Designerbabys und die »Verhütung erbkranken Nachwuchses«

Zuletzt aktualisiert am 12. Juni 2013.

Was die Nationalsozialisten mit rüden Zwangsmethoden anstrebten, erledigen wir heute schnell, elegant und freiwillig.

Gattaca © Columbia Pictures Corporation

Am 25. Juli 1933 wurde das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« veröffentlicht, am 1. Januar 1934 trat es in Kraft. Paragraph 1 des Gesetzes bestimmte: »Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.« »Erbkrank« im Sinne des Gesetzes war, wer an einer der folgenden Krankheiten litt: »angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres (manisch-depressives) Irresein, erbliche Fallsucht (Epilepsie), erblicher Veitstanz (Chorea Huntington), erbliche Blindheit, erbliche Taubheit und schwere erbliche körperliche Missbildung.« Auch »schweren Alkoholismus« führte das Gesetz als Grund für eine Sterilisierung an. Bis Mai 1945 wurden auf Grundlage dieses Gesetzes mindestens 400.000 Menschen zwangssterilisiert. Rund 7.000 Menschen starben infolge der damals durchgeführten Eingriffe.

Die Methoden waren rüde, aber ihre Anwendung konsequent. Wenn das höchste öffentliche Gut die Rassengesundheit war, musste diese mit allen verfügbaren Mitteln durchgesetzt werden. Das Sterilisationsprogramm war ein kleiner Teil eines ganzen Bündels von Maßnahmen, mit denen die Nationalsozialisten versuchten, ihre damals als wissenschaftlich geltenden anthropologischen Ansichten politisch umzusetzen. Den Anfang machte im April 1933 das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«, das »Nichtarier« aus dem öffentlichen Dienst entfernte, 1935 folgten die Nürnberger »Rassengesetze«, die Ehen und den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden unter Strafandrohung stellten. 1939, nach Kriegsbeginn, wurde das Euthanasieprogramm mit behinderten Kindern in Angriff genommen, das bald auf erwachsene »Geisteskranke« ausgedehnt wurde. Die massenhafte Vernichtung »lebensunwerten Lebens« war nur ein Teilaspekt der »rassenhygienischen« Maßnahmen, die darauf abzielten, alle »rassenschädlichen« Bestandteile aus dem Volkskörper »auszumerzen«. Ihren Höhepunkt erreichte diese unmenschliche Politik mit der sogenannten »Endlösung der Judenfrage«.

Die ideologischen Grundlagen für das Sterilisierungs-Gesetz wurden bereits vor der Machtergreifung der NSDAP von einer Gilde von Wissenschaftlern in weißen Kitteln geschaffen, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts versuchten, auf die Politik Einfluss zu nehmen. Das preußische Gesundheitsamt hatte 1932 einen entsprechenden Gesetzesentwurf ausarbeiten lassen. An ihm wirkten führende deutsche Eugeniker mit – unter anderem Hermann Muckermann, Arthur Ostermann und Richard Baruch-Benedikt Goldschmidt. Muckermann war Mitglied der von Alfred Ploetz gegründeten »Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene«, gehörte 1930 zu den Mitbegründern der Zeitschrift »Eugenik« und wirkte von 1927 bis 1933 als Abteilungsleiter am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie in Berlin. Goldschmidt war schon 1914 als Abteilungsleiter für Genetik der Tiere an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie nach Berlin berufen und 1919 zum zweiten Direktor des Instituts ernannt worden. 1935 wurde er wegen seiner jüdischen Abstammung von den Nationalsozialisten ausgebürgert und emigrierte in die USA. Dort wurde er im selben Jahr zum Professor für Genetik und Zytologie an die Universität Berkeley berufen. Arthur Ostermann war Ministerialrat im preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt während der Zeit der Weimarer Republik. Er trug maßgeblich zur Popularisierung eugenischer und rassenhygienischer Vorstellungen bei.

