Erosion rechtsstaatlicher Prinzipien

Zuletzt aktualisiert am 5. Januar 2024.

Nils Melzer, Sonderberichterstatter beim Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen über Folter, veröffentlichte Ende Mai seinen abschließenden Bericht zur Polizeigewalt in Deutschland während der Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen im Jahr 2021. Da Melzer im März 2022 von seinem Amt zurücktrat, ist es zugleich der letzte Bericht, den der Schweizer, soweit ersichtlich, publizierte. Der Bericht ist ein erschütterndes Dokument über die Erosion rechtsstaatlicher Prinzipien in der einstigen Vorzeigedemokratie, das sich zu all den anderen, hinreichend bekannten hinzugesellt.

Erosion rechtsstaatlicher Prinzipien

Bildschirmfoto der Netzseite des Berichterstatters über Folter

Melzer, der 2021 ein Buch über den Fall Assange veröffentlicht hat, wandte sich im August 2021 mit Fragen an die Bundesregierung, um von ihr Auskunft über einzelne Fälle und ein »allgemeines Muster übermäßiger Gewaltanwendung durch Strafverfolgungsbeamte gegen Demonstranten« zu erhalten, die, wie er schrieb, »offensichtlich gegen die Grundsätze der Rechtmäßigkeit, Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit und Vorsorge« verstießen.

Die Antworten der Bundesregierung auf seine Fragen genügten ihm nicht, vielmehr äußerte er erneut seine tiefste Besorgnis »über die praktische Einhaltung der Verpflichtungen Deutschlands in Bezug auf das Verbot und die Verhütung von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe«. Konkret ging es um sieben beispielhafte Fälle von Polizeigewalt, einen in Dresden und sechs weitere in Berlin. Zwei weitere Berliner Fälle kamen später hinzu. Melzer kritisierte in seinem Bericht die Ausflüchte der Bundesregierung, durch die sie das unangemessene Vorgehen der Polizeibeamten zu rechtfertigen suchte.[1]

Da die von Melzer diskutierten Videos gelöscht wurden oder nicht mehr aufzufinden sind, hier stellvertretend ein anderes Beispiel, das verstörend genug ist.

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Der Bericht Melzers

1. Bemerkungen zu den Antworten der Regierung auf die angesprochenen Einzelfälle

Fall 1 (Dresden): Mann liest auf einem öffentlichen Platz aus dem Grundgesetz und wird von Polizeibeamten tätlich angegriffen, während er seelenruhig auf sein Fahrrad steigt.

In ihrer Antwort zu diesem Fall erklärt die Regierung Ihrer Exzellenz[2]: (a) dass die Polizei den betreffenden Mann »vorläufig festgenommen« hat, »um seine Identität« festzustellen, nachdem er »eine verbotene Versammlung initiiert« hatte, indem er »lautstark das Grundgesetz verlesen« hatte; (b) dass »die Festnahme mit unmittelbarer Gewalt durchgesetzt werden musste«, weil der Mann »Widerstand« leistete, indem er »versuchte, sich der polizeilichen Maßnahme zu entziehen und mit dem Fahrrad wegzufahren«; (c) dass »die Festnahme des Mannes insgesamt verhältnismäßig war, insbesondere um eine weitere Mobilisierung von Sympathisanten zu verhindern«.

In dieser Hinsicht bin ich besorgt, dass diese Antwort eine Fehlinterpretation sowohl der tatsächlichen Umstände als auch der geltenden internationalen Rechtsgrundsätze für die Anwendung von Gewalt durch Strafverfolgungsbeamte widerzuspiegeln scheint.

Erstens kann der für die gewaltsame Festnahme angegebene Grund, nämlich »eine weitere Mobilisierung von Sympathisanten zu verhindern«, in sachlicher Hinsicht nicht als stichhaltig angesehen werden. Trotz der Anwesenheit zahlreicher Polizeibeamter und der scheinbar ruhigen und kontrollierten Umgebung wurde der betreffende Mann nicht daran gehindert, mit lauter Stimme aus dem Grundgesetz vorzulesen, sondern durfte diese Tätigkeit ungehindert ausüben, bis er freiwillig damit aufhörte und sich entschloss, den Ort des Geschehens zu verlassen, ohne irgendwelche Hinweise auf seine weiteren Absichten zu geben. Es gibt also keine vernünftigen Gründe, die eine plötzliche, dringende Notwendigkeit rechtfertigen, diesen Mann an der eventuellen Fortsetzung einer Tätigkeit an anderer Stelle zu hindern, die gerade von denselben Polizeibeamten in aller Ruhe beobachtet und lange geduldet wurde, ohne dass es zu einem physischen Eingriff kam.

Zweitens ist aus der Sicht meines Mandats die relevante Frage nicht, ob »die Verhaftung des Mannes insgesamt verhältnismäßig war«, sondern ob die dabei angewandte Gewalt den Grundsätzen der Rechtmäßigkeit, Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit und Vorsicht entsprach, wie sie in den einschlägigen internationalen Instrumenten zur Anwendung von Gewalt durch Strafverfolgungsbeamte festgelegt sind. Bedauerlicherweise wird diese Frage in der Antwort der Regierung Ihrer Exzellenz überhaupt nicht angesprochen.

Drittens geht aus den vorliegenden Videoaufnahmen hervor, dass der Versuch des Mannes, auf sein Fahrrad zu steigen, weder überstürzt noch gewaltsam, sondern in langsamen und gemessenen Bewegungen erfolgt. Nichts in seinem bisherigen Verhalten deutet darauf hin, dass er eine unmittelbare Gefahr für die Polizeibeamten oder andere Umstehende darstellte. Die Polizeibeamten sprechen weder eine Aufforderung zum Anhalten noch eine Warnung aus, noch zeigen sie die erforderliche abgestufte Eskalation bei der Anwendung von Zwangsmaßnahmen. Insbesondere versuchen die Beamten, obwohl sie sich in unmittelbarer Nähe des Mannes und seines Fahrrads befinden, nicht, ihm den Weg zu versperren, seinen Arm oder das Fahrrad selbst festzuhalten, was alles leicht möglich gewesen wäre.

Stattdessen greift einer der Beamten das Opfer plötzlich von hinten an, zielt direkt auf seinen ungeschützten Hals und stößt ihn gewaltsam von seinem Fahrrad auf den Boden.

Da sich der Mann mit weniger als Schrittgeschwindigkeit bewegte, wäre es für die beteiligten Beamten ein Leichtes gewesen, ihn am Verlassen des Tatorts zu hindern, ohne dass sie ihr ganzes Körpergewicht unerwartet auf seinen Hals geworfen und ihn auf eine Weise zu Boden gezwungen hätten, die ganz offensichtlich ein ungerechtfertigtes Risiko für seine Gesundheit und körperliche Unversehrtheit darstellte, aber auch eine unangemessene öffentliche Demütigung für ihn bedeutete, da er unnötigerweise von mehreren Beamten auf einem öffentlichen Platz. Unabhängig davon, ob die vorläufige Festnahme des Mannes zum Zwecke der Identitätsfeststellung rechtmäßig gewesen sein mag, war die Art und das Ausmaß der von den beteiligten Polizeibeamten angewandten Gewalt, wie sie in den einschlägigen Videoaufnahmen objektiv dokumentiert ist, (a) eindeutig nicht erforderlich, um den angegebenen Zweck zu erreichen, (b) mit einem ernsthaften Risiko der Verletzung und öffentlichen Demütigung verbunden, das in keinem Verhältnis zu dem angegebenen Zweck stand, und zwar aus beiden Gründen getrennt, (c) verletzte sie die körperliche Unversehrtheit und die Menschenwürde des Mannes in einer Weise, die unnötig und unverhältnismäßig ist und nicht mit dem bei der Anwendung von Zwangsmaßnahmen durch Strafverfolgungsbeamte erforderlichen Maß an Vorsicht vereinbar ist.

