Projektive Ausstülpungen. Karma und Freiheit. Schulungswege – Zu Band 6 der SKA #4

Zuletzt aktualisiert am 19. April 2020.

Das vierte Unterkapitel der Einleitung zum sechsten Band der kritischen Steiner-Ausgabe befasst sich wie erwähnt mit der »Genese« des Werkes Theosophie. Leitfrage ist die Beziehung zwischen letzterer und der Philosophie der Freiheit bzw. dem philosophischen Werk Steiners. Die Detailstudie dient der Überprüfung der Behauptung Steiners, sein philosophisches Hauptwerk und das Hauptwerk seiner theosophischen Phase strebten »in verschiedener Art … nach dem gleichen Ziele«, »für das Verständnis des einen« sei »das andere durchaus nicht notwendig, wenn auch für manchen gewiss förderlich« (Vorrede zur dritten Auflage der Theosophie 1910).

Der erste Teil dieser Untersuchung blickt aus der Perspektive des philosophischen Werkes auf das theosophische. Finden sich die Hauptthemen der Philosophie der Freiheit in der Theosophie und wenn ja, in welcher Form? Der zweite Teil kehrt die Blickrichtung um und frägt danach, ob die Hauptthemen der Theosophie bereits in der Philosophie der Freiheit angesprochen oder zumindest angedeutet werden.

Die Auseinandersetzungen der Philosophie der Freiheit kreisen um drei Gegenstände: Erkenntnis, Freiheit und Wirklichkeit bzw. Gott, die cum grano salis den drei Hauptteilen des Buches zugeordnet werden können. Unterliegen die Ansichten Steiners über diese Gegenstände zwischen 1893 und 1904 Veränderungen oder nicht?

Die Auffassung von Erkenntnis, die 1893 als Synthese aus Wahrnehmung und Begriff (Erfahrung und Intuition) charakterisiert wird, und als solche die Dualität der gegebenen Welt im Bewusstsein des erkannten Seins versöhnt, begegnet laut Clement auch in der Theosophie, im »Kontext der Dreiweltentheorie«. Hier fällt die einheitliche Wirklichkeit in drei Erlebnissphären auseinander: die »Sinneswelt«, die »Seelenwelt« und die »Geisteswelt«. Die Sinneswelt entspricht seiner Auffassung nach der »menschlichen Vorstellungswelt«, die in der Philosophie der Freiheit als Produkt der Erkenntnistätigkeit verstanden wird: Es handelt sich um jenen »Modus des Erlebens von Wirklichkeit, welcher dem sinnengebundenen Alltagsbewusstsein entspricht«. Die »Geisteswelt« hingegen entspreche dem Erleben der eigentümlichen Wesenheit des Denkens, dem 1893 die Aufgabe zufällt, Beziehungen zwischen den gegebenen und den hervorgebracht-gegebenen Weltinhalten zu stiften. Die theosophische »Seelenwelt« hingegen entspreche dem mittleren Bereich des Gefühls-, Wahrnehmungs- und Willenslebens von 1893.

Allerdings läge meiner Auffassung nach eine andere Parallelisierung näher: die Sinneswelt der Theosophie steht zur unerkannten Wahrnehmungswelt in Beziehung, die Seelenwelt zur Welt der Vorstellungen, die zwischen Wahrnehmung und Begriff vermittelt und die Geisteswelt zur Welt der Begriffe und Ideen. Damit würde sich die trinitarische Struktur des Erkenntnisprozesses in den drei Welten oder ontologischen Sphären der Theosophie tatsächlich abbilden. Setzt man nämlich die Sinneswelt der Theosophie mit der Vorstellungswelt der Philosophie der Freiheit gleich oder analog, tritt der objektive Anteil des »unmittelbar Gegebenen«, der vom Erkenntnisprozess vorausgesetzt wird, in Wegfall und das Subjekt der Theosophie erscheint gleichsam in seine Vorstellungswelt eingesponnen. Die Wahrnehmungen, so die Philosophie der Freiheit, sind uns »ohne unser Zutun gegeben«, die Begriffe müssen von uns hervorgebracht werden. Im Zentrum der Auseinandersetzungen des ersten Teils des Buches steht der Versuch, eine kantianische Fehlinterpretation der Wahrnehmungen zurückzuweisen, wonach diese nichts anderes als unsere Vorstellungen seien (»kritischer Idealismus«). Deutlich wird zwischen beiden Aspekten, die in die Synthese eingehen, unterschieden. »Im Gegensatz zum Wahrnehmungsinhalte, der uns von außen gegeben ist, erscheint der Gedankeninhalt im Innern«, ersterer ist der Beobachtung zugänglich, letzterer der Intuition, so das fünfte Kapitel. Steiner wendet sich ebenda ausdrücklich gegen die Auffassung von der Subjektivität der Wahrnehmung: »Die Wahrnehmung tritt immer als eine ganz bestimmte, als konkreter Inhalt auf. Dieser Inhalt ist unmittelbar gegeben, und erschöpft sich in dem Gegebenen. Man kann in bezug auf dieses Gegebene nur fragen, was es außerhalb der Wahrnehmung, das ist: für das Denken ist. Die Frage nach dem ›Was‹ einer Wahrnehmung kann also nur auf die begriffliche Intuition gehen, die ihr entspricht. Unter diesem Gesichtspunkte kann die Frage nach der Subjektivität der Wahrnehmung im Sinne des kritischen Idealismus gar nicht aufgeworfen werden. Als subjektiv darf nur bezeichnet werden, was als zum Subjekte gehörig wahrgenommen wird. Das Band zu bilden zwischen Subjektivem und Objektivem kommt keinem im naiven Sinn realen Prozess, das heißt einem wahrnehmbaren Geschehen zu, sondern allein dem Denken. Es ist also für uns objektiv, was sich für die Wahrnehmung als außerhalb des Wahrnehmungssubjektes gelegen darstellt« (kursiv L.R.).

