Das Mysterium von Golgatha – 1906 (10)

Zuletzt aktualisiert am 25. März 2017.

Die Entfaltung der Christologie im Werk Rudolf Steiners 1906 (10)

In Band 97 der Gesamtausgabe, der erstmals mit dem Titel »Das christliche Mysterium« 1968 erschien, wurde auch ein Vortrag aufgenommen, den Steiner am 2. Dezember 1906 in Köln hielt. Der Text dieses Vortrages wurde 1945 von Marie Steiner im Nachrichtenblatt der Anthroposophischen Gesellschaft veröffentlicht, er beruht auf Notizen ungenannter Zuhörer und nimmt im Druck 12 ½ Seiten ein. Der Titel des Vortrags – Das Mysterium von Golgatha – stammt nicht von Steiner, erscheint aber aufgrund seines Inhaltes gerechtfertigt.

Bis zum Dezember 1906 taucht die Wortverbindung »Mysterium von Golgatha« nur sporadisch und ohne nähere Erläuterungen im Vortragswerk auf. [1] Nun aber widmet Steiner diesem »Mysterium« einen ganzen Vortrag. Über »christliche Mysterien« oder »das christliche Mysterium« hatte er schon einige Jahre gesprochen, bereits im Buch Das Christentum als mystische Tatsache …; dass aber der Begriff des »Mysteriums« mit Golgatha verknüpft wird, stellt ein neues Motiv dar. Das Geheimnis, das mit der Schädelstätte »Golgatha« verbunden ist, kann nur das Geheimnis des Todes am Kreuz und die durch ihn ermöglichte Auferstehung sein – zwei zentrale, besser: die zentralen Mysterien des Christentums, die von Steiner in seinen Darstellungen bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht näher ausgeleuchtet worden waren.

Während im Umkreis des Buches über das [amazon_textlink asin=’372746190X’ text=’Christentum als mystische Tatsache …’ template=’ProductLink’ store=’anthroblog-21′ marketplace=’DE’ link_id=’d1bacb31-05c7-11e7-9321-b1d2873c081d’] die Auferstehung Jesu als eine Wiederholung jener »Auferstehung« interpretiert wurde, zu welcher die Initiierten in den ägyptischen Mysterien oder auch in anderen großen Mysterien geführt worden waren, und die Besonderheit der ersteren lediglich darin bestand, dass sie ein in der Öffentlichkeit vollzogener Initiationsvorgang war, setzte sich in den folgenden Jahren offenbar die Einsicht durch, jene Mysterieneinweihungen hätten nicht zu einem wirklichen Tod und damit auch nicht zu einer wirklichen Auferstehung geführt. Gegenüber dem symbolischen Tod der Initiation betonte Steiner die Realität des Todes und der Auferstehung Christi, sprach aber gleichzeitig von der Auferstehung als einer Stufe des christlichen Initiationsweges, der sechsten Stufe, an die sich die Himmelfahrt als siebente Stufe anschloss.

Noch 1907 in der Münchner Vortragsreihe über die [amazon_textlink asin=’3727464305′ text=’Theosophie des Rosenkreuzers’ template=’ProductLink’ store=’anthroblog-21′ marketplace=’DE’ link_id=’166e1371-05c8-11e7-9c62-77a1190046c8′] folgen auf den mystischen Tod – die fünfte Station –, Grablegung und Auferstehung, und an diese beiden Vorgänge, die zusammen eine Stufe ausmachen, schließt sich die Himmelfahrt an, über die mit menschlichen Worten nicht geredet werden kann, wie es immer wieder heißt. Über »Grablegung und Auferstehung« berichtet das Notat vom 6. Juni 1907: »Dann ist der Mensch in dem Erdenplaneten begraben. Notwendig verbunden ist diese Stufe mit einem neuen Leben, mit dem Sich-vereinigt-Fühlen mit der tiefsten Seele des Planeten, mit der Christus-Seele, die da sagt: ›Die mein Brot essen, die treten mich mit Füßen‹«. [2] Da aber dieses »neue Leben« des christlich-gnostischen Initiierten, das aus dem Erlebnis der »Vereinigung mit der Christus-Seele« hervorging, den realen Tod und die reale Auferstehung Christi zur Voraussetzung hatte, dürfte sich diese Erfahrung in der Nachfolge Christi ebenso von den Erweckungen der vorchristlichen Zeit unterschieden haben, wie Christi Auferstehung von den früheren Auferweckungen durch Initiation.