Rudolf Steiner kommentierte 1917 das Projekt der Eugenetik aus esoterischer Sicht. In einem Vortrag über den »Sturz der Geister der Finsternis« führte er aus: »Da hat es eine Wissenschaft gegeben, die im Jahre 1912 in London begründet worden ist, eine ganz neue Wissenschaft: Eugenetik. Man hat ja gewöhnlich hochtrabende Namen gerade für das, was an sich am dümmsten ist. Die Ideen dieser Eugenetik, die gingen eigentlich aus den Gehirnen, nicht aus den Seelen der Menschen hervor. Was will diese Eugenetik? Sie will Einrichtungen treffen, so dass künftighin nur ein gesundes menschliches Geschlecht gezeugt wird, dass nicht minderwertige Individuen gezeugt werden, will nach und nach durch die Verbindung von Nationalökonomie und Anthropologie Gesetze finden, um Männer und Frauen durch Gesetze so zusammenzubringen, dass ein möglichst starkes Geschlecht zustande kommt.

Ja, über diese Dinge fängt man schon an durchaus nachzudenken. Das Ideal dieses Kongresses, dem der Sohn Darwins vorgesessen hat, bestand darin, verschiedene Gesellschaftsklassen daraufhin zu untersuchen, wie groß der Schädel ist bei den Reichen, wie groß der Schädel ist bei den Armen, die weniger lernen können, wie groß die Empfindungsfähigkeit bei den Reichen, wie groß die Empfindungsfähigkeit bei den Armen ist, wie stark der Widerstand ist, den die Reichen der Ermüdung entgegenbringen können, wie stark der Widerstand ist, den die Armen der Ermüdung entgegenbringen können und dergleichen mehr. Und nun versucht man, auf diese Weise Ansichten zu gewinnen über die menschliche Körperlichkeit, die vielleicht einmal in der Zukunft dazu führen können, dass man genau aufstellt: so muss er aussehen, so muss sie aussehen, wenn es einen richtigen Zukunftsmenschen geben soll; solch einen Grad von Ermüdungsfähigkeit muss er haben, solch einen Grad von Ermüdungsfähigkeit muss sie haben, solch eine Schädelgröße bei ihm, dazu eine passende Schädelgröße bei ihr und so weiter.

Das ist ein Rumoren, ein natürliches Rumoren in den von den Seelen leer gewordenen Gehirnen, ein Rumoren derjenigen Ideen, die eine Realität in der atlantischen Zeit hatten. Da war es wirklich so, dass es gewisse Gesetze gab, durch welche die Menschen Größe, Wachstum und alles mögliche durch Kreuzen, Überkreuzen und dergleichen bewirken konnten. Das war dazumal eine Art von Wissenschaft, eine ausgebreitete Wissenschaft, die … gerade im atlantischen Zeitalter so sehr missbraucht worden ist. Diese Wissenschaft, die aus der Verwandtschaft der Körperlichkeit heraus arbeitete, wusste: Wenn man solch einen Mann mit solch einer Frau — und Mann und Frau waren in der damaligen Zeit wesentlich verschiedener als heute — zusammenbringt, entsteht ein solches Wesen, und dann kann man wiederum, so wie es heute der Pflanzer macht, variieren.

Die Mysterien haben dann aus diesem Sich-Kreuzen, aus diesem Zusammenbringen des Verwandten und Verschiedenen Ordnung gemacht; sie haben Gruppen gebildet und der Menschheit entzogen, was ihr entzogen werden musste. Es entstand aber wirklich schwärzest-magischer Unfug durch das, was da im atlantischen Zeitalter getrieben worden ist …

Und auf diese Weise sind … die heutigen Rassen entstanden. Das hat mitgewirkt bei der Bildung der heutigen Rassen. … Aber es spricht nur die Körperlichkeit. Die  zurückgezogene Geistigkeit gehört heute schon einer ganz andern Welt an. … Das kann niemals deshalb zu einem Heil führen, sondern muss immer und immer wieder in das Chaos hineinführen … weil die Seele ganz andern Ordnungen und ganz andern Zusammenhängen angehört, als diejenigen sind, die sich im leiblichen Wesen ausdrücken. Das sind alles Dinge, die gewusst werden müssen, die aber nur durch die Geisteswissenschaft gewusst werden können. Dieses Rumoren in den von den Seelen leer gewordenen Gehirnen, das ist die Ursache davon, dass in der heutigen Zeit solche Bestrebungen auftauchen, die den Menschen nach gewissen Gesetzen gestalten wollen.« (GA 177, »Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis«, Dornach, 7. Oktober 1917, S. 84-86)

Der preußische Entwurf sah eine Sterilisation auf freiwilliger Basis vor. Obwohl er breite Unterstützung genoss, erlangte er infolge des politischen Umsturzes keine Gesetzeskraft mehr. Die Nationalsozialisten knüpften an den preußischen Entwurf an und verschärften ihn. Sie führten die Zwangssterilisation ein.

