Schlachtfeld der Kränkungen – über die Erosion der Vernunft durch political correctness

Zuletzt aktualisiert am 19. April 2020.

In seiner Kritik der politischen Korrektheit geht Stegemann von der Beobachtung ihrer Ambivalenz aus. Zugrunde liegt ihr seiner Auffassung nach ein Gefühl des Gekränktseins. Zwar führt die Rücksichtnahme auf das Gekränktsein des Anderen zu größerer Achtsamkeit und damit potentiell zu einer Zivilisierung der Gesellschaft. Gleichzeitig bringt sie aber auch »ihre eigenen Roheiten« hervor und bewirkt immer öfter das Gegenteil dessen, was sie intendiert. Die einen sehen in ihr ein »sprachzivilisatorisches Projekt«, die anderen möchten sie »auf den Müllhaufen der Geschichte« werfen. Eine dritte Partei schließlich leugnet ihre Existenz, da es sich lediglich um einen »Kampfbegriff der Rechten«, also ein Phantom, handle.

Aus diesen Positionen ergibt sich ein typisch postmoderner, »paradoxer Frontverlauf«. Die Gegner der politischen Korrektheit bekämpfen Sprachregelungen, die die freie Meinungsäußerung einschränken, ihre Befürworter sehen in ihr ein Mittel, um die Verbreitung »falscher Meinungen« zu unterbinden, während ein Teil ihrer Befürworter den Gebrauch des Ausdrucks selbst ablehnt, da er das Projekt des »sensiblen Sprechens« diffamiere.

Zu Recht weist Stegemann darauf hin, dass in dieser dritten Position ein Selbstwiderspruch liegt: Wer den Begriff der politischen Korrektheit ablehnt, weil er ihn als beleidigend empfindet und gleichzeitig behauptet, es gebe keinerlei Sprachregelungen aufgrund von Empfindlichkeit, widerlegt offensichtlich sich selbst. Man versucht mit Hilfe einer Sprachregelung die Existenz solcher Sprachregelungen zu negieren. Aber in diesem Paradox verbirgt sich eine »Machttechnik«. Wie funktioniert sie?

Der typische Verlauf einer Auseinandersetzung über politische Korrektheit beginnt mit der Beschwerde über die Verengung des Meinungskorridors, die mit der Androhung der sozialen Ächtung gegen jeden verbunden sei, der diesen Korridor verlasse. Dem wird entgegnet, die Kritik sei unberechtigt, da man ja seine Meinung habe äußern können. Gleichzeitig erfolgt die Mahnung an die Kritiker, sich an die Regeln des Sagbaren zu halten. Jeder darf sagen was er will, er muss sich aber an die Regeln halten. Verstößt er gegen sie, muss er die entsprechenden Konsequenzen tragen. Die Meinungsfreiheit wird also formal bekräftigt, gleichzeitig werden alle Äußerungen einer moralischen Beurteilung unterworfen.