Nun aber, im Dezember 1906 tauchen gänzlich neue Motive auf: Steiner spricht vom »Opfer« des Jesus von Nazareth in seinem 30. Lebensjahr, von der Bedeutung des Blutes, das am Kreuz geflossen ist und von der Veränderung der Astralatmosphäre des Planeten durch den Tod Christi.

Sehen wir uns diese Ausführungen genauer an.

Hinter dem »Mysterium von Golgatha« verbirgt sich ein Geheimnis – ein Geheimnis hinter einem Geheimnis also –, das zu den tiefsten der Weltentwicklung gehört. Das Wesen Christi – der »größten Erscheinung auf der Erde« –, kann nur aus der Weisheit der Mysterien verstanden werden, die Kosmogonie und Theogonie in eins schaut. Und nun stellt Steiner gleich zu Beginn seiner Ausführungen eine einfache Frage, die doch bisher in dieser Form von ihm noch nie gestellt worden ist: »Wer war eigentlich der Christus Jesus?«

Diese Frage lässt sich seiner Auffassung nach nicht beantworten, wenn nicht deutlich zwischen der Persönlichkeit Jesu und der Individualität Christi unterschieden wird. Jesus wurde Christus im dreißigsten Jahr seines Lebens. Vorher war er ein Mensch, ein Geistesschüler zwar, ein hoch entwickelter, der seine drei Leiber (physischer Leib, Ätherleib, Astralleib) vollständig gereinigt und geläutert hatte, aber trotzdem ein Mensch. Wenn ein Geistesschüler diese Entwicklungsstufe erreicht hat, dann erlangt er, so Steiner, die Fähigkeit, sein Ich hinzuopfern, jenes Wesensglied also, das die Reinigung bzw. Umwandlung der Leiber bewirkte. Dieses Opfer brachte Jesus in seinem dreißigsten Lebensjahr. Sein Ich ging »in die astrale Welt« über, ließ seine drei geheiligten Leiber wie ein leeres Gefäß zurück und stellte sie einer anderen, »höheren Individualität« zur Verfügung. Und diese höhere Individualität war die Individualität Christi. Vom Zeitpunkt dieses Wesenstausches ab muss Jesus als »Christus Jesus« bezeichnet werden. Der nun in den drei verbliebenen Jahren seines Lebens auf Erden wandelte, war kein bloßer Mensch mehr, sondern ein Mensch, in den eine kosmische oder hierarchische Geistindividualität Einzug gehalten hatte, die fortan durch den Menschen Jesus wirkte.

Damit ist aber die Frage noch nicht beantwortet, wer Christus, die kosmische Geistindividualität, war – ob es sich um ein hierarchisches Wesen handelte, und wenn ja, welches, oder um ein Wesen, das zwar als Engel erscheinen bzw. durch solche wirken kann, jedoch selbst nicht den Engelreichen angehört, was man vom Logos des Johannes-Evangeliums auch erwarten würde. Diese Frage lässt sich, so Steiner, nur aus der Kosmotheogonie beantworten.

Die Erde wurde zu dem, was sie heute ist, indem sie verschiedene Verkörperungen durchlief, so wie der Mensch zu dem wird, was er ist, indem er verschiedene Verkörperungen durchläuft. Diese Verkörperungen werden als alter Saturn, alte Sonne und alter Mond bezeichnet. Wenn die geisteswissenschaftliche Kosmogonie von »Erde« spricht, meint sie nicht bloß einen Himmelskörper, sondern die Gesamtheit der Wesen, die diesen Himmelskörper bewohnen und sich mit ihrer himmlischen Wohnstätte gemeinsam entwickeln. Kosmogonie ist zugleich Theogonie, Theogonie ist Anthropogonie, Anthropogonie ist Theophanie, Ausfaltung des Gewandes der Gottheit in Gestalt der Hierarchienwelt.