Viertens möchte ich unter dem Gesichtspunkt des Verbots von Folter und Misshandlung daran erinnern, dass jede Anwendung von Gewalt durch Strafverfolgungsbeamte, die keinen rechtmäßigen Zweck verfolgt oder die für die Erreichung eines rechtmäßigen Zwecks nicht erforderlich ist oder die im Vergleich zum verfolgten Zweck übermäßigen Schaden verursacht, einer grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe und unter bestimmten Umständen sogar der Folter gleichkommt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die in diesem Fall angewandte Gewalt, wie sie in den einschlägigen Videoaufnahmen dokumentiert ist, eindeutig gegen das Übereinkommen gegen Folter (CAT)[3] verstößt und daher die deutschen Behörden von Amts wegen verpflichtet, das Verhalten der beteiligten Beamten und ihrer Vorgesetzten unverzüglich und unparteiisch zu untersuchen (Artikel 12) und strafrechtlich zu verfolgen (Artikel 13), individuelle Sanktionen zu verhängen, die der Schuld jedes einzelnen Beteiligten entsprechen, sicherzustellen, dass das Opfer angemessen entschädigt und rehabilitiert wird (Artikel 14), und eine Wiederholung des Vorfalls durch wirksame Maßnahmen zu verhindern, einschließlich eines öffentlichen Eingeständnisses des Verschuldens und einer erklärten Politik der »Null-Toleranz« gegenüber Polizeibrutalität.

Das fortgesetzte Versäumnis der deutschen Behörden, dies zu tun, kann durchaus einer »Duldung«, wenn nicht gar einer stillschweigenden »Zustimmung« oder »Anstiftung« zu einem dokumentierten Akt der Folter oder einer anderen grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe auf ihrem Hoheitsgebiet gleichkommen (Artikel 1, 2 und 16 CAT) und damit nicht nur die Verantwortung des Staates begründen, sondern auch eine individuelle strafrechtliche Verantwortung für die Mittäterschaft oder Beteiligung eines Beamten auslösen, der es versäumt, die Täter zu untersuchen, zu verfolgen und zu bestrafen, wie es das Völkerrecht verlangt (CAT, Artikel 4). Soweit dies relevant ist, gelten diese Erwägungen auch für andere Fälle von Polizeibrutalität, die in meinen offiziellen Mitteilungen angesprochen wurden oder von denen die Regierung Ihrer Exzellenz auf andere Weise Kenntnis erlangt hat, die aber nicht die nach den internationalen Menschenrechtsnormen erforderlichen raschen, unparteiischen und wirksamen Folgemaßnahmen erhalten haben.

Fall 2 (Berlin): Gewaltloser 75-jähriger Mann wird brutal von hinten angegriffen, zu Boden geworfen und schwer verletzt, weil er die Durchfahrt von Polizeifahrzeugen behindert.

Laut der Antwort der Regierung Ihrer Exzellenz zu diesem Fall wird gegen den Polizeibeamten, der die Gewalttat begangen hat, derzeit durch das Landeskriminalamt 342 ermittelt. Obwohl ich die berichtete Einleitung von Ermittlungen in diesem Fall begrüße, habe ich die folgenden Bedenken.

Erstens scheint die Tatsache, dass die Ermittlungen vom Landeskriminalamt geleitet werden, nicht dem Erfordernis der Unparteilichkeit gemäß Artikel 12 und 13 des CAT zu entsprechen, wonach die Ermittlungsbehörde institutionell unabhängig von der Polizeibehörde oder dem zuständigen Ministerium sein sollte.

Zweitens zeigt das einschlägige Videomaterial einen Polizeibeamten, der zwar ein rechtmäßiges Ziel verfolgt (die Entfernung einer Person, die die Durchfahrt eines Polizeifahrzeugs behindert), dies aber unter Anwendung übermäßiger Gewalt tut, die mit den Grundsätzen der Vorsorge (keine abgestufte Eskalation der Gewalt), der Notwendigkeit (kein Einsatz des am wenigsten schädlichen Mittels zur Erreichung eines rechtmäßigen Ziels) und der Verhältnismäßigkeit (übermäßiger physischer und moralischer Schaden im Vergleich zu einer realen und unmittelbaren Bedrohung) nicht vereinbar ist.

Insbesondere die offensichtliche Standardpraxis der deutschen Polizei, gewaltlose Personen mit Gewalt zu Boden zu zwingen oder zu werfen, verstößt gegen das Erfordernis der abgestuften Gewaltanwendung und birgt die unnötige und unverhältnismäßige Gefahr von Körperverletzungen sowie eine unnötige Entwürdigung der angegriffenen Person unter Verletzung ihrer Menschenwürde. Eine solche Praxis stellt daher eine grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und in einigen Fällen sogar Folter dar, die nach den internationalen Menschenrechtsvorschriften absolut verboten ist.

Auch nach dem ungerechtfertigten Angriff greift weder der verantwortliche Beamte noch ein anderer am Tatort anwesender Strafverfolgungsbeamter ein, um die erforderliche medizinische Hilfe zu leisten, oder zeigt anderweitig irgendeine Vorsichtsmaßnahme oder Sorge um die körperliche Unversehrtheit und Menschenwürde des Opfers. In Anbetracht der Tatsache, dass die Art und das Ausmaß der angewandten Gewalt objektiv geeignet waren, schwere Verletzungen zu verursachen, und dass keine unmittelbare Bedrohung für den handelnden Beamten oder eine andere Person bestand, stellt das Zurücklassen einer vorsätzlich oder rücksichtslos verletzten Person ohne erste Hilfe und medizinische Versorgung einen schweren Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht und Vorsichtsmaßnahmen dar und sollte als Straftat nach nationalem Recht verfolgt werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die deutschen Behörden trotz gut dokumentierter Videobeweise für einen eindeutigen Verstoß gegen die Anti-Folter-Konvention mehr als zehn Monate nach dem Vorfall immer noch kein öffentliches Schuldanerkenntnis abgegeben haben und keine Entscheidung zur Strafverfolgung getroffen wurde. Dies lässt sich nicht mit den Verpflichtungen Deutschlands vereinbaren, mutmaßliche Verstöße »unverzüglich« zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen und »unverzüglich« das Recht der Opfer auf Wiedergutmachung und Rehabilitierung zu prüfen, wie es in den Artikeln 7, 12, 13 und 14 des CAT festgelegt ist. Darüber hinaus verstößt jede unangemessene Verzögerung der Ermittlungen oder das Versäumnis, vorläufige Disziplinarmaßnahmen gegen mutmaßliche Täter zu ergreifen, wie z. B. Verwarnungen und vorübergehende Suspendierung vom Dienst, auch gegen Deutschlands Pflicht, »wirksame Maßnahmen« zu ergreifen, um eine Wiederholung der mutmaßlichen Verstöße gemäß Artikel 2 der CAT zu verhindern, und hinterlässt den Eindruck, dass polizeiliche Brutalität durch Zögern de facto straffrei bleibt (»justice delayed is justice denied« – »aufgeschobene Gerechtigkeit ist verweigerte Gerechtigkeit«).

Fall 3 (Berlin): Gewaltloser Mann brutal rückwärts zu Boden geworfen.