Liest man weiter in Clements Einleitung, wird deutlich, warum er gerade die genannten Beziehungen herstellt und nicht die naheliegendere. Sie ermöglicht es ihm nämlich im Folgenden, die drei Welten der Theosophie als eine Art »Veräußerlichung oder Verdinglichung« der in der Philosophie der Freiheit beschriebenen drei Bereiche des »menschlichen Innenlebens« zu interpretieren, »d.h. als eine projektive ›Ausstülpung‹ der seelischen und geistigen Tätigkeiten des Menschen in eine nun als ›Außenwelt‹ erscheinende Umwelt. Die ›sinnliche Welt‹ wäre dann zu verstehen als das als Außenwelt aufgefasste Vorstellungsleben, die ›geistige Welt‹ [als] das von außen betrachtete Wesen des Denkens usw.«. Wie man sieht, setzt diese These die vorausgehende vollständige Subjektivierung des Weltinhaltes voraus, damit er anschließend aus dem Seelenleben des Menschen wieder ausgestülpt werden kann. Die drei Welten der Theosophie können nur unter der Voraussetzung als »projektive Ausstülpungen« interpretiert werden, dass zuvor jeder objektive, vom Menschen unabhängige Anteil des Gegebenen eliminiert wird. Clement folgt damit genau jener Variante der Epistemologie, die Steiner in der Philosophie der Freiheit zu widerlegen sucht. Aber er lässt es dabei nicht bewenden, sondern bietet unmittelbar darauf auch gleich eine entgegengesetzte Variante an. Die »anthropologischen Grundbestimmungen« der Philosophie der Freiheit könnten nämlich genauso gut als »ideelle Einstülpungen« der drei Welten der Theosophie betrachtet werden. Mit anderen Worten: was in der Theosophie als ontologische Bestimmung, als Differenzierung von Wirklichkeitsbereichen erscheint, wird in der Philosophie der Freiheit lediglich dem Begriff nach unterschieden. Allerdings gilt dieser Umkehrschluss wiederum nicht für das »unmittelbar Gegebene«, das immer als »ganz konkreter Inhalt auftritt« und sich in seinem Gegebensein »erschöpft«. Der Inhalt der Wahrnehmung lässt sich nicht aus dem Begriff ableiten, ebensowenig wie der Inhalt des Begriffs aus der Wahrnehmung. Die Wahrnehmungswelt der Philosophie der Freiheit ist keine »ideelle Einstülpung« der »subjektiven Vorstellungswelt« des Menschen, da aus rein Subjektivem nichts Objektives hervorgehen kann und aus »Ideellem« nichts Sinnliches. Aus dem Geist der Theosophie allerdings schon, aber dieser ist auch übersubjektiv. Welche methodische Bedeutung das Subjektivitätsprinzip, das Prinzip der Beliebigkeit, für Clement hat, geht aus folgendem Satz hervor, der sich an das Alternativangebot anschließt: »Entscheidend für die hiermit vorgeschlagene Lesart ist nicht, welche dieser beiden Perspektiven die ›richtigere‹ ist, sondern dass die Texte als solche grundsätzlich zulassen, auf diese Weise die Kerninhalte des einen als eine Art ›ideelle Umstülpung‹ der Grundbegriffe der andern zu verstehen«. Die Frage nach der »Richtigkeit« wird also eingeklammert und es ist dem Belieben eines jeden anheimgestellt, die Dinge so zu sehen, wie er gerade mag, denn von »richtig« oder »falsch« mag man gar nicht mehr sprechen. Ein analoges Argument wäre: es ist gleichgültig, ob ich behaupte, die Gebärmutter bringt das Kind hervor oder das Kind die Gebärmutter, Hauptsache beide lassen es zu, sie als wechselseitige Umstülpungen zu begreifen, das Kind als Umstülpung der Gebärmutter und die Gebärmutter als Umstülpung des Kindes. Richtig ist daran allerdings der Hinweis auf die Bedeutung der Umstülpung, auch wenn die Richtung dieser Umstülpung nicht ignoriert werden sollte. Schließlich geht es in der Theosophie darum, jene ontologischen Bereiche aufzudecken, in die das gewöhnliche Bewusstsein ohne es zu wissen eingebettet ist und die dem Erkenntnisprozess der Philosophie der Freiheit und dessen Elementen als generative Sphären, die spezifische Abhängigkeitsverhältnisse konstituieren, hinterlegt sind.