Zu dieser Ausfaltung gehört die stufenweise Manifestation des kosmischen Menschen – des Menschen, der zum individuellen Abbild Gottes werden soll –, durch die Hierarchien, bis er schließlich auf der heutigen Erde angelangt. Menschsein heißt »Ich« sein, heißt Selbstbewusstsein sein. Das göttliche Selbst bewegt sich auf der Leiter der Engelreiche abwärts, nimmt in diesen Gestalt an, um auf der Erde, wie wir sie kennen, schließlich in jener individualisierten Form zu erscheinen, die von Urbeginn an das Ziel des Schöpfungs- oder Emanationsprozesses war (Schöpfung ist Emanation und Emanation Schöpfung; eine Schöpfung »aus dem Nichts« ist widersinnig, denn wenn der Begriff der Schöpfung einen Sinn haben soll, setzt er einen Schöpfer voraus, der nicht aus nichts, sondern aus sich schafft; »das Nichts« wäre ein Etwas, das er nicht ist, das zuvor aus seiner Selbstnegation hervorgehen müsste). Eine Stufe der Selbstmanifestation des göttlichen Ur-Ich durch die Hierarchien repräsentiert die »alte Sonne«, auf der die sogenannten Feuergeister – die christlichen Erzengel – jene Bewusstseinsstufe durchlaufen, auf welcher der heutige Erdenmensch steht. Sie werden Menschen, d.h., sie entwickeln ­– unter gänzlich anderen Bedingungen als die heutige Menschheit – an den Feuerleibern, die ihnen zur Verfügung stehen, ihr Selbstbewusstsein. Statt von »alter Sonne« könnte man auch von einem Zustand des kosmischen Bewusstseins sprechen, in dem sich dieses in Erzengeln kontrahiert. In den Lichtesflammen der alten Sonne loderte das Selbstbewusstsein der Gottheit in den Erzengeln auf.

Auch auf dem »alten Mond« erlangte wurde eine Kategorie geistiger Wesen zur Epiphanie des göttlichen Ur-Ich: die jüngeren Brüder der Erzengel, die »Mondväter« oder Geister des Zwielichts – die Engel. Aus den Klangfluten des alten Mondes tönte das Selbstbewusstsein der Gottheit durch die Engel hervor.

Auf der heutigen Erde schließlich wird der Erdenmensch zum Träger der Epiphanie des göttlichen Selbstes. Im diamantenen Herzen der Erde leuchtet das Selbstbewusstsein der Gottheit durch das Menschen-Ich auf.

Über dem Menschen stehen die Angeloi, die Mondgeister, über diesen die Archangeloi, die Sonnengeister. Weitere Engelwesen werden von Steiner nicht erwähnt.

Nun wird ein Blick auf das lemurische Weltalter geworfen, in dem die Erde von Lebewesen bevölkert war, die nur entfernt (eigentlich gar nicht) dem heutigen Menschen glichen. Sie bildeten eine Art Gehäuse aus zähflüssiger, ätherisch-wässriger Substanz, also gallertartiger Masse, das auf seine Befruchtung von oben wartete. In diese Gehäuse zogen die Menschenseelen ein, um sie zu solchen Wesen fortzubilden, die Träger der Epiphanie des göttlichen Selbstes werden konnten. Die Menschenseelen wiederum waren eingebettet in die Engelreiche und mit ihnen senkten sich Engelwesen in die physischen Hüllen der Lemurier. Wie Wasser, das in Gefäße gefüllt wird und diese Gefäße formt, ergoss sich die Substanz, der Bewusstseinsinhalt der Hierarchienwelt in die Menschenvorfahren – und zwar jener der Engel, die auf dem »alten Mond« ihre Menschwerdung vollendet hatten. Durch den Bewusstseinsinhalt der Engel vermochte der Mensch seinen Organismus umzuformen und der künftigen Bestimmung entgegenzuführen, zu jenem Leib zu werden, der »auf den denkenden Geist hingeordnet ist«. Die Engel waren es, die den Menschen aufrichteten, ihn gehen und sprechen lehrten und ihm die äußere Form der Selbstständigkeit gaben. Sie gossen den Menschenvorfahren das Geistselbst ein.