Laut Antwort der Regierung Ihrer Exzellenz wurde das Videomaterial zu diesem Fall nach Abschluss der polizeiinternen Ermittlungen an die Staatsanwaltschaft Berlin zur weiteren Auswertung weitergeleitet. Obwohl ich die gemeldete Einleitung von Ermittlungen in diesem Fall begrüße, liegen keine Informationen zum Ausgang der polizeilichen Ermittlungen vor und viele Monate nach dem Vorfall haben die deutschen Behörden immer noch keine Schuld anerkannt und keine Entscheidung zur Strafverfolgung getroffen. Diese erhebliche Verzögerung scheint mit der Verpflichtung zu »unverzüglichen« und »unparteiischen« Ermittlungen und zur »sofortigen« Prüfung des Rechts des Opfers auf Wiedergutmachung und Rehabilitierung unvereinbar zu sein. Auch in diesem Fall mag der beteiligte Polizeibeamte ein rechtmäßiges Ziel verfolgen, aber die verfügbaren Videoaufnahmen lassen keinen Zweifel daran, dass er dabei auf übermäßige Gewalt zurückgreift, die nicht mit den Grundsätzen der Vorsorge, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit vereinbar ist, wie in Fall 2 ausgeführt. Auch hier verstößt die offensichtliche Standardpraxis der deutschen Polizei, nicht gewalttätige Personen mit Gewalt zu Boden zu zwingen oder zu werfen, gegen das Gebot der abgestuften Gewaltanwendung, birgt unnötige und unverhältnismäßige Risiken von Körperverletzungen und demütigt die angegriffene Person unnötig und verletzt ihre Menschenwürde.

Eine solche Praxis kommt unweigerlich einer grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleich und kann, wenn es sich um ohnmächtige Personen handelt, sogar den Tatbestand der Folter erfüllen, der nach den internationalen Menschenrechtsvorschriften absolut verboten ist.

Abschließend möchte ich noch einmal meine Besorgnis über die unangemessenen Verzögerungen bei den Ermittlungen und das offensichtliche Versäumnis, vorläufige disziplinarische oder andere wirksame Maßnahmen gegen den mutmaßlichen Täter zu ergreifen, um eine Wiederholung zu verhindern, wie es in Artikel 2 des CAT vorgesehen ist, zum Ausdruck bringen, die ein reales Risiko der faktischen Straflosigkeit durch Zögern mit sich bringen.

Fall 4 (Berlin): Wehrlose Frau, die von vier Polizeibeamten am Boden fixiert wird, wird mehrfach gewaltsam niedergeschlagen.

Laut Antwort der Regierung Ihrer Exzellenz ist dieser Vorfall bei der Staatsanwaltschaft Berlin unter dem Aktenzeichen 231 UJs 2349/20 registriert, wurde vom Landeskriminalamt 342 als Fachstelle für Polizeidienststellen bearbeitet und »die Ermittlungen dauern noch an«.

Ich begrüße zwar, dass in diesem Fall Ermittlungen eingeleitet wurden, aber es wurden keine Informationen über das Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen vorgelegt, und ich bin nach wie vor besorgt darüber, dass die Ermittlungsbehörde nicht über das für eine unparteiische Untersuchung erforderliche Maß an Unabhängigkeit verfügt. Auch in diesem Fall haben die deutschen Behörden mehr als ein ganzes Jahr nach dem Vorfall noch immer kein Verschulden eingeräumt, und es scheint keine Entscheidung zur Strafverfolgung getroffen worden zu sein. Diese erhebliche Verzögerung scheint unvereinbar mit der Verpflichtung zu einer »unverzüglichen« und »unparteiischen« Untersuchung und einer »unverzüglichen« Prüfung des Rechts des Opfers auf Wiedergutmachung und Rehabilitierung sowie mit der Pflicht, »wirksame Maßnahmen« zur Verhinderung einer Wiederholung des Vorfalls zu ergreifen, und verfestigt insgesamt den Eindruck einer faktischen Straffreiheit durch Verschleppung.

Fall 5 (Berlin): Ein gewaltloser Mann, der einen Polizeibeamten beleidigt haben soll, wird von dem Beamten brutal angegriffen und mit Unterstützung anderer Beamter zu Boden geworfen und anschließend in Handschellen abgeführt und festgenommen.

Ich bedauere zutiefst die Antwort der Regierung Ihrer Exzellenz zu diesem Fall, in der es heißt, dass die »zuständige Polizeidienststelle des Landeskriminalamtes diesen Vorfall aufgrund der Fallbeschreibung bisher keinem konkreten Ermittlungsverfahren zuordnen« konnte.

In Anbetracht der in der vorangegangenen Mitteilung vorgelegten Videobeweise, die einen unwiderlegbaren Fall von übermäßiger Gewaltanwendung durch Polizeibeamte dokumentieren, deren ID-Nummern deutlich auf ihren Uniformen zu erkennen sind, kann diese Antwort nicht als überzeugend angesehen werden.

Ich möchte die Regierung Ihrer Exzellenz an ihre absolute und nicht abdingbare (von Amts wegen gegebene) Verpflichtung erinnern, eine unverzügliche und unparteiische Untersuchung einzuleiten, um die Verantwortlichen zu ermitteln, den Sachverhalt festzustellen, die Strafverfolgung einzuleiten und Maßnahmen zur Wiedergutmachung, Entschädigung und Verhinderung eines erneuten Auftretens zu ergreifen, unabhängig davon, ob das Opfer eine formelle Beschwerde eingereicht hat. Jedes Versäumnis der deutschen Behörden, dies zu tun, käme einer »Duldung« eines dokumentierten Aktes der Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe auf ihrem Hoheitsgebiet gleich (Art. 1, 2 und 16 CAT), was nicht nur die Verantwortung des Staates, sondern auch die individuelle strafrechtliche Verantwortung für die Mittäterschaft und Beteiligung eines jeden Beamten auslöst, der es versäumt, die Täter zu ermitteln, zu verfolgen und zu bestrafen, wie es das Völkerrecht verlangt (Art. 4 CAT).

In der Sache sollte anerkannt werden, dass respektlose Äußerungen oder Beleidigungen von Demonstranten gegenüber Polizeibeamten durchaus gegen innerstaatliches Recht verstoßen und in hinreichend schwerwiegenden Fällen sogar Strafverfolgungsmaßnahmen gegen die Verursacher rechtfertigen können. Gleichzeitig müssen die Polizeibeamten geschult und angewiesen werden, auf provozierendes Verhalten mit Mäßigung, Zurückhaltung und Widerstandsfähigkeit zu reagieren. In keinem Fall kann ein bloßes respektloses oder beleidigendes Verhalten die Anwendung von Gewalt rechtfertigen, da die mit körperlicher Gewalt verbundenen erheblichen Risiken fast immer als unverhältnismäßig im Vergleich zu dem legitimen öffentlichen Interesse an der Beendigung des betreffenden Fehlverhaltens angesehen werden müssen.

Viele der Vorwürfe, die dem Sonderberichterstatter unter anderem durch Videobeweise zugetragen wurden, deuten darauf hin, dass die deutsche Polizei in Bezug auf die Anwendung von Gewalt durch ihre Beamten als Reaktion auf gewaltloses provozierendes Verhalten zu einer übermäßig freizügigen Haltung neigt oder diese toleriert.

In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, dass der Rückgriff auf körperliche Gewalt zu Rachezwecken nicht mit den allgemein anerkannten Standards für die Anwendung von Gewalt durch Strafverfolgungsbeamte in Einklang zu bringen ist und somit gegen das absolute und nicht abdingbare Verbot von Folter und anderen Misshandlungen verstößt.