Nach dem 2003 verstorbenen amerikanischen Politologen Joseph P. Overton wird dieser Korridor akzeptabler Meinungen als »Overton-Fenster« bezeichnet. Das Overton-Fenster ist ein wunderbarer Bildbegriff mit einer Fülle möglicher Anwendungen (Querverbindungen zur Frameanalyse Erving Goffmans, auf die Stegemann ebenfalls eingeht, und zur Debatte über Diskurshegemonie liegen auf der Hand). Wie jedes Fenster hängt es nicht in der Luft, sondern ist in eine größere Struktur, ein Gebäude, eingelassen. Es eröffnet sowohl Ausblicke als auch Einblicke. Wer sich im Haus befindet, sieht durch es hindurch auf eine Landschaft, auf eine gegenüberliegende Hauswand, in eine Nachbarwohnung. Wem draußen steht, dem gewährt es gewisse Einblicke ins Innere des Hauses, sofern es nicht verhängt ist. Seine Lage (Südfenster, Nordfenster, Erdgeschoss, obere Geschosse) und Größe (Kippfenster, Doppelfenster) beeinflusst den Umfang des Ausblicks und Einblicks und die Wahrnehmungen, die durch es möglich sind. Gleichzeitig sind diese Aus- und Einblicke relativ statisch, solange nicht das Haus umgebaut wird. Seine Lage und Form wird durch den Architekten des Hauses bestimmt, der dem Schöpfer der »Grundordnung« oder »Werteordnung« einer Gesellschaft entspricht. Die Frage, die das Bild provoziert, ist natürlich: Wer ist der »Architekt« dieser Grundordnung und von welchen Bauideen ließ er sich leiten? Nicht nur eine Gesellschaft im Ganzen besitzt ihr Overton-Fenster, sondern auch jede kleinere Community innerhalb derselben verfügt über ihre eigenen Fenster. Rechte, Linke, die Mitte, religiöse Gemeinschaften, wissenschaftliche Denkkollektive (Ludwig Fleck) definieren jeweils das Sagbare durch ihre gruppenbezogenen Overtonfenster, die vom verbindlichen Verständnis ihrer jeweiligen Identität abhängig sind. Wendet man den Begriff auf den deutschsprachigen Diskursraum insgesamt an, liegt in der Mitte des Fensters der Mainstream der öffentlichen Meinung, an dessen Rand die gerade noch akzeptablen Meinungen, jenseits davon das Verfemte und Unsagbare. Das Overton-Fenster bildet also das Meinungsspektrum einer Mehrheit ab und bestimmt die Grenzen der Meinungsfreiheit.

Wie operiert nun die politische Korrektheit laut Stegemann mit diesem Fenster? Sie versucht, es auf das Gefühl der Kränkung auszurichten, um diese wahrnehmbar zu machen und die Sensibilität für sie zu stärken, gleichzeitig will sie die moralischen Standards festigen, die in Bezug auf identitätspolitische Themen jeweils erreicht worden sind. Da sie aber den Blick auf die Art des Sprechens und die durch sie möglichen Verletzungen verengt, lenkt sie von den realen Lebensverhältnissen in der Gesellschaft ab, die laut Stegemann immer weiter auseinanderdriften (Schere zwischen Arm und Reich). Im Bild gesprochen: Statt wahrzunehmen, wie die Nachbarn gekleidet sind und was sie essen, interessiert sie sich nur noch dafür, wie die Nachbarn beschrieben werden und wie über sie geredet wird. Sie reguliert also das Sprechen über die Wirklichkeit und unternimmt nicht den Versuch, diese Wirklichkeit so wahrzunehmen wie sie ist, sie zu ändern oder zu gestalten. Die Fixierung auf den erreichten Sprachstandard bevorzugt laut Stegemann jene, »die durch Bildung Zugang« zu ihm haben, und »bestraft diejenigen, die von der sozialen Ungleichheit am meisten betroffen sind und darum vom Bildungssystem am stärksten diskriminiert werden.« Folge: »Wer seinen sozialen Unmut nicht in der Sprache der Political Correctness ausdrücken kann, wird nicht selten aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen.« Diese Ausschließung der unkorrekt Sprechenden, die von den Vertretern der politisch korrekten Sprechweise als Sieg verbucht wird, verstärkt aber die soziale Spaltung. Denn die Erfolge »auf der symbolischen Ebene« tendieren »immer mehr dazu, die Misserfolge im Sozialen auszublenden, da diese von den prekären Klassen nicht zureichend innerhalb des Overton-Fensters formuliert werden können.« Die moralische Überwachung des öffentlichen Sprechens erweist sich somit als Verteidigung »des ungerechten Status quo. Ein sensibles Sprachverständnis, das die Emanzipation befördern wollte, wird dadurch zu einer Machttechnik, die als moralischer Maßstab Protest unterbindet.«

Die kontraproduktive Funktion der politischen Korrektheit erklärt Stegemann durch einen historischen Exkurs über Sprachregelungen. Die Erkenntnis, dass Sprechen Handeln ist und die Wirklichkeit interpretiert, ist nicht neu. Ebensowenig die Einsicht, dass die soziale Realität durch sie geformt wird. Bereits Plato verbannte die Dichter aus seinem Soldatenstaat, die Kirche zensierte das Sprechen über Sexualität, und Orwell, der in seiner Dystopie 1984 die totalitären Regime seiner Zeit, insbesondere das stalinistische, analysierte, wies der Manipulation der Sprache (»Neusprech«), durch die Denken (»Doppeldenk«) und Verhalten der Bevölkerung geformt werden, eine zentrale Rolle zu. Die Rechtfertigung für die Disziplinierung der Sprache war stets dieselbe: was gesagt werden kann, kann auch gedacht und getan werden. Worüber gesprochen wird, das könnte sich als ansteckend erweisen und die bestehende Ordnung umstürzen.

