angenommen hat. Seine Begleiter sehen ihn so, wie er in seiner göttlichen, himmlischen Realität erscheint, in seiner Gestalt als »theophanes Licht«, als Licht des Pleromas der ewigen prophetischen Realität.
Im selben Augenblick, in dem sie auf der weißen Wolke Platz nehmen, vollzieht sich für sie die Transfiguration des Imām, der ihnen nunmehr im Glanze dessen erscheint, was die gnostische oder doketische Christologie als caro spiritualis (Geistleib) bezeichnet hat.
»Und da«, fährt Salmān der Reine fort, »sahen wir plötzlich den Imām auf einem Thron aus Licht. Er trug zwei gelbe Gewänder; auf seinem Haupt befand sich ein Diadem in der Farbe gelber Hyazinthen; an seinen Füssen glitzerten die Sandalenriemen; an seinem Finger ein Siegel in der Farbe weißer Hyazinthen. Das Licht seines Antlitzes blendete unsere Augen«.
Qāzī Sā’īd kommentiert: der Imām hat das Kleid seines irdischen Leibes abgelegt; er erscheint seinen Gefährten mit dem Gewand seiner Herrschaft über die imaginative Welt bekleidet, als Freund oder Nächster Gottes, stellvertretend für die ganze Menschheit. Der Thron des Imām repräsentiert diese Herrschaft über die imaginative Welt; er gehört also einer Welt an, die höher als die imaginative Welt ist, der Welt der cherubinischen Engel (Jabarūt, niedere Geistwelt) und der Welt der göttlichen Namen (Lahut, höhere Geistwelt) nämlich. Er ist reines Licht, ohne jede Beimischung.
Das Licht, das aus dem ersten Prinzip herabströmt, entspringt der Sonne am Himmel der geistigen Welten und nimmt mit dem Grad der Entfernung von seiner Quelle unterschiedliche Farben an, je nachdem, wie sehr es sich mit der »stofflichen Materie« vermischt.
Das Licht, das dem Orient der Lichter am nächsten steht, ist weiß, im Gegensatz zur Schwärze der dunklen Körper, die den extremen Okzident, den letzten der Okzidente bilden, zu dem sich dieses Licht herabneigen kann. Dieser extreme Okzident liegt am weitesten von der Quelle des Lichtes entfernt.
In der Mitte, zwischen Weiß und Schwarz, befindet sich das Rot. Zwischen Weiß und Rot das Gelb, das sich dem Licht der Lichter annähert. Zwischen Rot und Schwarz das Grün, das sich der materiellen Welt annähert.
Diese Theorie ist mit jener verwandt, welche die Ordnung der Farben aus der Symbolik der vier Säulen des Throns ableitet oder jener der Geistorgane der mystischen Physiologie Semnānīs (siehe: »Die sieben Geistorgane des Menschen«).
Die Anwendung dieser Theorie auf die drei Welten erläutert unser Philosoph wie folgt: die Farbe der höheren und der niederen geistigen Welt ist weiß; jene der irdischen Welt des Menschen schwarz. Zwischen den beiden erstreckt sich die Fülle der imaginativen Welt (Malakūt), in der alle Farben existieren, die zwischen Weiß und Schwarz liegen. Alles, was sich in der imaginativen Welt an der Grenze zur höheren Welt befindet, ist gelb. In gleichem Abstand von diesen beiden Extremen befindet sich das Rot und wenn man aus der imaginativen Welt zur irdischen Welt des Menschen herabsteigt, nähert man sich immer mehr dem Schwarz an.
Aufgrund dieser Ausführungen wird die Bedeutung der Kleidung des Imām auf dem Thron klar. Ein Prinzip, das der Hierarchie der Stufen des Seins, regiert die Welten: Alles, was in unserer Welt existiert, hat seine Quelle oder seinen Archetypus, seine metaphysische Realität, in der imaginativen Welt. Alles, was in der imaginativen Welt existiert, hat seine Quelle oder seinen Archetyp in der höheren und niederen Geistwelt (Lahut und Jabarūt).
1) Das Diadem auf dem Haupt des Imām zeigt die Farbe gelber Hyazinthen. In den drei Reichen unserer Welt wird das Mineral als erstes genannt; ebenso verhält es sich mit der Mineralogie der imaginativen Welt. Wegen seiner Nähe zur höheren Welt, die seine gelbe Farbe ausdrückt, befindet sich das Diadem auf dem Haupt des Imām.
2) Die zwei Gewänder des Imām sind ebenfalls gelb. Ohne Zweifel werden sie von intensivem Gelb sein, das zum Orange tendiert, dem Rot näher steht, weil der Brustkorb, den das Gewand bedeckt, sich näher an der mittleren Welt befindet (die durch die rote Farbe angedeutet wird), als das Haupt. Der Imām trägt zwei Gewänder, weil er mit dem doppelten Licht der niederen und der höheren Geistwelt bekleidet ist.