Fall 6 (Berlin): Wehrloser Mann, der von mehreren Polizeibeamten am Boden fixiert wird, wird bei der Festnahme weiter brutal geschlagen, was zu vorübergehendem Bewusstseinsverlust und schweren Verletzungen führt.

Laut Antwort der Regierung Ihrer Exzellenz ist dieser Vorfall bei der Staatsanwaltschaft Berlin unter dem Aktenzeichen 231 UJs 1725/21 registriert, wurde vom Landeskriminalamt 342 bearbeitet und »der Fall steht kurz vor dem Abschluss der polizeilichen Ermittlungen«.

In der Antwort der Regierung heißt es weiter, dass »die Videosequenz nicht den gesamten Ablauf der Ereignisse zeigt, sondern im Wesentlichen nur die polizeiliche Verhaftung« und dass »Zeugenaussagen und andere Videoaufnahmen, die ein umfassenderes Bild der Gesamtsituation einschließlich der Handlungen des Geschädigten ermöglichen, sichergestellt und ausgewertet wurden«.

Obwohl ich die Einleitung von Ermittlungen in diesem Fall begrüße, bin ich nach wie vor besorgt darüber, dass die deutschen Behörden mit dem Verweis auf die »Handlungen des Geschädigten« zu versuchen scheinen, polizeiliches Verhalten zu rechtfertigen oder zu bagatellisieren, das nach internationalem Recht einem absoluten und nicht abdingbaren Verbot unterliegt. Unabhängig davon, welches Verhalten der betreffende Demonstrant vor seiner Festnahme an den Tag gelegt haben mag, zeigen die uns vorliegenden Videoaufnahmen, wie mehrere Polizeibeamte, nachdem sie ihn überwältigt und am Boden fixiert haben, ihn wiederholt auf den Rücken und auf den Kopf schlagen, bis er das Bewusstsein verliert und sein Gesicht und seine Arme blutverschmiert sind. Während der gesamten Videosequenz zeigt der Mann keine sichtbaren Anzeichen von Gewalt, Widerstand oder bedrohlichem Verhalten.

Unabhängig von einem früheren Fehlverhalten des Opfers ist die von den Polizeibeamten angewandte Gewalt eindeutig unnötig für den Zweck der Festnahme, führt zu unverhältnismäßigen Verletzungen und Demütigungen und zeugt von mangelnder Vorsicht sowie einer schwerwiegenden Missachtung der körperlichen Unversehrtheit und der Menschenwürde. Darüber hinaus wird die Untersuchung einmal mehr von einer Behörde durchgeführt, der es offenbar an der erforderlichen Unabhängigkeit von der Polizei mangelt, und trotz zwingender Videobeweise für ein schweres Fehlverhalten der festnehmenden Beamten wurden mehrere Monate nach dem Vorfall weder eine Entscheidung zur strafrechtlichen Verfolgung noch vorläufige Disziplinarmaßnahmen getroffen, noch gab es ein Eingeständnis des Fehlverhaltens seitens der Behörden oder ein sonstiges öffentliches Bekenntnis zu einer »Null-Toleranz«-Politik gegenüber polizeilicher Brutalität im Einklang mit der Pflicht Deutschlands, »wirksame Maßnahmen« zu ergreifen, um eine Wiederholung der angeblichen Verstöße zu verhindern. Nicht zuletzt versäumte es die Regierung in ihrer Antwort, auf alarmierende Behauptungen einzugehen, wonach Polizeibeamte versucht hätten, den medizinischen Bericht des Opfers zu beeinflussen, indem sie behaupteten, die erlittenen Verletzungen seien die Folge eines Sturzes und nicht auf schwere Schläge zurückzuführen. Auch hier sind die Behörden von Amts wegen verpflichtet, den Vorwürfen nachzugehen und, sollten sie sich als zutreffend erweisen, die Täter strafrechtlich zu verfolgen und zu bestrafen, weil sie versucht haben, einen Akt der Folter oder eine andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu vertuschen.

Fall 7 (Berlin): Gewaltlose Frau wird beim Versuch, eine Polizeiabsperrung zu passieren, lebensgefährlich zu Boden geworfen.

Laut Antwort der Regierung Ihrer Exzellenz ist dieser Vorfall bei der Staatsanwaltschaft Berlin unter dem Aktenzeichen 271 UJs 1659/21 registriert und wird vom Landeskriminalamt 342 »derzeit noch bearbeitet«. Der Fall »steht kurz vor dem Abschluss der polizeilichen Untersuchung, der Geschädigte konnte jedoch noch nicht ermittelt werden«.

Ich begrüße zwar die gemeldete Einleitung von Ermittlungen in diesem Fall, bekräftige jedoch meine Besorgnis darüber, dass die Ermittlungen von einer Behörde durchgeführt werden, der es offenbar an der erforderlichen Unabhängigkeit von der Polizei mangelt, und dass trotz zwingender Beweise für ein schweres Fehlverhalten des verantwortlichen Polizeibeamten mehrere Monate nach dem Vorfall noch keine Entscheidung über eine Strafverfolgung und keine vorläufigen Disziplinarmaßnahmen getroffen wurden und auch noch keine

Es gab weder ein Schuldanerkenntnis seitens der Behörden noch ein anderes öffentliches Bekenntnis zu einer »Null-Toleranz-Politik« gegenüber polizeilicher Brutalität im Sinne der Verpflichtung Deutschlands, »wirksame Maßnahmen« zu ergreifen, um eine Wiederholung der mutmaßlichen Übergriffe zu verhindern.

Auch in diesem Fall mag der verantwortliche Polizeibeamte ein rechtmäßiges Ziel verfolgt haben, aber die verfügbaren Videoaufnahmen lassen keinen Zweifel daran, dass er dabei exzessive Gewalt angewendet hat, die mit den Grundsätzen der Vorsorge, der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit, wie sie in anderen Fällen oben dargelegt wurden, nicht vereinbar ist.

Auch hier stelle ich mit Besorgnis fest, dass die Behörden nicht in der Lage waren, den Geschädigten zu identifizieren, was darauf hindeutet, dass selbst nach der Anwendung exzessiver Gewalt weder der zuständige Beamte noch ein anderer am Tatort anwesender Strafverfolgungsbeamter eingegriffen hat, um das Opfer zu identifizieren, die erforderliche medizinische Hilfe zu leisten oder anderweitig Vorsorge zu treffen oder sich um seine körperliche Unversehrtheit und Menschenwürde zu kümmern.

2. Offensichtliche Diskrepanz zwischen normativen Bestimmungen und tatsächlicher Praxis

Melzer-AssangeIch danke der Regierung Ihrer Exzellenz für die ausführlichen Informationen über den bestehenden normativen, verfahrenstechnischen und institutionellen Rahmen für die Meldung und Untersuchung von mutmaßlichem Fehlverhalten von Polizeibeamten sowie für die Durchführung von Disziplinar- und Strafverfahren sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene. Nach Angaben der Regierung werden disziplinar- und strafrechtliche Ermittlungen von Amts wegen – d.h. unabhängig vom Vorliegen einer Anzeige – immer dann eingeleitet, wenn ein glaubhafter Verdacht oder tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein Polizeibeamter eine Straftat oder Pflichtverletzung begangen hat. Die Ermittlungen stützen sich auf Polizeiberichte, Video- und Audiobeweise sowie auf Beschwerden von Unbeteiligten und anderen Zeugen. Disziplinarrechtliche Untersuchungen werden von den zuständigen Stellen innerhalb der Polizei durchgeführt, während die strafrechtliche Verantwortung von Polizeibeamten von der Staatsanwaltschaft untersucht wird. Darüber hinaus bestätigt die Regierung, dass alle Opfer Anspruch auf Entschädigung für die ihnen zugefügten Schmerzen und Leiden sowie für die erlittenen Schäden haben.