Polititische Korrektheit ist insofern nur eine zeitgenössische Form der Organisation von Gesellschaft durch Sprache (den »Diskurs«, um ein Modewort zu verwenden). Neu ist allerdings, dass der Grund für die Regulierung in einem Gefühl liegt, das sich außerhalb jeder Kommunikation stellt. »Wenn jemand von sich sagt, er fühle sich von einer Aussage gekränkt oder verletzt, dann ist der Raum für kommunikative Reaktionen auf einen Nullpunkt geschrumpft«, führt Stegemann aus. »Die Erwartung ist nun darauf fixiert, dass derjenige, der für diese Kränkung verantwortlich gemacht wird, sich entschuldigt. Alle anderen Aussagen werden abgelehnt. Vor allem die Versuche, etwas zu erklären, werden als weitere Kränkungen erlebt, da sie auf das ursprüngliche Gefühl von Verletztheit nicht mit Empathie reagieren, sondern mit kühler Rationalität. Der Gekränkte macht die soziale Situation zur Intimkommunikation, wo alle wechselseitig für die Gefühle der anderen verantwortlich sind.«

Dadurch verändert sich auch der Charakter des Sprachregiments. Da die politische Korrektheit das öffentliche Sprechen in »Intimkommunikation« umwandeln will, muss sie alle Worte und Wendungen aus dem öffentlichen Sprechen verbannen, die möglicherweise jemanden verletzen könnten. Da aber die Empfindlichkeiten je nach Gruppe und historischer Situation höchst unterschiedlich sind, bildet den Maßstab stets die empfindlichste aller Gruppen. Besteht die Möglichkeit, dass auch nur ein einziger gekränkt werden könnte, muss das betreffende Wort aus dem öffentlichen Diskurs verbannt werden.

Die Verschiebung der Aufmerksamkeit auf das Gefühl der Kränkung oder Diskriminierung hat zur Folge, dass Gesellschaftskritik aus einem Geschäft, das sich mit objektiven Missständen befasst, zu einem solchen wird, das sich um subjektive Befindlichkeiten dreht. Als Marxist illustriert Stegemann den Unterschied am Beispiel des Begriffs der Entfremdung. Dieser hatte in der marxistischen Theorie eine objektive Bedeutung: er bezeichnete die vierfache Entfremdung des Arbeiters von seinem Produkt, von seiner Arbeit (durch Arbeitsteilung), von sich selbst (da er als Mensch auf seine Arbeitskraft reduziert wurde) und von anderen Menschen (aufgrund des Konkurrenzkampfes). Der Begriff zielte also auf die Beschreibung objektiver Machtverhältnisse und die Kritik von Unfreiheit.

Zur Diskussion über Entfremdung fügten Horkheimer und Adorno, so Stegemann weiter, in ihrer Dialektik der Aufklärung eine subjektive Komponente hinzu. Die Entfremdung sei inzwischen internalisiert worden und »ins Denken eingesunken«. Das Subjekt werde nicht mehr nur durch äußere Zwänge von sich selbst entfremdet, sondern durch seinem Bewusstsein aufgrund langer Gewöhnung (oder Indoktrination) eingeprägte subjektive Zwänge. Aufgrund des »falschen Bewusstseins« sei es ihm nicht mehr möglich, die objektive Entfremdung und ihre Ursachen zu erkennen. Es befinde sich in einem geschlossenen »Verblendungszusammenhang«, der durch die Kulturindustrie perpetuiert werde. Unterhaltungs- und Informationsmedien (die »Qualitätspresse«) reproduzierten ebenso die Täuschung über die wahren gesellschaftlichen Machtverhältnisse, wie rührselige Sprachfloskeln und hohle moralische Beschwörungen. Die Gesellschaft sei im falschen Bewusstsein, in falschen Gefühlen und erlogenen Wahrheiten (»Fakenews«) befangen. Statt auf den Grund der Selbstentfremdung vorzustoßen, werde sie durch die Medien der Information und Analyse, die zu Desinformationsmedien geworden seien, immer weiter verstärkt. Der Abstand zwischen der Realität und ihrer Interpretation werde immer größer, bis endlich kein Zusammenhang zwischen beiden mehr bestehe. Der Zustand der Verblendung sei zu einem Dauerzustand geworden und das subjektive Gefühl der Erregung oder Empörung der einzige Kontakt zu etwas Realem, der noch übrigbleibe.