Wie sieht es mit Steiners Freiheitsbegriff 1894 (1893) und 1904 aus? Hier scheinen sich Unvereinbarkeiten aufzutürmen, bildet doch der Freiheitsbegriff des jungen Steiner dem Vernehmen nach geradezu einen Gegensatz zum Karma- und Schicksalsbegriff der Theosophie. Die Freiheit des Menschen besteht 1893 darin, dass er sich die Ziele seines Handelns selbst zu geben vermag, eine »teleologisch« aufgefasste Bestimmung des Menschen wird ebenso verworfen, wie der damit einhergehende Dualismus. Die Theosophie hingegen spricht von einer universellen Gesetzmäßigkeit des Karma, der alles unterworfen ist, besonders aber der Mensch, sie handelt von dessen »übersinnlicher Bestimmung« (so schon ihr Untertitel) und verlegt die »Weltabsichten«, aus denen auch die Bestimmung des Menschen hervorgeht, in eine laut Clement »auch dem übersinnlichen Erkennen« unzugängliche Sphäre.

Trotzdem »plädiert Steiner dafür«, zwischen beiden Werken bestehe kein Widerspruch. Es ist auch nicht zu übersehen, dass er den Freiheitsbegriff von 1893 in der Theosophie wieder aufgreift und diese als »Handeln aus sich heraus« bestimmt, allerdings bindet er diese autokratische Seinsform des Menschen an Beweggründe, die »aus dem Ewigen geschöpft« werden. Wer nicht aus der Erkenntnis der »Weltordnung« handelt, dessen Handeln »widerstrebt« ihr und seine Willkür wird von ihr »vernichtet«. Besonders problematisch erscheint Clement die teleologische Tendenz der Theosophie. Während Steiner eine höhere Zweckbestimmung des Menschen 1893 noch ausdrücklich ablehnt, stehen in der Theosophie geistige »Absichtswesen hinter der menschlichen und kosmischen Evolution«, von welchen der Mensch seine Ziele entgegennehmen muss.