Ich begrüße zwar das formale Vorhandensein eines ausgefeilten normativen, verfahrenstechnischen und institutionellen Rahmens für die Meldung und Untersuchung der Anwendung von Gewalt durch die Polizei, bin jedoch ernsthaft besorgt darüber, dass diese in der Praxis offenbar nicht zu einem realistischen Muster disziplinarischer und strafrechtlicher Sanktionen führen, das entweder der Zahl der tatsächlich eingereichten Beschwerden oder der Zahl und Häufigkeit der Sanktionen entspricht, die statistisch gesehen auch bei einem gut ausgebildeten und befehlshabenden Strafverfolgungsdienst, der aktiv an der Überwachung von Versammlungen in einem Land mit mehr als 80 Millionen Einwohnern beteiligt ist, zu erwarten wären.

Nach offiziellen Angaben der Regierung wurden mit Ausnahme einer einzigen strafrechtlichen Verurteilung, die mit einer Geldstrafe geahndet wurde (Bayern), alle anderen disziplinar- und strafrechtlichen Ermittlungen im Zusammenhang mit der Anwendung von Gewalt bei der Durchführung von Versammlungen in ganz Deutschland in einem Zeitraum von fast zwei Jahren (seit Januar 2020) entweder aus Mangel an Beweisen eingestellt oder sind noch nicht abgeschlossen, oft mehr als ein Jahr nach der mutmaßlichen Straftat. Drei weitere Fälle wurden gegen Zahlung einer Geldstrafe eingestellt (einer in Bayern und zwei in Niedersachsen). Abgesehen von diesen vier Fällen wurden in ganz Deutschland offenbar gegen keinen Polizeibeamten Disziplinarmaßnahmen oder strafrechtliche Sanktionen wegen übermäßiger Gewaltanwendung bei der Durchführung von Versammlungen verhängt, noch hat die Regierung öffentlich ein Fehlverhalten eingeräumt oder die Bevölkerung beruhigt, indem sie eine »Null-Toleranz«-Politik für polizeiliche Brutalität erklärte.

Aufgrund meiner langjährigen Erfahrung in der Regelung, Ausbildung und Bewertung von Polizei- und Militäreinsätzen möchte ich die Regierung Ihrer Exzellenz an die Tatsache erinnern, dass auch die professionellste Polizei aus Menschen besteht, die unter äußerst schwierigen Bedingungen arbeiten müssen. Schuldhaftes Fehlverhalten von Polizeibeamten darf zwar niemals geduldet werden, aber es ist unrealistisch zu glauben, dass es jemals vollständig vermieden werden kann. Das fast vollständige Fehlen disziplinarischer und strafrechtlicher Sanktionen gegen Beamte der Strafverfolgungsbehörden nach fast zwei Jahren erhöhter Spannungen und häufiger Zusammenstöße mit Demonstranten in einem Land von der Größe Deutschlands spiegelt daher wahrscheinlich keine verlässliche Einschätzung der operativen Realität wider, sondern deutet vielmehr auf dysfunktionale Befehls- und Kontrollstrukturen hin, die zwar auf dem Papier alle normativen und institutionellen Anforderungen erfüllen, in der Praxis aber nicht in der Lage sind, auf behördliches Fehlverhalten wirksam zu reagieren.

Auch die Tatsache, dass selbst gut dokumentierte Fälle von Polizeibrutalität oft mehr als ein Jahr nach den jeweiligen Vorfällen immer noch »anhängig« sind, ohne dass es zu einer strafrechtlichen Verurteilung, einer Entscheidung zur Strafverfolgung oder einer Disziplinarstrafe gekommen ist, gibt Anlass zu erheblichen Bedenken hinsichtlich der Wirksamkeit und Effizienz der Maßnahmen, die von den deutschen Behörden ergriffen werden, um Prävention, Abschreckung und Rechtspflege in Fällen mutmaßlicher Polizeibrutalität sicherzustellen. Insgesamt scheinen erhebliche Verzögerungen ein häufiges – wenn auch nicht allgemeines – Merkmal der Ermittlungen bei mutmaßlichem disziplinarischem und strafrechtlichem Fehlverhalten von Strafverfolgungsbeamten zu sein, was zu einem strukturellen Muster von faktischer Straflosigkeit und Duldung durch Verschleppung führt.

Die systematische Verzögerung von disziplinar- und strafrechtlichen Ermittlungen gegen deutsche Polizeibeamte steht in besonders krassem Gegensatz zu den »beschleunigten Gerichtsverfahren«, die von den Behörden bei der Verurteilung von Demonstranten wegen ihrer Teilnahme an nicht genehmigten Versammlungen, einschließlich Gewalttaten, angewendet werden.

Ich bin zum Beispiel alarmiert über die Verurteilung von acht Demonstranten im Rahmen des so genannten »beschleunigten Verfahrens« innerhalb von nur 24 Stunden nach ihrer Festnahme im Zusammenhang mit einer nicht genehmigten Versammlung in Schweinfurt am 26. Dezember 2021.[4] Vor diesem Hintergrund verstärkt die Tatsache, dass praktisch alle Vorwürfe gewalttätigen Fehlverhaltens gegen Polizeibeamte in derselben Situation entweder aus Mangel an Beweisen abgewiesen wurden oder bis in alle Ewigkeit »anhängig« gehalten werden, den Eindruck eines allgemeinen Musters der faktischen Straffreiheit und Duldung durch Verschleppung.

Ich fordere die Regierung Ihrer Exzellenz daher dringend auf, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Ermittlungen über mutmaßliches disziplinarisches und strafrechtliches Fehlverhalten von Strafverfolgungsbeamten »unverzüglich« und »unparteiisch« durchgeführt werden und dass das Recht der Opfer auf Wiedergutmachung und Rehabilitierung »unverzüglich« geprüft wird, um so als »wirksame« Präventionsmaßnahme im Einklang mit den im Übereinkommen gegen Folter kodifizierten Verpflichtungen zu dienen. Jegliche unangemessene Nachsicht, Toleranz oder Duldung mutmaßlicher Folterungen und anderer Misshandlungen muss durch die Umsetzung einer strikten »Null-Toleranz«-Politik in Bezug auf polizeiliche Brutalität auf allen Ebenen der Ermittlungs- und Gerichtsverfahren verhindert werden. Die unverzügliche und transparente Untersuchung und strafrechtliche Verfolgung von Folter- und Misshandlungsvorwürfen durch die zuständigen Behörden ist unerlässlich, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Rechtsstaatlichkeit des Staates aufrechtzuerhalten und jeden Eindruck von offizieller Duldung, Zustimmung oder Komplizenschaft in Bezug auf rechtswidrige Praktiken zu vermeiden.

3. Berichten zufolge fehlt es an Kapazitäten für die Erstellung relevanter statistischer Daten

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Laut der Antwort der Regierung Ihrer Exzellenz sind die in meiner Mitteilung angeforderten statistischen Daten für vier der größten Bundesländer, die zu den wichtigsten in Bezug auf die polizeiliche Überwachung von Protesten und Versammlungen gehören (nämlich Berlin, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Hessen) und die zusammen etwa 40 Millionen Einwohner oder die Hälfte der deutschen Bevölkerung ausmachen, »nicht verfügbar«.