Damit ist schon fast der heutige, durch die politische Korrektheit erreichte Zustand beschrieben. Was noch fehlt, ist die Verschärfung durch Stegemanns Intimfeind, die »Postmoderne«. Denn diese erklärt laut Stegemann die (mediale) Simulation zur eigentlichen Wirklichkeit, die sie im übrigen als subjektives Konstrukt deklariert, und webt damit einen weiteren Schleier vor den Zusammenhang der Täuschung. Sie erweist sich durch ihre Verabsolutierung des Subjekts als williger Büttel des entfesselten globalen Kapitalismus, denn sie stößt die Subjekte in ihre Einzelexistenz zurück und raubt ihnen die Möglichkeit, sich als Teil einer (solidarischen) Gemeinschaft zu begreifen, gegen die sich das Verwertungsinteresse des Kapitals richtet. An die Stelle der »einigenden Kritik« aufgrund geteilter Erfahrungen, tritt der soziale Protest aufgrund von Einzelinteressen. Diese subjektiven Einzelinteressen werden im Begriff der Kränkung zusammengefasst. Wer Kränkung kritisiert, fühlt sich nicht mehr von seiner Arbeit oder seinen Mitmenschen entfremdet, sondern spricht über sein höchst persönliches Unbehagen. Er vermag aber die objektiven Faktoren, die zu diesem Unbehagen führen, nicht mehr zu durchschauen, weil ihm die Begriffe für sie fehlen. Die Erhebung des Gefühls der Diskriminierung zum neuen Maßstab politischer Moral, ist Ausdruck eines Umbaus der Gesellschaft. Nicht mehr in Solidarität verbundene Menschen treten der Übermacht des Kapitals gegenüber, sondern isolierte Einzelne müssen sich »auf den Marktplätzen der Arbeit, der Waren und der sozialen Interessen verkaufen«.

Das Gefühl der Kränkung erweist sich als ideales Werkzeug der Zersplitterung, da es ein rein subjektives Verhältnis des Menschen zur Welt ausdrückt. Im Unterschied zum Begriff der »Entfremdung«, der objektive Zustände zu beschreiben versucht, unabhängig davon, ob sie empfunden werden oder nicht, rekurriert es ausdrücklich auf die subjektive Befindlichkeit und nichts anderes. Der Gekränkte ist auf sich selbst zurückgeworfen und hält sich für den einzigen, der unter seinem Zustand leidet. Gekränktsein entsolidarisiert. Was den einen kränkt, ist dem anderen gleichgültig, er empfindet es möglicherweise sogar als Lob. Da es keine objektive Kränkung gibt, kann sie nur aus der subjektiven Perspektive artikuliert werden. Ob sie tatsächlich existiert, kann von außen nicht beurteilt werden, man muss dem seine Gekränktheit beteuernden Subjekt schlicht glauben. Im Gegensatz dazu, macht der Begriff der Entfremdung objektive Machtstrukturen sichtbar, die in Arbeitsverhältnissen verfestigt sind. Ausbeutung ist kein subjektives Gefühl, sondern eine objektive Tatsache, auch wenn sich an deren Wahrnehmung ebenfalls ein Gefühl des Gekränktseins anschließen kann.