Der von Clement aufgewiesene Widerspruch besteht meiner Auffassung nach aber bloß scheinbar. Bereits die Philosophie der Freiheit sieht den Menschen, der aus Intuition handelt, nicht als autokratischen Schöpfer seiner Intuitionen – das wäre eine Variante des Nominalismus –, vielmehr handelt der freie Geist aus Erkenntnis der Weltgesetzmäßigkeit. Zwar heißt es im zwölften Kapitel des Buches, der freie Geist »fasst einen schlechthin ersten Entschluss. Es kümmert ihn dabei ebensowenig, was andere in diesem Falle getan, noch was sie dafür befohlen haben«. Aber der Autor fährt fort: »Er hat rein ideelle Gründe, die ihn bewegen, aus der Summe seiner Begriffe gerade einen bestimmten herauszuheben und ihn in Handlung umzusetzen«. Der »schlechthin erste Entschluss« setzt also sowohl die ideellen Gründe als auch eine Summe von Begriffen voraus. Diese ideellen Bestimmungen werden vom Menschen ihrem Inhalt nach nicht aus seiner Subjektivität herausgesponnen, sondern in der Welt durch die intuitive Tätigkeit vorgefunden – er bringt sie durch letztere zwar zur Erscheinung, sie sind aber der Welt immanent. Die Gesetzmäßigkeit des Weltzusammenhangs ist der Wirklichkeit immanent, »das mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit ist zugleich das Leben in Gott« – also nicht: der freie Geist bringt Gott hervor, sondern er lebt in ihm, wenn er sich erkennend mit ihm vereinigt. Der »Weltzusammenhang« der Philosophie der Freiheit ist ein unerschöpfliches Reservoir von Erkenntnis- und Seinsbestimmungen, aus dem der Mensch allerdings aktiv schöpfen muss, wenn diese Bestimmungen in Form von Erkenntnis- oder moralischen Begriffen zum Inhalt seines Bewusstseins werden sollen. Die Welt- und Menschenbestimmung ist auch in der Philosophie der Freiheit potentiell gegeben, sie ist der Welt (und dem Menschen) immanent (daher noch 1893 der später gestrichene Satz: »die Welt ist Gott«; es kommt hier natürlich darauf an, was man unter »Welt« versteht). Dieses potentiell gegebene, der Welt immanente Telos wird im neunten Kapitel als der »jedem Wesen« mitgegebene »Begriff« bezeichnet, der ihm als das »Gesetz seines Seins und Wirkens« eingeboren ist, der allerdings vom Menschen als Wahrnehmungsgegenstand anfangs »tatsächlich« (der Wahrnehmung, dem Bewusstsein nach) getrennt ist, damit er ihn (oder die Summe der Intuitionen, die seine Individualität ausmachen) in Freiheit mit seiner individuellen Organisation verbinden kann. (Der Mensch »als Wahrnehmungsgegenstand« bildet den »Umbildungsstoff«, der vom intuitiv erfassten, tätigen Begriff ergriffen und durch diesen transsubstantiiert wird). Von der Potenz zum Akt durch ein aktuierendes Prinzip, das ist ebenso aristotelisch gedacht, wie der immanente Zweck, der weder von Aristoteles noch von Steiner verworfen wird. Was Steiner in der Philosophie der Freiheit zurückweist, ist lediglich eine äußere – d.h. postulierte oder abstrakt abgeleitete – Zweckbestimmung, sei sie nun naturalistisch oder supranaturalistisch gedacht. Statt von »Zielen«, die sich der Mensch selbst setzt, könnte man im Stil der Philosophie der Freiheit auch von »Zwecken« sprechen, die er sich selbst setzt. Nun ist in der »Theosophie« die Situation genau dieselbe: allerdings mit dem Unterschied, dass einige Schleier vor dem Reich der Zwecke – also dem Weltzusammenhang der Philosophie der Freiheit – durch »übersinnliche Erkenntnis« gehoben werden. Zu diesen gehören die »Weltabsichten«, die Gesetze des Karma und des Schicksals und andere. Karma ist der Weltzusammenhang, dem sich der Mensch aus Erkenntnis unterwirft, da er die weit schlimmeren Folgen seines Widerstrebens einsieht. Diese Einsicht ist präexistentiell, leibfrei, rein geistig und diese rein geistige Einsicht wird zur latenten Absicht, dem Menschen »eingeborenen Begriff« seines Wesens, den er jedoch wie Parzival erst finden muss, um sein Schicksal zu finden. Was die Philosophie der Freiheit voraussetzt, ohne es weiter zu diskutieren, ist die »leibliche und geistige Organisation« des Menschen, die z.B. so wirkt, dass sie den Weltzusammenhang unterdrückt, damit er in seinem Erkennen nach ihm suchen kann. Diese Organisation findet der freie Geist als die unhintergehbare Voraussetzung seiner Freiheit bereits individualisiert vor, eine Vorindividualisierung, die teils aus der Vererbung, teils – als individuelles Fähigkeitswesen – gar nicht weiter abgeleitet wird. Beide Vorindividualisierungen, die leibliche und die geistige, gehen aber aus dem Weltzusammenhang, d.h. aus dem Menschen selbst hervor, insofern er mit diesem Weltzusammenhang präexistentiell graduell identisch ist. Kurz gesagt, der postulierte Widerspruch ist eine Konstruktion.

Nun bietet auch Clement im zweiten Teil dieses Kapitels, der aus der Perspektive der Theosophie auf die Philosophie der Freiheit zurückblickt, Lösungen für die von ihm imaginierten Widersprüche an. Bevor er auf das Problem Karma und Freiheit eingeht, sucht er nach der viergliedrigen Hüllenanthropologie der Theosophie in Steiners philosophischem Werk und findet sie auch. Sie beschreibt das Verhältnis des Ich zu seiner leiblich-seelischen Organisation ebenso wie jene der Theosophie als ein solches der tätigen Umwandlung. Das Ich durchdringt die Wahrnehmungs- und Gefühlswelt mit Begriffen und universalisiert oder vergeistigt sie, während es die von den Vorfahren empfangene »Gattungsnatur« durch seine Tätigkeit »individualisiert«.[1] Daher könne man von »philosophischen Wesensgliedern« sprechen, wenn man dieses Gedankenspiel spielen wolle, aber der entscheidende Gesichtspunkt, der eine solche Analogisierung rechtfertige, sei, dass sowohl die Erlebnisbereiche der Philosophie der Freiheit, als auch sämtliche Wesensglieder der Theosophie »für Steiner allesamt Modi« sind, »in denen und durch die das ›Ich‹ (1) sich auf verschiedene Weisen seines eigenen Wesens, d.h. seiner selbstschaffenden Tätigkeit bewusst wird und (2) durch diese tätige Umwandlung sowohl die eigene Natur wie diejenige der Wirklichkeit auf eine höhere Stufe hebt«. Hier ist er wieder, der clementsche Modalismus, der sich wie ein Mantra durch die gesamte Einleitung hindurchzieht. Immerhin wird hier nicht davon gesprochen, das Ich bringe »die eigene Natur« und »die Wirklichkeit« hervor, die es auf eine höhere Stufe hebt. Was sollte es auch emporheben, wenn es lediglich von Modi seiner selbst umgeben ist, die es aus sich in seine Umgebung projiziert, wie ein Träumer, der in einer erträumten Welt lebt und sogar von sich selber träumt, er würde aufwachen.