Ich bin mir zwar bewusst, dass die geforderte Datenerhebung einige Nachforschungen und Anstrengungen erfordert, hätte aber zumindest einen statistischen Überblick über die Anzahl der Fälle erwartet, in denen Beamte der betroffenen Polizeikräfte seit Januar 2020 Disziplinar- oder Strafverfahren und Sanktionen wegen angeblicher Anwendung übermäßiger Gewalt bei der Überwachung von Versammlungen unterworfen wurden. Da die Behörden Berichten zufolge nicht in der Lage sind, diese Art von statistischen Daten zu erstellen, scheinen sie nicht in der Lage zu sein, die Einhaltung der internationalen Normen für die Anwendung von Gewalt durch ihre eigenen Strafverfolgungsbeamten realistisch zu bewerten und festzustellen, was sich negativ auf die Fähigkeit auswirkt, Mängel zuverlässig zu ermitteln und durch Präventiv- und Korrekturmaßnahmen zu beheben. Das Fehlen relevanter statistischer Daten untergräbt auch die Verlässlichkeit pauschaler Behauptungen in der Antwort der Regierung Ihrer Exzellenz, wie etwa, dass in Hessen »straf- und disziplinarrechtlich relevantes Verhalten von Polizeibeamten daher in allen Fällen überprüft und systematisch straf- und disziplinarrechtlich verfolgt wird.« Ohne verlässliche statistische Daten lässt sich nicht feststellen, ob diese Bestimmungen in der Praxis wirksam angewendet werden. Die von anderen Bundesländern vorgelegten Statistiken sowie die Antworten auf die in meiner ersten Mitteilung angesprochenen Einzelfälle deuten meines Erachtens vielmehr auf eine erhebliche Diskrepanz zwischen normativen Vorgaben und praktischer Realität hin.

Ich fordere daher die Regierung Ihrer Exzellenz auf, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass alle Behörden in ganz Deutschland in der Lage sind, systematisch und transparent Daten über die Anwendung von Gewalt durch Strafverfolgungsbeamte zu erheben, auszuwerten und zu verarbeiten, um ihrer internationalen Verpflichtung zur wirksamen Verhütung, Untersuchung, Verfolgung und Wiedergutmachung von Gewalttaten, Folter und Misshandlung sowie der systematische Überprüfung von Vorschriften, Anweisungen, Methoden und Praktiken im Zusammenhang mit der Strafverfolgung gemäß den Artikeln 10 und 11 des CAT nachzukommen.

4. Bedenken in Bezug auf Rechtsbehelfsmechanismen

Darüber hinaus möchte ich meine Besorgnis über die in der Antwort der Regierung beschriebenen Wiedergutmachungsmechanismen zum Ausdruck bringen, die das Recht auf Wiedergutmachung auf Aspekte der Entschädigung der Opfer und die Möglichkeit, bei den zuständigen Behörden eine Klage einzureichen, um eine Entschädigung für materielle oder immaterielle Schäden wie Schmerzen und Leiden zu erhalten, zu beschränken scheinen. In diesem Zusammenhang möchte ich die Regierung Ihrer Exzellenz daran erinnern, dass das Recht auf Wiedergutmachung, wie es in Artikel 14 des CAT niedergelegt ist, die Konzepte des wirksamen Rechtsbehelfs und der Wiedergutmachung umfasst. »Das umfassende Wiedergutmachungskonzept beinhaltet daher Rückgabe, Entschädigung, Rehabilitation, Genugtuung und Garantien der Nichtwiederholung und bezieht sich auf die gesamte Bandbreite der Maßnahmen, die erforderlich sind, um Verstöße gegen das Übereinkommen wiedergutzumachen« (Ausschuss gegen Folter, Allgemeine Bemerkung Nr. 3 [2012], Absatz 2). Auf der Grundlage dieser Definition möchte ich betonen, dass die individuelle und institutionelle Rechenschaftspflicht für Handlungen, die Folter und Misshandlung darstellen, die strafrechtliche Verfolgung der Täter sowie Garantien für die Nichtwiederholung grundlegende Bestandteile des Rechts auf Wiedergutmachung sind, das allen Opfern unmissverständlich gewährt werden sollte.

Daher möchte ich die Regierung Ihrer Exzellenz an ihre Pflicht erinnern, den Opfern verfahrensrechtliche und materiellrechtliche Wiedergutmachung zu gewähren. Auf der Verfahrensebene beinhaltet dies die Pflicht, wirksame und zugängliche Beschwerdemechanismen und Untersuchungsstellen einzurichten, die in der Lage sind, Opfer von Folter und Misshandlung zu ermitteln und ihnen Wiedergutmachung zu gewähren. Auf der materiellen Ebene »stellen die Vertragsstaaten sicher, dass Opfer von Folter oder Misshandlung vollständige und wirksame Wiedergutmachung und Entschädigung erhalten, einschließlich Entschädigung und der Mittel für eine möglichst vollständige Rehabilitation« (Ausschuss gegen Folter, Allgemeine Bemerkung Nr. 3 (2012), Abs. 5). 5).

Gerade in einer Situation, wie sie seit Januar 2020 in Deutschland herrscht, wo es zahlreiche Vorwürfe schweren Fehlverhaltens von Polizeibeamten bei Versammlungen gibt, gehört zum Recht auf Wiedergutmachung und Rehabilitierung auch die eindeutige Garantie der Nichtwiederholung, wie z.B. das öffentliche Eingeständnis von Schuld, eine erklärte »Null-Toleranz-Politik« gegenüber polizeilicher Brutalität und ein unmissverständliches Bekenntnis zur Menschenwürde aller Einwohnerinnen und Einwohner, auch derjenigen, die sich an Protesten, zivilem Ungehorsam oder gar Straftaten beteiligen.

5. Fehlinterpretation der Grundsätze für die Anwendung von Gewalt

In der Antwort der Regierung Ihrer Exzellenz wird behauptet, dass die deutsche Polizei bei der Bewältigung öffentlicher Proteste im Einklang mit der nationalen Gesetzgebung zur Anwendung von Maßnahmen der Deeskalation und eines versammlungsfreundlichen Verhaltens verpflichtet ist. Die in meiner Mitteilung vorgelegten Einzelfälle sowie weitere Fälle, die mir im Rahmen meines Mandats zur Kenntnis gebracht wurden, dokumentieren jedoch zahlreiche Fälle, in denen Beamte der Strafverfolgungsbehörden offenbar in einer Weise gehandelt haben, die mit diesen Vorgaben nicht vereinbar ist insbesondere durch den Einsatz physischer Gewalt, die unter den gegebenen Umständen weder notwendig noch verhältnismäßig war, aber auch dadurch, dass sie nicht eingriffen und wehrlose Demonstranten vor der Gefahr oder den Folgen exzessiver oder anderweitig missbräuchlicher Gewalt seitens ihrer Polizeikollegen schützten.

Aus den verfügbaren Videoaufnahmen geht hervor, dass die deutsche Polizei anscheinend ein übermäßig freizügiges und hartes Vorgehen an den Tag legt und bei einer sehr niedrigen Einsatzschwelle überwältigende physische Gewalt anwendet. Dazu gehört auch der häufige Rückgriff auf Gewalt als Reaktion auf verbale Provokationen oder Meinungsverschiedenheiten mit uneinsichtigen, aber ansonsten gewaltlosen Demonstranten.