Nun ist dem subjektivierten Protest jedoch ein Widerspruch immanent. Das Subjekt wird in sich selbst zurückgeworfen, muss jedoch gleichzeitig an die Gesellschaft appellieren, um gehört zu werden. Denn die individuellen Probleme verlangen nach Anerkennung durch andere, sonst würde das Jammern ungehört verhallen. Daher mussten Regeln geschaffen werden, die deren Verallgemeinerung ermöglichen. Eine solche Regel ist die Verpflichtung, dem Gekränkten sein Gefühl zu glauben. »Wer einer Kränkung keinen Glauben schenkt oder ihren Ausdruck als übertriebene Empfindlichkeit ablehnt, muss mit negativen Sanktionen rechnen. So wird Gemeinsamkeit nicht mehr aufgrund einer Bewusstmachung der ungleichen Machtverhältnisse hergestellt, sondern ist die Folge eines moralischen Gebots.«

Auf der einen Seite wird also ein moralischer Druck aufgebaut, dem Gekränkten seine Gefühle kritiklos abzunehmen, auf der anderen Seite arbeitet die politische Korrektheit darauf hin, jedwede mögliche Kränkung durch Sprache abzuschaffen. In Selbsthilfe- oder Therapiegruppen sowie in Sekten mag diese Reinigung der Sprache und des Gefühls funktionieren, der unüberschaubare Großkörper der öffentlichen Kommunikation kann aber unmöglich nach den Regeln einer Intimkommunikation organisiert werden. Wird dies trotzdem versucht, ergeben sich die bekannten Phänomene »aggressiver Vehemenz« wie »Hatespeech« und »Shitstorm«, mit welchen »jedes Vergehen gegen die politische Korrektheit bestraft wird.« »Man fordert größte Rücksicht für die eigene Verletzlichkeit und kennt kein Erbarmen mit denjenigen, durch die man sich verletzt fühlt. Man ist sprachsensibel und sprachaggressiv zugleich.« Die Verfeinerung der Sensoren für Unkorrektes führt zu Hypersensibilität. Die politisch korrekte Kommunikation verlangt den Beteiligten eine erhöhte Wachsamkeit ab, sie bewegen sich durch ein Minenfeld, die geringste Abweichung vom vorgeschriebenen Sprachcode kann einen Sturm der Entrüstung auslösen und zur Vernichtung persönlicher Existenzen führen. »Was den Vertretern der PC als Erfolg erscheinen mag«, erinnert Stegemann jedoch »eher an eine Unterrichtssituation bei einem cholerischen Lehrer.«

Ja, mehr noch: die Wächterschwärme, die den öffentlichen Raum nach Verletzungen des korrekten Sprachcodes durchforsten, lauern geradezu auf Anlässe für Empörungen: »Kaum wird auf ein falsches Wort oder einen missverständlichen Satz hingewiesen, überbieten sich sogleich die Reaktionen und reichen vom schrillen Aufschrei bis hin zu Vernichtungsfantasien, um die Urheber der falschen Worte zum Schweigen zu bringen.«

Als »idealer Echoraum individueller Kränkungsgefühle« erweisen sich die asozialen »sozialen Netzwerke«. Schwierig erweist sich hier die Abgrenzung zwischen erlaubtem Aufschrei und verbotenem Hatespeech. Beide bedienen sich derselben Methode, ihre Unterscheidung erweist sich als unlösbare Aufgabe, die »unendlichen Anlass für weitere Kränkungen bietet.« Da beide Formen der Empörung dieselben »Sprachregister und Emotionalisierungen« verwenden, sind sie inhaltlich kaum mehr auseinanderzuhalten. Einzig die unterstellte Absicht macht den Unterschied. Die Empörung über Zurücksetzung gilt als moralisch, die Hassrede als verwerflich. Von beiden wird jedoch die eigene Anhängerschaft adressiert, von der Applaus erwartet wird. Gegner dienen nur noch als Anlass für Empörungswellen, eine auf Verständigung zielende Kommunikation ist nicht mehr beabsichtigt. Diese einander jagenden Empörungswellen erinnern, nebenbei gesagt, fatal an die Orwellschen täglichen Hassminuten und Hasswochen, durch die die Bevölkerung Ozeaniens auf den gerade politisch opportunen Gegner eingestimmt wird.