Steiner, so Clement weiter, habe ausdrücklich »die theosophische Wesensgliederlehre als esoterische Verbildlichung philosophisch-anthropologischer Kategorien ausgewiesen«, was die von ihm vorgenommene Identifikation auch seitens des Autors rechtfertige. Im von ihm angeführten Zitat ist auffallenderweise nicht von Verbildlichung die Rede, sondern eher von Entsprechung, Korrespondenz, wenn nicht gar von Identität. [2]

Wie aber sieht es mit dem Problem Freiheit versus Karma aus? Zwar lehnte Steiner »allem Anschein nach« die »Reinkarnationslehre der Theosophie im engeren Sinn« 1893/94 noch ab, aber immerhin finden sich in der Philosophie der Freiheit einige gedankliche Bestimmungen, »auf deren Grundlage er später die Plausibilität« dieser Lehre argumentativ rechtfertigte. So versteht er 1894 die Erinnerung nicht etwa als das Abrufen gespeicherter Vorstellungen, sondern als Vorgang der Selbstwahrnehmung des Ich, das die zu früheren Zeitpunkten von ihm hergestellte Beziehung zwischen Begriffen und Wahrnehmungen erneut beobachte. Diese Theorie der Erinnerung sei für die »Begründung der Plausibilität des Karma-Theorems in der Theosophie« von zentraler Bedeutung (denn Steiner leitet dort Karma aus dem »Dauerndwerden« der Tatenfolgen her, die eine Anziehungskraft auf das wiedergeborene Ich ausüben; mit dieser Theorie hat sich Clement bereits im vierten Kapitel seiner Einleitung ausführlicher auseinandergesetzt). Außerdem spreche die Philosophie der Freiheit unter Verwendung einer »platonischen Denkfigur« von einer ewigen Natur des Ich, das an der überzeitlichen Natur des »Denkwesens« partizipiere, indem es sich durch die Begriffsbildung in dessen Sphäre erhebe. Darüber hinaus habe Steiner bereits in den neunziger Jahren die »Reinkarnationsidee der Theosophen« als »bildhaften esoterischen Ausdruck für die Vorstellung« angesehen, dass der Mensch den Allgeist zu erkennen und die ganze Stufenleiter der Evolution in sich wiederzufinden vermöge. Allerdings habe diese Partizipation an der Evolution für Steiner damals noch nicht die permanente Wiedergeburt ein und desselben Wesens eingeschlossen.[3]