Über etwas jedoch verfügten sie nicht, was dem Menschen ebenfalls zuteil werden sollte: den Lebensgeist. Diesen vermochte jedoch eine andere gemeinschaftliche Wesenheit auszugießen, die bereits auf der Sonne ihre Menschenstufe erreicht hatte: ein Feuergeist oder Erzengel.

Steiner verdeutlicht seine Schilderungen durch folgende Skizze an der Tafel:

Was hier an die Tafel gezeichnet wurde, entspricht einer Art Monopsychismus: die Leibeshüllen der lemurischen Menschenvorfahren werden von einer einheitlichen Seelensubstanz beseelt und diese sind daher seelisch betrachtet alle miteinander verwandt sie sind auch in physischer Hinsicht miteinander verwandt, weil ihre gallertigen Leiber aus der von kosmischem Leben durchzogenen Masse der Erde gebildet sind – wie Quallen im Meer. Man könnte sich dieses Geistselbst auch als einen Baumstamm vorstellen, der sich in Äste und Zweige auffächert. Während sich die Substanz der Engel in den Hüllen individualisiert und von diesen zunehmend eingeschlossen wird, schwebt die Substanz der Erzengel als eine gemeinsame geistige Atmosphäre über all den Lebewesen, die das Geistselbst der Engel in sich aufnehmen. Über der sich individualisierenden Seelensphäre breitet sich, diese umschließend, eine gemeinsame Noosphäre der Menschheit aus.

Nun gab es nicht nur einen Feuergeist, sondern deren viele, – einer aber war dazu berufen, seinen Lebensgeist über die ganze Menschheit auszugießen. Aber weder im lemurischen noch im darauffolgenden atlantischen Zeitalter war die Menschheit reif für die Aufnahme dieses Lebensgeistes. Auch das Geistselbst vermochte in jenen Hüllen, die aus physischem Leib, Ätherleib und Astralleib bestanden, erst rudimentäre Wirkungen zu entfalten.

»Durch die Tat des Christus auf der Erde« wurden endlich die Anlagen des Geistselbstes so ausgestaltet, dass es den Lebensgeist in sich aufnehmen konnte. Vorbereitet wurde diese »Tat« Christi durch die großen Lehrer, die ihm vorangingen, durch Buddha, den letzten Zarathustra, Pythagoras, Moses und andere, die sich das, was die übrigen Menschen nur umschwebte, bis zu einem gewissen Grad zu eigen gemacht hatten und seit dem 7. Jahrhundert vor der Zeitenwende in Erscheinung traten. Sie hatten »den Funken des Christus in ihr Ich aufgenommen«. Sie waren, könnte man Steiner hier ergänzen, Christen vor dem Erscheinen Christi auf Erden, weil sie den Samen des Logos, des logos spermatikos, bereits in sich zum Wachsen gebracht hatten. Von diesem logos spermatikos und den vorchristlichen Christen sprachen vereinzelte Autoren der ersten christlichen Jahrhunderte wie zum Beispiel Justinus Martyr oder Augustinus.

Damit sind die vorbereitenden Betrachtungen beendet und Steiner wendet sich Jesus in seinem 30. Lebensjahr zu. Was nämlich in seine »geheiligten Leiber« einzog, war jener Feuergeist, der »gemeinsame Quell der Geistesfunken« der Menschen. »Das ist der Christus«, heißt es im Notat wörtlich, »die einzige göttliche Wesenheit, die in der Weise in keiner anderen Form auf der Erde vorhanden ist«. Vermutlich sagte Steiner: »die einzige göttliche Wesenheit, die in der Weise auf Erden vorhanden ist« – in der Weise nämlich, dass sie sich in einem Menschen inkarnierte und durch den Tod hindurchging.

Diese »göttliche Wesenheit« zog – bei der Taufe am Jordan – in den Menschen Jesus von Nazareth ein, um jenen, die sich mit ihm verbunden fühlten, die Kraft zu geben, seinen Lebensgeist in sich aufzunehmen. Und diese »göttliche Wesenheit« »nannte Johannes das göttliche Schöpferwort«. »Das göttliche Schöpferwort ist dieser Feuergeist, der seine Funken in die Menschen ausgoss«, lautet der nächste Satz.