Die Genetik hat den eingangs erwähnten Katalog des »Gesetzes zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses« inzwischen erheblich erweitert. Nach einem Artikel, der jüngst im Fachjournal »Science Translational Medicine« veröffentlicht wurde, gibt es mehr als 3.000 »Störungen«, die auf der Veränderung eines Gens beruhen, darunter Mukoviszidose, Chorea Huntington oder eine »höhere Anfälligkeit für Krebs«. Von solchen »Störungen« sei etwa ein Prozent der Neugeborenen betroffen.

Die Verfasser des Artikels, ein Team von Wissenschaftlern der Universität Washington, haben mit Hilfe der Blutprobe einer schwangeren Mutter und einer Speichelprobe des Vaters das Genom ihres ungeborenen Kindes entschlüsselt. Die Wissenschaftler haben eine Schwangere in der 18./19. Schwangerschaftswoche untersucht und mit Hilfe der Statistik Rückschlüsse auf das Erbgut des Fötus gezogen. Später verglichen sie ihre Ergebnisse mit dem Genom im Nabelschnurblut des Neugeborenen. Die Untersuchung wiederholten sie bei einem weiteren Paar zu einem früheren Zeitpunkt der Schwangerschaft. Nach ihrer Aussage entdeckten sie 39 von 44 neu entstandenen Mutationen, als das Kind noch ein Fötus war.

Die Methode, die bald marktreif sein dürfte, macht risikoreiche Untersuchungen des Fruchtwassers oder Gewebeproben aus der Plazenta überflüssig, die im Jahr 2009 in Deutschland rund 30.000 mal durchgeführt wurden, obwohl sie in mindestens einem von 200 Fällen zu Fehlgeburten führen. Untersuchungen, die sich auf die Zeit zwischen 1988 und 1997 beziehen, zeigen, dass nur 5 bis 10 Prozent der Schwangeren, an deren Kindern durch pränatale Untersuchungen ein mögliches Down-Syndrom diagnostiziert wurde, diese Kinder austrugen. Ein nichtinvasives Screening auf das Downsyndrom, das in den USA bereits auf dem Markt ist, soll demnächst auch in Deutschland eingeführt werden. Nimmt man die Selektionsmöglichkeiten hinzu, welche die Präimplatationsdiagnostik bietet, ergibt sich das Bild einer Tendenz hin zur freiwilligen Umsetzung dessen, was die Nationalsozialisten mit Zwangsmaßnahmen erreichen wollten.

Die Ziele der »negativen« und der »positiven« Eugenik fließen heute im markgesteuerten wissenschaftlichen Fortschritt zusammen: die Vermeidung des Unerwünschten und die Herbeiführung des Gewünschten. Wir benötigen keinen Staat mehr, der uns zwangssterilisiert, wir nutzen wissenschaftliche Methoden, um uns freiwillig gegen Nachwuchs zu entscheiden, der unseren Kriterien des »lebenswerten Lebens« nicht entspricht oder die Beschaffenheit des Nachwuchses zu bestimmen, den wir mit Hilfe künstlicher Methoden erzeugen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die wissenschaftlichen Möglichkeiten und individuellen Wünsche in sozialen und möglicherweise politischen Zwang umschlagen. Wenn immer mehr Menschen von den immer günstiger werdenden Methoden der Früherkennung Gebrauch machen, erhöht sich der Druck auf die Krankenkassen, die entsprechenden Screenings zu bezahlen. Und wenn diese erst von den Krankenkassen bezahlt werden, wird die Verpflichtung zu solchen Untersuchungen nicht ausbleiben. Von der Pflicht zur Diagnose ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Pflicht zur Verhütung »erbkranken« Nachwuchses.