Der folgende Absatz ist so glänzend wie bestechend formuliert, dass er nur in extenso zitiert werden kann:

»Der Beschwerdesound unserer Zeit ist der Aufschrei. Er ist Teil des Komplexes von Political Correctness und Identitätspolitik, in dem er den Part der subjektiven Expression übernimmt. Der Diskurs der Identitätspolitik stellt die Unterscheidungen zur Verfügung, mit denen das Paradox der Identität organisiert wird, die Political Correctness liefert die moralisierende Kommunikation, und die Aufgabe von Kränkung und Aufschrei ist es, die öffentlichkeitswirksamen Gesten hervorzubringen. Die Aussage, ›ich fühle mich verletzt‹, erfüllt in diesem Zusammenhang die Funktion eines performativen Sprechaktes. Er wird zu einem Befehl für alle anderen, die sich nun im Raum der Intimkommunikation wiederfinden. Durch den Umbau der öffentlichen Kommunikation in eine Intimkommunikation werden nicht mehr die tatsächlich größten Probleme verhandelt, sondern vorrangig die Probleme, die den meisten Beteiligen am nächsten sind. Das Muster, das hinter dieser Logik zu stecken scheint, besteht darin, dass der Blick auf die Welt durch das subjektive Schlüsselloch der eigenen Verletzbarkeit zu einer schnellen Bereitschaft führt, sich mit den Verletzungen anderer zu beschäftigen. Dass diese anderen aber umso mehr Mitgefühl bekommen, je ähnlicher ihre Verletzungen den eigenen sind, wird ausgeblendet. Die Empathie funktioniert innerhalb des eigenen Milieus oder der eigenen Identitätskonstruktion am besten.«

Infolge der Identifikation unter Gleichen, zu welcher die »Kränkungskommunikation« führt, kreisen die Debatten um immer exotischere Unterscheidungen. Dabei werden nicht nur die einzelnen Individuen atomisiert, sondern die gesamten Strukturen der öffentlichen Kommunikation, deren Maßstäbe »ins Chaos gestürzt« werden, da Aufmerksamkeit nur noch erlangt, was die meisten emotionalen Reaktionen hervorruft. (Dies ist, nebenbei gesagt, auch eine Erklärung für Relotius). »Die negative Dialektik des Beschwerdesounds liegt darin, dass jeder Versuch, ein Muster in den Einzelfällen beschreiben zu wollen, zur Einzelmeinung reduziert wird, die dann für ihren Versuch der Rationalisierung als zu wenig empathisch abgelehnt werden kann. Damit schließt sich der Kreis zu einer Aufregungsspirale, die sich so lange hochschraubt, bis sie an ihrer eigenen Partikularisierung zerbricht.«

Je mehr Macht die moralische Kommunikation über den öffentlichen Raum ausübt, um so mehr wird dieser Raum zu einer »Mischung aus Pranger, Strafgericht und Tugendwächtern«. Ankläger, Richter und Exekutoren verschmelzen in ein und derselben Person oder Gruppe, die Möglichkeit der Widerrede wird aufgehoben, eine Unschuldsvermutung gibt es nicht mehr. Das »einschüchternde Auftreten der Moralisten« wird zur »realen Gewalt«, die alle anderen Diskurse beeinflusst. So ist etwa laut Stegemann die immer häufiger zu hörende Warnung, eine Aussage könne »dem Gegner nützen« oder »Beifall von der falschen Seite bekommen« Ausdruck dieser Macht. Nebenbei wird durch diese Warnung die Geltung von Fakten und wissenschaftlicher Erkenntnis außer Kraft gesetzt. Denn maßgeblich für die Validität eines Arguments ist nicht mehr, ob es sich auf Fakten stützt, sondern ob es der moralisch richtigen Meinung entspricht. Moralische Hierarchisierung des politischen Diskurses widerspricht aber den Grundregeln einer aufgeklärten liberalen Gesellschaft. Sie ist Folge einer totalitären Politik, in der vermeintliche Inhaber der Wahrheit und Wächter des Guten über Zugehörigkeit und Ausgrenzung bestimmen. »Dass sich aber immer öfter diejenigen verteidigen müssen«, so Stegemanns Fazit, »die sich nach wie vor eher der Realität als einer moralisierenden Wertung verpflichtet fühlen, zeigt, wie mächtig inzwischen die Moralprediger sind.«