Der Leser sollte hier einen Augenblick innehalten und über diese Sätze etwas reflektieren. Steiner bezeichnet nicht nur einen Erzengel als »göttliche Wesenheit«, er identifiziert auch Christus mit diesem Erzengel und beide mit dem Logos des Prologs. Deutlicher ließe sich eine Grundgleichung der Engelschristologie kaum ausdrücken. War Steiner im Dezember 1906 tatsächlich der Überzeugung, Christus, der Logos, sei ein Erzengel und nur ein Erzengel? Hätte er diese Auffassung vertreten, dürfte ihm ihre Widersprüchlichkeit kaum entgangen sein. Man setze nur jenen Erzengel an die Stelle des Logos im Prolog des Johannes-Evangeliums: Alles ist aus einem Erzengel entstanden? Aber dieser Erzengel erlangte doch laut Steiner selbst erst auf der alten Sonne die Menschenstufe! Was war dann mit dem alten Saturn? Und was war mit dem Vatergeist, den das Logion: »Ich und der Vater sind eins« voraussetzt? Was war mit dem Geistesmenschen, den Steiner noch im Oktober 1906 in den christlichen »Vater« übersetzt, – wenn nicht gar mit ihm gleichgesetzt hatte? Was war mit all den hierarchischen Wesenheiten, die über den Erzengeln standen, den Archai, Exusiai usw. bis hinauf zu den Seraphim?

Ob sich die Kölner Zuhörer diese Fragen stellten oder in stiller Ergebenheit diese ungewöhnlichen Offenbarungen entgegennahmen? Wir wissen es nicht. Wie auch immer – die Antwort auf sie findet man nicht im vorliegenden Vortrag. Eine Lösung für das aufgeworfene Problem – meiner Auffassung nach die einzig mögliche Lösung – bietet der Begriff der Theophanie, die Idee, dass sich die Gottheit, wie weiter oben bereits angedeutet, durch die Hierarchien offenbart, durch sie wie durch Organe wirkt. Dann ließe sich die Gleichung Erzengel = Christus = Logos in einen Ähnlichkeitssatz umformen: ein Erzengel kann eine Theophanie des Christus, dieser eine Theophanie des Logos sein, im Erzengel ist der Logos in abbildlicher Form anwesend, auch wenn er nicht mit ihm identisch ist, aber er wirkt durch ihn, wie durch ein Organ – so, wie das Ich des Menschen durch die Hand wirkt, ohne mit der Hand identisch zu sein, oder so, wie sich die Seele durch das Antlitz offenbart, ohne mit ihm identisch zu sein. Tatsächlich hat Steiner später das angedeutete Problem in dieser Richtung einer Lösung entgegengeführt, erstmals in seiner Vortragreihe Die Theosophie des Rosenkreuzers im Juni 1907 [3], klassisch ausformuliert wurde diese Lösung von ihm in den Vorträgen über die geistigen Wesenheiten in den Himmelskörpern und Naturreichen, die im April 1912 in Helsingfors stattfanden. [4] Doch da wir hier der Genese der Darstellungen zur Christologie folgen, müssen die unaufgelösten Widersprüche oder ungeklärten Fragen hingenommen werden. Den damaligen Zuhörern – vielleicht sogar Steiner selbst – blieb schließlich auch nichts anderes übrig.