Die Argumente, die für die Verhütung »erbkranken« Nachwuchses ins Feld geführt werden, sind bereits alle auf dem Tisch: humanitäre, ökonomische, freiheitstheoretische. Niemand, so wird behauptet, kann das Leid der Eltern und Kinder wünschen, die von einer Erbkrankheit betroffen sind. Die Kosten für die Betreuung und Therapie erbkranker Menschen sind vermeidbar und sollten im Interesse der Allgemeinheit vermieden werden. Die individuelle Freiheit, die »reproduktive Autonomie« potentieller Eltern, schließt das Recht ein, über die Beschaffenheit des Nachwuchses selbst zu bestimmen. Von einem utilitaristischen Standpunkt aus, der den größtmöglichen Nutzen mit den geringsten Kosten erreichen will, lässt sich gegen diese Argumente nichts einwenden. Vom selben Standpunkt aus wird auch die Forderung nach einem »sozialverträglichen Ableben« gerechtfertigt. Warum soll sich eine Gesellschaft mit den immensen Kosten belasten, die durch die Pflege Dementer und unheilbar Kranker entstehen? Ist es nicht humaner, dieses jahrelange Leiden durch Euthanasie zu beenden?

Solange man die ideologischen Voraussetzungen des Utilitarismus nicht in Frage stellt, wird man seiner Logik nicht entkommen. Nur wenn man den auf die Vermeidung von Leid und Kosten fixierten Blick in die andere Richtung wendet, wird die ganze Dimension der Wirklichkeit sichtbar. Dem Leid steht die Liebe und Zuwendung gegenüber, die in der Auseinandersetzung mit diesem Leid entwickelt werden, den vermiedenen Kosten die sozialen Kohäsionskräfte, die durch die Pflege »ineffizienter Existenzen« entstehen, der »reproduktiven Autonomie« der Eigenwille des Lebens, das geboren werden will. Eine utilitaristisch durchorganisierte Gesellschaft wäre eine vollkommen lieblose und bindungslose Gesellschaft. Menschliche Moralität entwickelt sich nicht aus Nutzen und Effizienz, sondern gegen diese. Die Vorstellung, alles Leid ließe sich aus der Welt schaffen, wenn man diese nur effizient genug organisiert, ist ohnehin eine komplette Illusion. Tiefe und Substanz erlangt der Mensch nur durch die Auseinandersetzung mit erfahrenem Leid, mit durchlebtem Schmerz. Ließe sich ein Leben ohne Leid schaffen, wäre es vollkommen oberflächlich und substanzlos. Das Leid und der Schmerz eröffnen die Dimension der Transzendenz, sie machen die Endlichkeit und Vergänglichkeit menschlichen Daseins bewusst und fordern uns dazu heraus, nach einem Lebensinhalt zu suchen, der mehr als endlich ist. Und allein am Leid entzündet sich das Mitleid, die Einfühlung, die Liebe, die mehr als Selbstbefriedigung ist. Eine leidlose Gesellschaft müsste im kollektiven Autismus versinken.

Der Humangenetiker Wolfram Henn, ein Mitglied des deutschen Ethikrates, kommentiert die Publikation der amerikanischen Wissenschaftler mit den Worten: »Die Veröffentlichung ist der Beweis, dass es prinzipiell technisch möglich ist, sämtliche genetischen Informationen eines Menschen schon vor der Geburt zu ermitteln, ohne das Kind anzutasten und zwar inklusive verdeckter Anlagen, die erst in der übernächsten Generation zum potenziellen Auftreten von Erbkrankheiten führen können. Aus technologischer Sicht ist es der Heilige Gral der Genomanalyse, aus ethischer Sicht aber ist es sehr problematisch, Eltern das komplette Genom ihres Kindes schon vor der Geburt zu offenbaren. Wer darf zu welchem Zeitpunkt welche genetischen Informationen erhalten – nicht nur über Krankheitsanlagen, die schon in der Kindheit bedeutsam sind, sondern auch über erst spät auftretende Krankheiten wie erblichen Darmkrebs oder sogar Eigenschaften ohne Krankheitswert, zum Beispiel Sportlichkeit?«

Aber die entscheidende Frage ist nicht: Wer darf zu welchem Zeitpunkt welches Wissen erhalten? Die entscheidende Frage lautet: Welche Handlungen dürfen wir mit diesem Wissen rechtfertigen?

Orginal-Artikel in der Zeitschrift »Science Translational Medicine«:
Noninvasive Whole-Genome Sequencing of a Human Fetus

Artikel im SPIEGEL:
http://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/erbgut-test-forscher-entziffern-embryo-genom-aus-dna-der-eltern-a-837330.html

in Die ZEIT:
http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2012-06/embryo-dna-erbgut-analyse

in der FAZ:
http://www.faz.net/aktuell/wissen/mensch-gene/genomanalyse-der-doktor-und-der-liebe-embryo-11778209.html

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