3) Die Sandalen: die Füße des Imām stehen der materiellen Welt am nächsten. »Sie stehen auf dieser Welt« in dem Sinn, dass er seine Herrschaft über diese Welt ausübt. Der hadīth erwähnt weder die Farbe der Sandalen, noch jene der Riemen. Qāzī Sā’īd sieht jedoch ihre Farbe: die Sandalen sind smaragdgrün, die Riemen hyazinthrot. Die Riemen halten die Sandalen zusammen, so wie die Seelenwelt die physische Welt zusammenhält. Sie sind hyazinthrot, weil sie, obgleich der Welt des Lichtes angehörig, an der unteren Seite der menschlichen Gestalt angebracht sind, deren Farbe zwischen Rot und Schwarz steht.
Diese Hermeneutik der Farben, bei der es sich nicht um eine Theorie der Optik handelt, gipfelt in der Interpretation der Symbolik des Rings.
4) Der Ring, den der Imām am Finger trägt, ist hyazinthweiß. Das Siegel des Imām ist das Zeichen der Herrschaft der geistigen über die seelische Welt, es bezeugt seine Autorität. Die Farbe der geistigen Welt ist weiß; das Siegel des Imām ist daher hyazinthweiß.
Schließlich berichtet die Erzählung, das Antlitz des Imām habe die Augen seiner Gefährten geblendet. Dies deswegen, so Qāzī Sā’īd, weil er das Antlitz Gottes ist, weil er vollständig Gott zugewandt ist, und nichts mehr an sich trägt, was aus Elementen gebildet ist, die verhindern könnten, dass man sein Wesen auf der Ebene des reinen Lichtes sieht. …
Salmān der Reine fährt mit seiner Erzählung fort: »In diesem Augenblick sagte al-Hasan zu ihm: O mein Vater! Salomon, dem Sohn Davids wurde gehorcht, weil er das Siegel besaß. Aber warum gehorcht man dir, dem Anführer der Gläubigen? Der Imām antwortet: Oh mein Kind! Ich bin das Antlitz Gottes, das Auge Gottes, das Wort Gottes. Ich bin der Freund Gottes. Ich bin das Licht Gottes. Ich bin der Schatz Gottes auf Erden. Ich bin die Macht und die Manifestation dieser Macht. Ich bin das Paradies und die Hölle«.
Diese Antwort greift Motive auf, die aus der »Predigt der Theophanie« und anderen hadīth bekannt sind. Durch sie spricht sich ein ewiger Imām aus, wie die schī’itische Gnosis ihn hört, als primordiale theophane Realität nämlich, ohne die der verborgene Gott auf immer unerkannt und unerkennbar bliebe.
Besonders hervorgehoben werden muss das Motiv des Kleidertauschs, weil darin ein Symbol wiederkehrt, das aus den Mysterienreligionen gut bekannt ist. Ein Kleid abzulegen und ein anderes anzuziehen, bedeutet, von einer Welt in die andere überzutreten. Dies verstehen wir noch besser, wenn uns berichtet wird, dass der Imām in diesem Augenblick seine Hand unter das Gewand schiebt, um das Siegel Salomos hervorzuholen, das von einem roten Hyazinth geschmückt ist. Der Imām erscheint als eine Epiphanie des Logos, als kosmische Realität, die allen Formen des Seins präsent ist, die ihm ihr Sein verdanken. Dies wird durch die beiden folgenden Episoden deutlich, die vom Übergang der Gefährten in die imaginative Welt des Pflanzenreichs und des Tierreichs berichten.
Der Baum des Lebens
In der ersten Episode hebt der Wind die weiße Wolke, die unsere Gefährten trägt, bis zu einem Berg, der in schwindelerregende Höhen emporragt. Auf dem Gipfel dieses Berges steht ein Baum, der vertrocknet und seine Blätter verliert. »Was ist das für ein Baum?« fragen die Gefährten. Der Imām antwortet: »Fragt ihn, er wird es euch sagen«. Aber der Baum antwortet nur dem Imām und erzählt, dieser habe die Gewohnheit, in seinem Schatten das Lob Gottes zu singen. Nun sei er aber seit vierzig Tagen nicht mehr erschienen und er, der Baum, verzehre sich vor Sorge, weil er vom Duft und der Kontemplation des Imām lebe. In diesem Augenblick berührt der Imām den Baum mit seiner Hand und zum Erstaunen der Gefährten ergrünt dieser von neuem und bedeckt sich mit Blättern und Früchten.
Was offenbart sich in dieser Erscheinung? Welches Geheimnis birgt die Geste des Imām? Der hohe Berg, so Qāzī Sā’īd, ist die imaginative Erscheinungsform der Erde, denn ein Berg ist etwas, das befestigt, und die imaginative Welt befestigt und stützt die sichtbare Welt.
Der große Baum ist die Erscheinungsform des Engels oder Logos, dem alles anvertraut ist, was auf der Erde und aus der Erde wächst, d.h. die Welt der Pflanzen. Die imaginative Welt ist das Reich des Lebens, das nie versiegt, und was dieses Leben hegt und ausgießt, ist eine kosmische Liturgie.