Die angesprochenen Erkenntnisprobleme können nicht mit einem Verweis auf die Unvollständigkeit der Nachschriften beiseite gewischt werden, da sich ähnliche Aussagen auch in anderen Vorträgen dieser Zeit finden. Hätte Steiner grundlegend andere Ansichten vorgetragen, müssten diese irgendwo auftauchen. Es ist nicht anzunehmen, dass alle Hörer, die sich Notizen machten, stets dasselbe nicht aufzeichneten. Es lässt sich auch nicht begründet behaupten, Steiner habe lediglich gewisse Aspekte seiner Christologie vorgebracht, andere aber verschwiegen, um sie zu einem späteren Zeitpunkt darzustellen. Die einzige vertretbare Hypothese ist die, dass Steiner tatsächlich seinen damaligen Erkenntnisstand vortrug – dass er stets seinen jeweiligen Erkenntnisstand vortrug, – alles andere sind Verlegenheitserklärungen, die sich mit dem Ethos des Geistesforschers, zu dem er sich stets bekannte, nicht vereinbaren lassen. Es muss also eine Bewusstseinsform, eine geistige Perspektive geben, für die oder von der aus Christus, der Logos, tatsächlich als Feuergeist erscheint. Für diese Perspektive ist Christus ein Feuergeist, ein Erzengel, auch wenn sich zu einem späteren Zeitpunkt herausstellt, dass er nicht nur ein Feuergeist ist, sondern als solcher erscheint, weil er durch ihn hindurch wirkt. Die Identifikation Christi mit einem Erzengel (»das göttliche Schöpferwort ist dieser Feuergeist«) ist deswegen nicht falsch, – sie ist aber auch nicht erschöpfend.

Doch kehren wir zum Gedankengang des Vortrages zurück. Dieser führt nämlich die Differenzierung der Menschheit – die Individualisierung in Kollektive, letztlich auch die Vereinzelung in Individuen – auf die Gabe der Engel, das Geistselbst, zurück, während sie durch die Gabe des einen Erzengels, der von Steiner als »Christus« bezeichnet wird, zu »einer die ganze Erde umfassenden Familie« zusammenzuwachsen vermag. Durch die Gabe der Engel wurden die Unterschiede bewirkt, durch die Gabe des Erzengels die Einheit der Menschheit. »Was die Menschen verbindet, das kam auf die Erde durch den Christus Jesus«.

Vor diesem Hintergrund werden nun Sätze wie: »Was ihr einem der geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« gedeutet, als Hinweise auf die Zukunft, in der die Samen des Lebensgeistes, die Christus in der Menschheit ausstreute, aufgegangen sein werden, und diese tatsächlich zu einem Geist, zu einem Bund von geschwisterlichen Seelen geworden sein wird. Als geistig-reale, substantielle Einheit durchdringt Christus die gesamte Menschheit, stiftet dieses Einheitsbewusstsein und durchdringt im Lauf der künftigen Weltalter die gesamte »Astralsubstanz der Erde« mit seinem Wesen. Ist dieser Zustand erreicht, dann wird alles Leid durch Mitleid gelindert, aller Hass durch Liebe erlöst sein.

»Der Christus ist der Erdengeist, und die Erde ist sein Leib«, heißt es poetisch im Notat: »Alles, was auf der Erde lebt und sprießt und wächst, das ist der Christus. Er ist in all den Samenkörnern, in all den Bäumen und in allem, was auf der Erde wächst und sprießt. Darum musste Christus hindeuten auf das Brot und sprechen: ›Das ist mein Leib‹. Und von dem Saft der Weintrauben musste er sagen: ›Dies ist mein Blut‹, denn der Saft der Früchte der Erde ist sein Blut«.

Daher geht auf ihm herum, wer sein Brot isst: »Der mein Brot isst, der tritt mich mit Füßen«. Dieser Satz hat nur Sinn, wenn die Erde im wortwörtlichen Sinn der Leib Christi ist. Immer mehr wird seine Substanz die Erde und die Menschheit durchdringen, bis alles durch ihn umgewandelt, »durchchristet, vergottet« ist.

Deutlich wird nun auch der Unterschied zwischen der Mysterieneinweihung und der höchsten Realisation dieser Einweihung durch das Ereignis von Golgatha ausgesprochen. In den vorchristlichen Mysterien wurde dargestellt, was in der Zukunft geschehen sollte (prophetische Vorausnahme). Die Schüler mussten die Grablegung durchleben, die Hierophanten brachten sie in einen höheren Bewusstseinszustand, nach drei Tagen wurden sie wieder aufgeweckt und erhielten einen neuen Namen, nun wurden sie als »Gottessöhne« angesprochen. Die Hierophanten belehrten sie: So wie sie von einem »Geistesfunken des Christus« belebt worden seien, werde dereinst einer kommen, der allen Menschen die »Verchristung« ermögliche. Einer werde »wirklich das Wort im Fleisch sein«. Im Gegensatz zu diesen Schülern, die nur drei Tage lang die Reiche der Himmel durchwandern konnten, werde er die Reiche der Himmel immer durchwandeln, ja er werde sie auf die Erde bringen.