Mit diesen Ausführungen über Identitätspolitik und politische Korrektheit haben wir lediglich einen kleinen Ausschnitt aus Stegemanns Abhandlung herausgegriffen. Auch die übrigen Teile des Buches sind mehr als lesenswert. Sie setzen sich mit dem Moralismus der Heuchler und schönen Seelen auseinander, mit Moral und Hypermoral, mit einigen Beispielen paradoxer Konstruktionen (Double Bind, dem postmodernen Paradox, Antidiskriminierung, Radical Chic und dem Deutschlandparadox), mit unterschiedlichen Formen des Liberalismus, sowie dem Theater der öffentlichen Stimmen, auf dessen Bühne »Gemeinschaftskundelehrer«, »Predigerinnen« und »Realisten« auftreten. Schließlich widmet sich Stegemann im Kapitel »Das Talkshow-Paradox« der medialen Inszenierung des Schaukampfs zwischen Moralisten und Realisten und schließt mit einem starken Plädoyer für eine »neue Aufklärung«.

»Die Doppelmoral, die ihre Enttarnung fürchten muss«, so heißt es in diesem Plädoyer, »greift zu immer aggressiveren Mitteln, um ihr Geheimnis zu verbergen. Nur so lässt es sich erklären, dass die PC-Verbote nicht nur immer mehr zunehmen, sondern auch immer unwirscher eingefordert werden. Jede Meinung, die im Jenseits des Sagbaren verortet wird, ist dann ›unerträglich‹, ›menschenverachtend‹ und ›üble Hetze‹, und die Grenzschützer der Moral wenden sich ›angeekelt‹ und voller ›Verachtung‹ davon ab, denn sie sind ›wütend‹, ›empört‹ und ›unendlich traurig‹. Solche entrüsteten Aussagen zeigen, wie nervös und ängstlich die öffentlichen Stimmen inzwischen geworden sind. Je lauter die Empörung wird, desto weniger scheinen sie noch daran zu glauben, dass die andere Seite von ihnen überhaupt erreicht werden kann, und desto mehr wird ihr Aufschrei zur Selbstinszenierung moralischer Vortrefflichkeit.

Ist die Situation einmal in eine solche Schieflage geraten, dann entsteht daraus eine Folge von weiteren Problemen. Denn plötzlich sind nicht mehr nur die Themen der bösen Seite tabuisiert, sondern auch die Guten dürfen diese Aspekte der Realität nicht mehr ansprechen, ohne in den Verdacht zu geraten, allein dadurch zu den Bösen zu gehören. Hieraus entstehen die inflationsartig auftretenden Vorwürfe, etwas oder jemand sei AfD-nah. Aus der Sorge, allein schon durch die Beschreibung eines Vorgangs in der Realität in die Nähe der AfD zu geraten, ziehen sich dann immer mehr Menschen zurück und verweigern das öffentliche Sprechen über die Probleme, die sie in ihrem Alltag dennoch erleben. […]

Die fatale Dialektik dieser Moral-Strategie besteht darin, dass bestimmte Themen nur noch von rechten Narrationen aufgegriffen werden. Wenn Kritik an der EU und am Finanz-Sektor als populistischer Nationalismus und Kritik an der merkelschen Flüchtlingspolitik als rassistische Hetze ausgegrenzt wird und keine materialistische linke Kritik mehr formuliert werden kann, ohne vom Linksliberalismus als rechts diffamiert zu werden, verengt sich der Bereich des Sagbaren auf die Affirmation der herrschenden Ideen, während alles andere als destruktiver Angriff von rechts gilt. Der Wunsch nach einer moralisch überwachten Öffentlichkeit verkehrt sich damit ins Gegenteil, und das Overton-Fenster bewegt sich immer weiter in die Richtung, die durch linkes Moralisieren verhindert werden soll. Denn schließlich stehen für immer mehr Themen vor allem rechte Narrationen zur Verfügung, da die Linken und Liberalen aus Angst vor Beifall von der falschen Seite hier lieber den Mund halten.«

Bernd Stegemann, Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik, Berlin 2018, 205 S., 18 Euro


Erster Teil dieses Beitrags

Zu Stegemanns Buch »Das Gespenst des Populismus«


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