Es ist die himmlische Liturgie der Wesen der imaginativen Welt, welche die Realitäten der sinnlichen Welt, die unter ihrem Schutz stehen, befruchtet und ergrünen lässt. Der Engel der Erde bezieht sein Leben aus der Liturgie, die der Imām in seinem Schatten zelebriert. Zwischen seinen Liturgien stirbt der Baum nicht (denn nichts stirbt in der imaginativen Welt), aber er vertrocknet, in der Erwartung erneut zu ergrünen, sobald der Zyklus der kosmischen Liturgie den Imām wieder in seinem Schatten präsent sein lässt.
Diese liturgische Ausgießung des Lebens, so Qāzī Sā’īd, beschreiben auch die Philosophen, wenn sie von der Hierarchie der Engelwesen sprechen, die sich von der ersten Intelligenz, dem Nous des Universums, bis zur letzten, der aktiven Intelligenz, dem Engel der Menschheit, erstreckt. Wenn unsere Gefährten den großen Baum sprechen hören, dann deswegen, weil jedes Wesen in der imaginativen Welt durch die ihm eingeborene Seele spricht, und weil dieses Zwiegespräch seiner Seele sein Gebet und seine Lobpreisung ist. Wenn der Baum auf den Duft und die Kontemplation des Imām anspielt, dann drückt er sein Verlangen danach aus, das Leben in sich aufzunehmen, das der Licht-Imām ausstrahlt.
Der Engel der Horizonte
Zwischen dieser und der folgenden Episode entfaltet sich eine grandiose Vision. Der Imām nimmt wieder auf der weißen Wolke Platz und befiehlt dem Wind, sie fortzutragen. »Und der Wind trug uns so weit in die Höhe, dass uns die Erde nur noch wie ein kleiner Hügel erschien. Wir erblickten in der Höhe einen Engel, dessen Haupt die Sonne berührte, und dessen Füße auf dem Grund des Meeres standen. Sein einer Flügel berührte den Orient, sein anderer den Okzident. Als wir vorüberzogen, hörten wir ihn das dreifache Zeugnis sprechen (die Bezeugung des einen Gottes, des Propheten und des Imām)«.
Diese grandiose Gestalt ist die des Engels der Luft, d.h. des Raumes der imaginativen Welt (der, wie wir später erfahren, als Seraphiel bezeichnet wird). Die Bedeutung dieser gewaltigen Erscheinung hat Qāzī Sā’īd durch seine Metaphysik der Zeit und des Raumes zu erläutern versucht. Statt von einer Involution kann man ebensogut von einer Ausdehnung von Raum und Zeit sprechen, denn wenn sich beide in der Gegenwart des Augenzeugen einwickeln, bedeutet das umgekehrt, dass dieser in der Totalität beider gegenwärtig ist. Der Imām erklärt seinen Gefährten: »Ich bin es, der mit der Erlaubnis Gottes diesen Engel erhöht hat; ich habe ihm die Finsternisse der Nacht und das Licht des Tages anvertraut und so wird es bis zum Tage der Auferstehung bleiben«. Die Erscheinung des Engels, die alle Horizonte umfasst, stellt also die Totalität der Zeiten und Orte dar: alles Vergangene und Zukünftige, alle Oriente und Okzidente sind in ihm gleichzeitig anwesend, sind in seinem Bild versammelt, dessen Vision sich dem Imām und seinen Gefährten zeigt, weil die Dimension dieses allumfassenden Bildes dem Organ des Geistleibes entspricht, durch das sie wahrnehmen.
Gog und Magog
Die zweite Episode führt unsere Gefährten zu einem anderen hohen Berg in der Nähe jener berühmten Mauer, die Alexander gegen Gog und Magog errichtete (Sure 18: 83-98). »Der Berg war vollkommen schwarz, als wäre er ein Teil der Nacht, und Dampf trat aus ihm hervor«. Im exoterischen Sinn bezeichnen Gog und Magog gewisse Völker an den Grenzen der bekannten Welt in Zentralasien. Esoterisch handelt es sich um etwas anderes: Wir befinden uns an der Grenze zwischen dem Pflanzen- und dem Tierreich der imaginativen Welt, jenem Reich, das aus allem besteht, das ein lebendiges Pneuma (eine Art von Dampf) besitzt. Wir befinden uns noch auf einer tieferen Ebene der imaginativen Welt, auf der vormenschliche Wesen im Zustand von Tierseelen gefangen sind. Es handelt sich um satanische Seelen, jene der Dämonen mit menschlichen Gesichtern, die unfähig sind, sich in die höheren Regionen der imaginativen Welt zu erheben.
Der Aufstieg in das Menschenreich der imaginativen Welt wird in einer Wanderung um den Berg Qāf bestehen, die bis auf dessen Gipfel führt. Dort werden sich die Folgen der Einwicklung oder Ausdehnung der Zeit und des Raumes in ihrer vollen Bedeutung zeigen.