Auch mehr oder weniger implizite Hinweise auf einen Schulungsweg der Erkenntnis und moralischen Entwicklung lassen sich in der Philosophie der Freiheit bzw. im philosophischen Werk Steiners generell finden. Dass Steiner die Philosophie der Freiheit als Schulungsbuch des reinen Denkens und der Katharsis bezeichnet hat, ist allgemein bekannt. Explizite Hinweise auf einen Schulungsweg, der zu geistiger Erkenntnis führt, lassen sich in der Erstausgabe allerdings nach Clement nicht finden, die Motive der höheren Erkenntnis und der systematischen Ausbildung von Erkenntnisfähigkeiten hingegen schon. Bereits in den Goetheschriften ist von einer »neuen Art des Denkens« die Rede, und davon, dass der menschliche Geist sich so »auszubilden« habe, dass alle ihm gegebene Wirklichkeit als »von der Idee ausgehend« erscheine. Zudem steige das menschliche Erkennen in den Grundlinien … stufenweise von der Erkenntnis des Anorganischen über jene des Organischen zur Selbsterkenntnis auf. (Und zu einer Erkenntnis überindividueller Geistformen muss man hinzufügen). Deutlich lassen sich laut Clement auch Erkenntnisstufen unterscheiden: 1. Erkenntnis der anorganischen Natur durch sachliche Distanz zum Objekt, 2. Erkenntnis des Organischen durch Verlebendigung des Denkens und inneres Nachschaffen des Objektes (anschauendes Denken, später Imagination) und 3. Einswerdung mit dem Objekt durch liebende Hingabe an die Erscheinungsformen des in der Geschichte des Menschen sich offenbarenden Geistes (Intuition). (Wie gesagt spricht Steiner in den Grundlinien … auch ausdrücklich vom »Volksgeist« als einem übersubjektiven Erkenntnisgegenstand der Geisteswissenschaften, nicht jedoch von einem Geist in der Geschichte.) Wahrheit und Wissenschaft untersucht die »innere Struktur des Erkenntnisaktes«, konzentriert sich also auf die dritte Stufe »des wissenschaftlichen ›Erkenntnispfades‹«, die Selbstbetrachtung des Geistes. An die Stelle des Miterlebens und Nachschaffens der organischen Natur trete hier das »Fichtesche Selbsterleben« durch Beobachtung der Denktätigkeit. Schließlich kenne auch die Philosophie der Freiheit einen »Stufenpfad« vom naiven Realismus über den transzendentalen und metaphysischen zum objektiven Idealismus und einen zweiten, moralischen, vom reflexhaften Handeln über das Imitieren von Vorbildern und Befolgen moralischer Regeln hin zur freien Tat aus Intuition. An dieser Stelle gehören die klassischen Sätze aus dem neunten Kapitel zitiert: »Es ist in dem Wahrnehmungsobjekt Mensch die Möglichkeit gegeben, sich umzubilden, wie im Pflanzenkeim die Möglichkeit liegt, zur ganzen Pflanze zu werden. Die Pflanze wird sich umbilden wegen der objektiven, in ihr liegenden Gesetzmäßigkeit; der Mensch bleibt in seinem unvollendeten Zustande, wenn er nicht den Umbildungsstoff in sich selbst aufgreift, und sich durch eigene Kraft umbildet. Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Naturwesen; die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes; ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen«. Der Schulungsweg der 1880er Jahre war laut Clement »auf den Naturwissenschaftler zugeschnitten«, der fichtesche der 90er auf den Philosophen, ebenso wie der schellingsche der Christentumsschrift. Der »theosophische« hingegen, der »auf schlichten Visualisierungs- und Konzentrationsübungen« beruhe, wende sich an alle Menschen. Der Theosoph Steiner, der 1902 »die theosophische Schulungsidee« aufnahm und »nach seinen Vorstellungen umgestaltete«, knüpfte an eine »von Anfang an« »nachweisbare Inklination für erkenntnisschulische Modelle« an. Clement scheint den theosophischen Schulungsweg, der sich an alle Menschen wendet, nicht sonderlich zu schätzen, wenn er ihn als »schlicht« bezeichnet. Meiner Auffassung nach setzt »Wie erlangt man Erkenntnisse …« die Untersuchungen der seelischen Organisation des zweiten Teils der Philosophie der Freiheit unmittelbar fort und gestaltet das oben zitierte Motiv konkret aus, das vom Aufgreifen des »Umbildungsstoffes« im Menschen spricht.

Da diese Rezension ohnehin schon zu lang geworden ist, sei zum Schluss lediglich darauf hingewiesen, dass der Herausgeber weitere 15 lesenswerte Seiten dem Fragment Anthroposophie widmet. In diesem Fragment »strebte« Steiner danach, seine »anthropologischen und ontologischen Bestimmungen systematisch« »aus der konkreten Evidenz des menschlichen Sinnesorganismus« abzuleiten. Mit dem hier vorgetragenen Befund: »Je tiefer Steiner … in das Innere des« in diesem Buch »entwickelten Gedankenkosmos eindringt, ab dem VI, spätestens VII. Kapitel, und jede begriffliche Gestalt innerhalb derselben als Umwandlung oder Umstülpung einer anderen erscheint, desto mehr verliert sich die Klarheit und Nachvollziehbarkeit der ersten Kapitel. Dessen ist er sich offenbar selbst bewusst gewesen« – stimme ich vorbehaltlos überein. Als Vorstufe des Fragments wird der »Anthroposophie«-Zyklus von 1909 behandelt. Hier entwickelte Steiner ein neuartiges »Strömungsmodell« zur Erklärung der Formen der Sinnesorgane und des menschlichen Leibes überhaupt, das in der Theosophie und der gesamten esoterischen Ideengeschichte »kein Vorbild hat« – also eine »gedankliche Eigenleistung« Steiners. Die Erklärung der Organentstehung aus dem Ineinanderfließen und der Stauung antagonistischer Kräfteströmungen führt zu einer Darstellung des menschlichen Organismus »als reine Prozesshaftigkeit«, die »die Statik der theosophischen Hüllenmodelle« weit hinter sich lässt. »In dieser Konzeption gibt es eigentlich keine ›Organe‹ und ›Wesensglieder‹ mehr, sondern nur noch gestaltende Kräfte«, meint Clement. Zutreffender wäre die Feststellung, dass es beides gibt. Denn es hätte keinen Sinn von »gestaltenden Kräften« zu spreche, wenn diese nichts gestalten, wenn ihr Gestalten und Umgestalten nicht zu mehr oder weniger bleibenden Gestalten führte, die sie hervorbringen.