Und dies geschah laut Steiner beim Mysterium von Golgatha. Was der Eingeweihte lediglich in der Astralwelt erlebte, sollte Christus in der physischen Welt darstellen. Auf die Erscheinung des Logos im Fleisch deuteten alle Mysterien des Geistes hin. Im »Jogaschlaf«, im »orphischen Schlaf«, im »Hermesschlaf« erlebten die Initianden einen Vorblick auf jenes künftige Ereignis, aufgrund ihrer Erfahrung durften sie sagen: »Mein Gott, mein Gott, wie hast du mich erhöht!« Auch im »alten Judentum« kannten Eingeweihte diese Erfahrung, sie erlebten während der Schau, was der künftigen Menschheit bevorstand.

Nun folgt die Schilderung einer solchen astralen Schau:

»Während des Schauens in den drei Tagen wurden die zukünftigen Menschheitsstufen nicht in abstrakter Weise gesehen, sondern jede Stufe wurde durch eine Persönlichkeit dargestellt. Der Schauende sah zwölf Persönlichkeiten. Sie stellten die zwölf Stufen der Seelenentwicklung dar. So zeigten sich vor ihm die Seelenkräfte wie äußere Persönlichkeiten«. Der Eingeweihte sah »seine eigene Individualität verklärt bis zu jener Stufe, wo die ganze Menschheit von Lebensgeist erfüllt ist – wo sie verchristet sein wird. Den Gott sah er als sich selbst, und die Seelenkräfte dahinterstehen. Unmittelbar hinter ihm stand Johannes, der als letzte Gestalt seine Vollendung ankündigt. Sich selbst sah er verklärt, in einem Zustand, den er erlangen wird, wenn er vollendet sein wird; seine Seelenkräfte personifiziert, als deren letzte Vollkommenheitsstufe die Persönlichkeit des Johannes, der die Christus-Stufe verkündigt«. Leider lässt sich Steiner nicht weiter über diese zwölf Stufen der Seelenentwicklung aus, die vermutlich siderisch mit dem Gang der Sonne durch die zwölf Tierkreiszeichen im Verlauf eines platonischen Weltenjahres (25.920 Jahre) und terrestrisch mit den sogenannten Kulturepochen korrespondieren (oder der Präzession der Erdachse, wenn man will).

Und diese zwölf Gestalten gruppierten sich nun zum »mystischen Gemeinschaftsmahl«. Der Initiierte sah sich selbst, beim Mahl sitzend, umgeben von den Seelenkräften, und sagte sich: »Diese sind mit mir eins; sie haben mich durch die Erdentwicklung hindurchgeführt. Ich bin weitergeschritten mit den Füßen dieser Apostel«. –

Das »mystische Mahl« drückt die Gemeinschaft des Initiierten mit den zwölf Seelenstufen aus, den Weg, den er zu seiner Vervollkommnung zurückgelegt hat. Vervollkommnung bedeutet, Unvollkommenes abstreifen bzw. in Höheres umwandeln.

So wird der Mensch künftig die Fortpflanzungskräfte in höhere spirituelle Schöpferkräfte umwandeln. Die Seelenkraft des Johannes bewirkt, dass diese Kräfte »in das liebende Herz« hinaufgehoben werden. [5] Das Herz wird Ströme geistiger Liebe aussenden, wenn der Mensch Christus in sich aufgenommen hat. Jeder Eingeweihte erlebte dieses Mysterium des Herzens in seiner Schau.

Mit dem Erscheinen »des Jesus Christus« aber wurde dieses astrale Erlebnis, in der physischen Welt als historische Tatsache realisiert. Bei der Einsetzung des Abendmahls sagte dieser zu seinen Jüngern: »Am Ende der Erdentwicklung werden alle Menschen das aufgenommen haben, was ich auf die Erde gebracht habe; da wird das wahr sein: dies ist mein Leib, dies ist mein Blut«.