Insbesondere die offensichtliche Standardpraxis der deutschen Polizei, ungehorsame, aber gewaltlose Demonstranten mit Gewalt zu Boden zu zwingen oder zu werfen, verstößt gegen das Gebot der abgestuften Gewaltanwendung und birgt unnötige und unverhältnismäßige Risiken von Körperverletzungen sowie unnötige Demütigungen.

Obwohl solche Praktiken auf grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und in einigen Fällen sogar auf Folter hinauslaufen, lassen die Reaktion der Regierung Ihrer Exzellenz auf den in meiner Mitteilung angesprochenen Fall 1 sowie die persönlichen Gespräche mit hochrangigen Polizeibeamten über das Videomaterial eines anderen Falles (siehe Erörterung von Fall 8 unten) auf eine konsequente Fehlinterpretation der Erfordernisse von Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit und Vorsorge schließen.

Konkret zeigen viele Videosequenzen, aber auch Erklärungen meiner direkten Gesprächspartner bei der Polizei, Einsatzregeln, die schwerwiegende Risiken für die körperliche Unversehrtheit und die Menschenwürde außer Acht lassen und oft übertriebenen oder spekulativen Sicherheitsbedenken fast uneingeschränkten Vorrang einräumen, sowie formalistische Forderungen nach absolutem Gehorsam, auch in Fällen, in denen der Zweck oder die Berechtigung von polizeilichen Anweisungen fraglich sein könnten.

Ich möchte daher die Gelegenheit nutzen, um an die wesentlichen Grundsätze für die Anwendung von Gewalt durch Strafverfolgungsbeamte zu erinnern:

Rechtmäßiger Zweck: Je nach den rechtlichen und faktischen Umständen in einer bestimmten Situation können rechtmäßige Strafverfolgungsmaßnahmen durchaus Zwecke wie die Verhinderung der Durchbrechung von Polizeikordons durch Demonstranten, die Freigabe der Durchfahrt für Polizeifahrzeuge, die Durchsetzung der Verpflichtung zur sozialen Distanzierung und zum Tragen von Gesichtsmasken oder die Auflösung rechtswidriger Versammlungen umfassen. Zwar kann es auch legitim sein, zur Verteidigung der eigenen Person oder anderer Personen gegen rechtswidrige Angriffe und anderes unrechtmäßiges Verhalten sowie zur Durchsetzung der Rechtsordnung im Allgemeinen Gewalt anzuwenden, doch dürfen einzelne Beamte der Strafverfolgungsbehörden unter keinen Umständen rechtmäßig Gewalt oder Zwang zu reinen Straf- oder Vergeltungszwecken anwenden, auch nicht als Reaktion auf respektloses, provozierendes oder sogar unrechtmäßiges Verhalten. Beamte der Strafverfolgungsbehörden müssen jederzeit eine professionelle Einstellung und ein professionelles Verhalten an den Tag legen, das der öffentlichen Macht und dem Vertrauen, das ihnen entgegengebracht wird, angemessen ist.

Erforderlichkeit: Auch wenn Strafverfolgungsbeamte einen rechtmäßigen Zweck verfolgen, dürfen sie nur dann auf Gewalt und Zwang zurückgreifen, wenn und solange dieser Zweck nicht durch weniger schädliche Mittel erreicht werden kann. Selbst wenn die Anwendung von Gewalt grundsätzlich notwendig ist, können Art und Ausmaß der Gewaltanwendung nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung eines rechtmäßigen Zwecks erforderlich ist, und sie dürfen zeitlich nicht über den Zeitpunkt der Zielerreichung hinausgehen. So darf beispielsweise ein Demonstrant, dessen vermutetes oder tatsächliches Fehlverhalten durch eine Vorwarnung, einen verbalen Befehl oder eine abgestufte Gewaltanwendung wirksam angegangen werden kann, nicht gewaltsam gestoßen, zu Boden geworfen, geschlagen oder mit Reizstoffen besprüht werden; und ein wehrloser Demonstrant, der zurückgehalten oder anderweitig eindeutig überwältigt wurde, darf nicht mehr geschlagen oder im Würgegriff gehalten werden, selbst wenn er sich zuvor gewalttätig, unrechtmäßig oder respektlos verhalten hat.

Verhältnismäßigkeit: Selbst wenn die Anwendung von Gewalt durch Strafverfolgungsbeamte zur Erreichung eines rechtmäßigen Zwecks erforderlich ist, kann sie nicht die Zufügung von Schmerzen, Leiden oder anderen Schäden rechtfertigen, die im Vergleich zur Bedeutung des zu erreichenden rechtmäßigen Zwecks als unverhältnismäßig angesehen werden müssen. Unter bestimmten Umständen kann die Durchsetzung von Vorschriften zur Verhinderung potenziell lebensbedrohlicher Infektionen die Anwendung maßvoller und abgestufter körperlicher Gewalt rechtfertigen, wie z. B. die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, nicht aber die Anwendung exzessiver Gewalt, die zu Risiken führen kann, oder die Zufügung von Schmerzen, Leiden und Verletzungen, die in keinem Verhältnis zu der unmittelbaren Gefahr stehen, die von der betreffenden Person ausgeht, gegen das Verbot der Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstoßen oder mit dem Schutz des Rechts auf Leben nicht vereinbar sind. Unter bestimmten Umständen kann dies bedeuten, dass Strafverfolgungsbeamte die Durchsetzung des rechtmäßigen Zwecks ihrer Mission aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ablehnen müssen.

Vorsichtsmaßnahmen: Beamte der Strafverfolgungsbehörden müssen ihre Einsätze stets so planen, vorbereiten und durchführen, dass der Rückgriff auf unnötige, unverhältnismäßige oder anderweitig ungesetzliche Gewalt oder Nötigung so weit wie möglich vermieden oder minimiert wird. Dazu gehört, dass Strafverfolgungsbeamte einen abgestuften Ansatz bei der Anwendung von Gewalt verfolgen, dass sie deeskalierende Maßnahmen anwenden und dass sie Personen und Umstehenden, die durch Zwangsmaßnahmen verletzt oder anderweitig beeinträchtigt wurden, Schutz und medizinische Versorgung bieten. Bei Strafverfolgungsmaßnahmen müssen die Risiken, die sich aus der Anwendung von Gewalt gegen schutzbedürftige Personen wie Kinder, Frauen, ältere Menschen oder Menschen mit Behinderungen ergeben, angemessen berücksichtigt werden.

Nichtdiskriminierung: Bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben, einschließlich der Überwachung von Versammlungen, dürfen Strafverfolgungsbeamte niemanden aufgrund von Rasse, ethnischer Zugehörigkeit, Hautfarbe, Geschlecht, sexueller Orientierung, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Behinderung, Vermögen oder Geburt oder anderer ähnlicher Kriterien diskriminieren. Dies gilt auch für kritische Stellungnahmen zur Politik der Regierung als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie, zu Umweltfragen, zur Wohnungsnot oder zu anderen öffentlichen Kontroversen.

6. Neue Vorwürfe wegen übermäßiger Gewaltanwendung

Im Anschluss an meine Mitteilung vom 25. August 2021 (AL DEU 6/2021) gehen bei meinem Mandat weiterhin Zeugenaussagen von Opfern und Videobeweise ein, die neue Fälle von Polizeibrutalität dokumentieren, die demselben Muster folgen wie die ausgewählten Fälle in meiner ersten Mitteilung. Als Beispiel sollen zwei besonders aufschlussreiche Fälle als Fälle 8 und 9 beschrieben werden, die die Fälle 1 bis 7, die ich in meiner ursprünglichen Mitteilung dargelegt und in diesem Schreiben präzisiert habe, ergänzen und veranschaulichen.