Ein letztes Wort noch zu der merkwürdig »ausgewogenen« Würdigung des »imaginativen Denkens«, das sich im Unterkapitel über das Fragment Anthroposophie findet. Dieses Denken ist »das Mittel der Darstellung« des Fragments. Es steht laut Clement, der hier eine Denkfigur Corbins und Faivres benutzt und nicht die Erkenntnissystematik Steiners wiedergibt, »in der Mitte zwischen ›sinnlicher‹ und ›übersinnlicher‹ Erkenntnis. Nach Steiners Auffassung ist diese Mitte nämlich bereits vom »sinnlichkeitsfreien« oder »reinen Denken« besetzt.[4] Clement schreibt, das imaginative Denken strebe danach, »immer im Bildlichen und Uneigentlichen zu verbleiben, ohne dadurch ins Willkürliche, rein Subjektive zu geraten«. Es versuche aber auch »immer in der Mitte zu schweben«, »zwischen den Einseitigkeiten des Realismus und Idealismus, also zwischen der Deutung der Phänomene entweder als ›Dinge innerhalb einer Außenwelt‹ oder als ›Inhalte eines Bewusstseins‹«. Wenn ich es recht verstehe, nimmt Clement für seine schwebenden, schwankenden Deutungen von Steiners Geisteswissenschaft, die sich weder für die realistische noch die idealistische Option zu entscheiden vermögen, obgleich sie die letztere zu präferieren scheinen, eben diese Qualität des »imaginativen Denkens« in Anspruch.

Dritter Teil der Rezension

Anmerkungen:

[1] Die Wechselbeziehung von Universalisierung und Individualisierung wurde von Herbert Witzenmann in mehreren Schriften epistemologisch und ontologisch ausgeleuchtet, die Clement allerdings nicht erwähnt.

[2] Aus einem öffentlichen Vortrag in Berlin im Jahr 1905. Das Zitat lautet: »Nun habe ich versucht, die allmähliche Hinauferziehung des Menschen, die Reinigung des Menschen aus dem Seelischen in das Geistige, in einem Buche darzustellen, das ich vor einigen Jahren geschrieben habe als meine Philosophie der Freiheit. Was ich jetzt dargestellt habe, finden Sie dort in den Begriffen der abendländischen Philosophie ausgedrückt. Sie finden dort die Entwickelung des Seelischen vom Kama zum Manasleben. Ich habe dort Ahamkara das ›Ich‹ genannt, Manas das ›höhere Denken‹, reines Denken, und die Buddhi, um noch nicht auf den Ursprung hinzuweisen, die ›moralische Phantasie‹. Das sind nur andere Ausdrücke für ein und dieselbe Sache.« GA 53, 9.02.1905. Die Sätze besagen eigentlich das Gegenteil dessen, wofür sie laut Clement stehen sollen: die philosophische Begrifflichkeit erscheint als abstrakte Verbildlichung oder besser Abbreviatur für etwas, das seinem Ursprung und seinem Wesen nach nur durch die theosophische Terminologie adäquat bezeichnet werden kann. Jedenfalls wird letztere nicht als »Verbildlichung« der ersteren bezeichnet.

[3] Hintergrund dieser Argumentation ist eine mehrdeutige Passage in einer 1892 verfassten Rezension über das anonym erschienene Buch Das Dasein als Lust, Leid und Liebe. Die altindische Weltanschauung in neuzeitlicher Darstellung. Ein Beitrag zum Darwinismus, in der Steiner tatsächlich einmal von (mythischen) Verbildlichungen von esoterischen Begriffen spricht und letzteren den Vorzug vor ersteren gibt. Diese vom deutschen Idealismus, insbesondere Hegel und Schelling abhängige Verhältnisbestimmung hat sich aber nach 1900 ins Gegenteil verkehrt, denn nunmehr stellte das Bild gegenüber dem Begriff eine höhere Stufe des Bewusstseins dar. Darin heißt es: »Wer im Individuum den Allgeist, im Einzelwesen die Summe von Existenzen, die dasselbe zu durchlaufen hat, erkennen will, der muss vor allen andern Dingen begreifen, dass dies nur durch Vertiefung in sein Inneres geschehen kann, nicht durch eine äußerliche Betrachtungsweise. Wer seine eigene Individualität als Menschenwesen versteht, der findet alle niederen Daseinsformen in sich; er sieht sich als oberstes Glied einer weiten Stufenleiter; er weiß, wie alles andere lebt, wenn er es nachzuleben, wiederzuleben versteht. Ein höheres Leben vermag jedes niedere in sich aufzunehmen und in seiner Art wieder zu vergegenwärtigen. Darauf beruht die Möglichkeit des Verstehens der Welt durch den Menschen.