Was sich in den Mysterien auf astraler Ebene abspielte, wurde auf Golgatha zur physischen Realität. Unter dem Kreuz stand der Jünger, der beim Abendmahl an seinem Schoß gelegen hatte und zur Brust hinaufgehoben worden war (ein Vorgang, der die Vergeistigung der Fortpflanzungskräfte symbolisiert). Die Mutter Jesu, deren Schwester Maria sowie Maria Magdalena standen da. Nicht Maria hieß seine Mutter, sondern Sophia. Es handelte sich um jene Sophia, die bei der Taufe, beim Erscheinen der Taube, »geistig befruchtet« wurde.

Wer war diese Mutter? Der Geistesschüler Jesus von Nazareth! Auf ihn, dessen Hüllen von seinem Ich verlassen worden waren, auf sein Geistselbst, senkte sich der Lebensgeist jenes Erzengels herab, der die gesamte Menschheit zu seiner alles umschlingenden Liebe hinaufführen wollte. Das reine Geistselbst, der geheiligte Astralleib, der den Lebensgeist empfing, das war Sophia, die Weisheit, die Mutter, die vom Heiligen Geist, dem Vater Jesu, befruchtet wurde. [6]

Nun aber der Tod am Kreuz: der »höchste Erdengeist« – der Feuergeist-Erzengel Christus – musste sich in einem menschlichen Leib inkarnieren. Und dieser Leib musste sterben, das Blut musste fließen. Warum? Damit der Egoismus, der im Blut seinen Sitz hatte, überwunden werden konnte. Damit die Stammes- und Volksegoismen, die Egoismen der Blutsverwandtschaft, getilgt werden konnten. Alle Einzelegoismen flossen dahin mit dem Blut Christi am Kreuz. Der gemeinsame Menschheitsgeist sollte das Blut durchdringen, auf dass die in Kollektiven gefangenen oder bereits entwurzelten Individuen in Zukunft zu jener Einheit zusammenwachsen können, die den Egoismus, die Gabe der Angeloi, überwinden wird.

Ein Beobachter, der zum Zeitpunkt des Todes auf Golgatha die Astralatmosphäre der Erde beobachtet hätte, würde wahrgenommen haben, wie sich diese ganze Atmosphäre durch den Tod Christi veränderte.

Die drei Leiber Jesu blieben am Kreuz zurück und wurden später vom Auferstandenen wiederbelebt. Im Augenblick des Todes hauchten sie die Worte: »Mein Gott, mein Gott, wie hast du mich verherrlicht!«

Soweit der Vortrag vom 2. Dezember 1906 in Köln. Wie sich diese Ansätze einer kosmischen Christologie in den folgenden Jahren immer mehr erweitern und die Darstellung der Erkenntnis den Abstieg jenes kosmisch-überkosmischen Wesen auf die Erde gleichsam spiegelbildlich als Aufstieg rekapituliert, wird zu zeigen sein.

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Anmerkungen

[1] So in Berlin am 22.10.1905, GA 93, S. 205 und in Leipzig, am 8. Juli 1906, GA 94, S. 168.

[2] GA 99. Es handelt sich um kein wörtliches Zitat.

[3] GA 99, Vorträge vom 2. und 3. Juni 1907. Dazu später.

[4] GA 136, Vortrag vom 7. April 1912.

[5] Diese Fähigkeit des Johannes, die Fortpflanzungskräfte in spirituelle Schöpferkräfte umzuwandeln, dürfte der Hintergrund dafür sein, dass sein Symboltier nicht der Skorpion ist, sondern der Adler, die höhere Erscheinungsform des Skorpions.

[6] Zum Hl. Geist als »Vater Jesu« siehe den Vortrag vom 5.11.1906 in GA 94. Ein vollkommen vergeistigter Astralleib, heißt es dort, wurde als »Jungfrau Sophia« bezeichnet, der Ätherleib, der den Inhalt dieses jungfräulichen Astralleibs in sich aufnahm, als »Heiliger Geist«. Das, was aus beiden entstand, als »Menschensohn«.

2 Kommentare

  1. Oskar Kürten hat einige Bücher verfasst wobei die verschiedene Einkörperungen Christi in verschiedene Wesen der Hierarchien beschrieben sind.

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