Fall 8: Gewaltlose Frau und Männer bei Identitätskontrolle brutal angegriffen[5] (Berlin)

Nach direkt von der Berliner Polizei bestätigten Informationen soll es am 29. August 2021 am Rande einer nicht genehmigten Demonstration in Berlin zu einem mutmaßlichen Vorfall von übermäßiger Gewalt gekommen sein, bei dem bei einer routinemäßigen Kontrolle der Fahrzeugpapiere die Beifahrerin des Fahrzeugs, eine gewaltlose Frau, die sich verbal bei den Polizeibeamten beschwert hatte, unnötigerweise bewusst schmerzhaften Methoden körperlicher Nötigung (erzwungenes Heben durch »Nasengriff« durch drei männliche Beamte) ohne vernünftige Rechtfertigung ausgesetzt wurde, während ihr Ehemann und ein Freund, die versuchten, einzugreifen und die Frau in einem Versuch legitimer Selbstverteidigung zu schützen, brutal zu Boden geschlagen wurden. Nach dem Videomaterial lauten die ID-Nummern von fünf der sechs beteiligten Polizeibeamten: BE 15310; BE 15314; BE 15315; BE 15316; BE 15317. Ich hatte Gelegenheit, die Videobeweise zu diesem Fall in einem längeren Telefongespräch mit leitenden Beamten der Berliner Polizei persönlich zu besprechen. Trotz des überzeugenden Videomaterials und einer ausführlichen Erörterung der geltenden internationalen Normen für die Anwendung von Gewalt zeigten meine Gesprächspartner eine starke Voreingenommenheit, als sie versuchten, diesen offensichtlichen Fall exzessiver Polizeigewalt durch Verweis auf völlig spekulative Szenarien zu verharmlosen, indem sie insbesondere behaupteten, dass die Frau, die sich völlig gewaltlos verhalten hatte und weder verhaftet noch einer Straftat verdächtigt wurde, möglicherweise eine »Bedrohung« darstellen könnte, möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt zu einer »Bedrohung« hätte werden können oder möglicherweise versucht haben könnte, vom Tatort zu »fliehen« und deshalb mit »allen Mitteln« physisch gesichert werden musste, einschließlich des absichtlich schmerzhaften »Nasengriffs«, der ihr von drei männlichen Beamten gleichzeitig auferlegt wurde, um sie unnötigerweise auf die Beine zu zwingen, anstatt sie freiwillig neben ihrem Auto auf dem Boden sitzen zu lassen. Ich bin der Meinung, dass diese absichtliche Zufügung von schweren Schmerzen und Demütigung einer wehrlosen Person zum Zwecke völlig ungerechtfertigter Nötigung (d.h. unnötig, unverhältnismäßig und nicht einem rechtmäßigen Zweck dienend), wenn auch am unteren Ende des Intensitätsspektrums, bereits alle definierenden Elemente von Art. 1 CAT und stellt daher Folter oder zumindest eine andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dar.

Fall 9: Festgenommener, gewaltloser und wehrloser Demonstrant wird von einem begleitenden Beamten absichtlich in sein ungeschütztes Gesicht »getreten«.[6] (Berlin)

Während nicht genehmigter Proteste in Berlin am 29. August 2021 wurde ein gewaltloser und wehrloser Mann von einem begleitenden Beamten (ID: BE 11100) brutal ins Gesicht »getreten«, während er von zwei anderen Beamten sicher transportiert und an seinen Armen gehalten wurde. Keiner der anderen Beamten versuchte, diesen brutalen Akt zu verhindern oder das Opfer zu schützen. Wie aus dem Videomaterial eindeutig hervorgeht, wird diese Gewalttat vorsätzlich gegen eine wehrlose Person verübt und verfolgt absolut keinen legitimen Zweck. Es handelt sich daher eindeutig um einen Akt der Folter im Sinne von Art. 1 CAT, und jedes Versäumnis, sofortige Ermittlungen durchzuführen und die Verantwortlichen strafrechtlich zu verfolgen, würde Anlass zu ernsthaften Bedenken hinsichtlich Duldung, Zustimmung und Mittäterschaft geben.

7. Neue Vorwürfe im Zusammenhang mit Überwachung

Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BfV) hat am 15. Juni 2021 eine bundesweite Observation gegen die »antidemokratische und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates« durch »gewaltbereite Rechtsextremisten« angekündigt[7], wobei er sich auf die Gruppe »Querdenken« bezog, die als Hauptorganisator der Proteste gegen COVID-19-Maßnahmen und behördliche Auflagen gilt.

Ich bin besorgt, dass das angekündigte Überwachungsprogramm Demonstranten, die gegen die COVID-Maßnahmen protestieren, einem höheren Risiko von Repressalien oder präventiven Sicherheitsmaßnahmen auszusetzen scheint und daher Opfer von Polizeibrutalität einschüchtern und davon abhalten könnte, bei den zuständigen Behörden Strafanzeige zu erstatten.

Besonders beunruhigt bin ich über die Ankündigung solcher Maßnahmen, bei denen nicht zwischen gewalttätigen extremistischen Gruppen und gewaltlosen Demonstranten unterschieden wird, die lediglich ihr Recht auf Meinungsfreiheit ausüben.

Eine solche wahllose öffentliche Bloßstellung, Diffamierung und Stigmatisierung kann ungerechtfertigte Ängste, Stress, Scham und Schuldgefühle hervorrufen und dazu führen, dass den Opfern aufgrund von Einschüchterung, Angst vor Überwachung und anderen Formen von Repressalien, die nicht mit den Menschenrechten vereinbar sind, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Rehabilitierung verweigert werden.

Im Zusammenhang mit den oben genannten Vorwürfen und Bedenken verweisen wir auch auf den diesem Schreiben beigefügten Anhang über den Verweis auf internationale Menschenrechtsnormen[8], in dem die für diese Vorwürfe relevanten internationalen Menschenrechtsinstrumente und -standards aufgeführt sind. […][9]

Nils Melzer, Sonderberichterstatter über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe.


Anmerkungen:


  1. Quelle des englischen Berichts: https://spcommreports.ohchr.org/TmSearch/Results. Dokument DEU 2/2022 (direkter Download). Früherer Bericht: DEU 6/2021 (direkter Download). Netzseite des Berichterstatters: https://www.ohchr.org/en/special-procedures/sr-torture. Die hinhaltende Antwort der Bundesregierung auf den zweiten Bericht Melzers erfolgte am 31. Mai 2022 (direkter Download).
  2. Melzers Berichte sind an die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland beim Büro der Vereinten Nationen und bei den anderen internationalen Organisationen in Genf gerichtet, die durch die Botschafterin Katharina Stasch wahrgenommen wird, daher die Anrede Exzellenz. Siehe https://genf.diplo.de/genf-de/botschaft/-/1685960 .
  3. »Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment« (CAT). Die Konvention ist ein internationaler Menschenrechtsvertrag, der 1984 verabschiedet wurde. Siehe: https://digitallibrary.un.org/record/74216?ln=en
  4. https://www.polizei.bayern.de/aktuelles/pressemitteilungen/022003/index.html
  5. Videobeweis: geschwärzt.
  6. Videobeweis: geschwärzt.
  7. https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/reden/DE/2021/statement-haldenwang-vorstellung-des- verfassungsschutzberichts-2020.html
  8. Hier weggelassen.
  9. Abschließende Bemerkungen hier weggelassen.

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