Diesen Gedanken als eine in der Zeitenfolge vor sich gehende Verkörperung des Individuums in verschiedenen, immer vollkommeneren Formen vorzustellen ist bloß bildliche Darstellung. So meint es die Esoterik. Wer die Bilder für die Sache nimmt, weiß nichts von Esoterik. Es ist geradezu eine Eigentümlichkeit des morgenländischen Geisteslebens, dass es Bilder schafft, die mit bis ins einzelne gehender Genauigkeit und Anschaulichkeit große Menschheitsgedanken ausdrücken. Man sollte für die weiteste Verbreitung dieser Bildermassen sorgen, aber man soll sie nicht durch Aufpfropfung abendländischen Realismus entstellen«. Letzteres wirft Steiner dem Verfasser vor. Erschienen in: Literarischer Merkur, XII. Jg., Nr. 38, 1892, siehe GA 30, S. 511.

[4] Über die Stellung des sinnlichkeitsfreien Denkens zwischen sinnlicher und geistiger Erkenntnis, deren erste Stufe die Imagination darstellt, heißt es in der Geheimwissenschaft: »Es ist der Weg, welcher durch die Mitteilungen der Geisteswissenschaft in das sinnlichkeitsfreie Denken führt, ein durchaus sicherer. Es gibt aber noch einen andern, welcher sicherer und vor allem genauer, dafür aber auch für viele Menschen schwieriger ist. Er ist in meinen Büchern »Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung« und »Philosophie der Freiheit« dargestellt. Diese Schriften geben wieder, was der menschliche Gedanke sich erarbeiten kann, wenn das Denken sich nicht den Eindrücken der physisch-sinnlichen Außenwelt hingibt, sondern nur sich selbst. Es arbeitet dann das reine Denken, nicht das bloß in Erinnerungen an Sinnliches sich ergehende in dem Menschen, wie eine in sich lebendige Wesenheit. Dabei ist in den genannten Schriften nichts aufgenommen aus den Mitteilungen der Geisteswissenschaft selbst. Und doch ist gezeigt, dass das reine, nur in sich arbeitende Denken Aufschlüsse gewinnen kann über die Welt, das Leben und den Menschen. Es stehen diese Schriften auf einer sehr wichtigen Zwischenstufe zwischen dem Erkennen der Sinnenwelt und dem der geistigen Welt. Sie bieten dasjenige, was das Denken gewinnen kann, wenn es sich erhebt über die sinnliche Beobachtung, aber noch den Eingang vermeidet in die Geistesforschung. Wer diese Schriften auf seine ganze Seele wirken lässt, der steht schon in der geistigen Welt; nur dass sich diese ihm als Gedankenwelt gibt. Wer sich in der Lage fühlt, solch eine Zwischenstufe auf sich wirken zu lassen, der geht einen sicheren Weg; und er kann sich dadurch ein Gefühl gegenüber der höheren Welt erringen, das für alle Folgezeit ihm die schönsten Früchte tragen wird«.

Ein Kommentar

  1. Über Kants apriorische Formen (siehe Clement S. XXVIII) oder transzendentale Modi (S. XXXI) äußerte Steiner sich direkt in WW: “Das Denken sagt nichts a priori über das Gegebene aus, aber es stellt jene Formen her, durch deren Zugrundelegung a posteriori die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen zum Vorschein kommt.“ (WW 67 f.). Clement selbst verwendet den Ausdruck ‘objektive Entwicklungsform (S. XXIX). Der clementsche Modalismus und die genannten projektiven Ausstülpungen können offensichtlich keine bloße Subjektivierungen sein.

    Die ‘eigentliche Anthroposophie‘ (GA 322), die von Clement gesuchte ‘definitive schriftliche Darstellung anthroposophischen Denkens‘ (S. XXXV) als Fortsetzung der Schrift ‘Anthroposophie‘ (1910), findet sich wohl in ‘Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen‘ (GA 27) als eine aristotelische ‘Erweiterung der Welt- und Menschenerkenntnis‘ (Viergliederung, Ich-Organisation usw.). Vgl. die Andeutung der imaginativen ‘Organologie‘ in Das Initiatenbewußstsein (GA 243) und in Grenzen der Naturerkenntnis (GA 322).

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