Zuletzt aktualisiert am 12. Dezember 2015.
Von Tugenden zu sprechen, gilt heute als antiquiert. Aber als denkendes Wesen kann der Mensch nicht auf Ideen verzichten, an denen er sein Handeln ausrichtet. Die Frage ist nur, was für Ideen das sind.
In einer aufgeklärten Gesellschaft ist die Neigung nicht allzu verbreitet, von Tugenden zu reden. Tugend klingt nach Moral, nach Religion – und das hat wenig mit Effizienz, Wissenschaft oder Nützlichkeit zu tun. Wir sind stolz auf unsere Freiheit, tun und lassen zu können, was wir wollen. Niemand darf vorschreiben, wie wir zu leben haben. Toleranz gegenüber abweichenden Lebensformen steht hoch im Kurs. Unter einer liberalen Gesellschaft verstehen wir eine Gesellschaft, die sich offen zu allem bekennt, was außerhalb der Normen liegt – solange es auch nur einigermaßen tolerabel ist. Allgemein verbindlich sollen keine moralischen Normen sein, nur Gesetze, und was von diesen nicht verboten wird, dürfen wir tun. Diesem Bekenntnis zur Liberalität steht ein erstaunliches Maß an moralischer Empörungsbereitschaft gegenüber, das sich an manchen Handlungsweisen entzündet, die als »verächtlich« gelten.
Hier legen wir hohe moralische Maßstäbe an – wie sonst ließe sich die öffentliche Entrüstung erklären, die Politiker hervorrufen, die sich ihre akademischen Würden erschlichen haben oder Wirtschaftsbosse, die sich trotz hoher Verluste, für die sie verantwortlich sind, gigantische Boni genehmigen?
Der Widerspruch zwischen Denken und Handeln
Werfen wir einen Blick auf die großen Krisen unserer Tage, fallen uns aber krasse Widersprüche zwischen Denken und Handeln auf: Während wir die Gier der Banker geißeln, die beinahe zum Kollaps des Weltfinanzsystems geführt hat, bejahen wir doch eine Ökonomie, deren oberstes Ziel die Gewinnmaximierung ist. Hier die moralische Frage aufzuwerfen, öffnet ein Fass ohne Boden, denken wir nur an solche Wirtschaftszweige wie die Waffen-, Pharma- oder Drogenindustrie. Während wir uns vor dem Zusammenbruch unserer Ökosysteme fürchten, lieben wir die Bequemlichkeit und den Luxus, deren Voraussetzung der besinnungslose Ressourcen- verbrauch ist, der eben diesen Zusammenbruch herbeiführen wird. Dieser Wohlstandsnorm ist nicht zu entkommen, sie ist strukturell, selbst die gesellschaftlich »Armen« sucht er in Gestalt von Elektrifizierung und heißen Duschen heim. Während wir alle gesund und glücklich sein wollen, verhalten wir uns in unserem täglichen Leben doch so, dass wir krank und unglücklich werden: Wir integrieren uns in ein System, das uns keine Zeit zur Erholung und Besinnung lässt, das uns zwingt, jene Freiheit zu opfern, der unsere Gesellschaft doch angeblich verpflichtet ist. Da wir Teil eines größeren Ganzen sind, das wir nicht beeinflussen können, ist den Widersprüchen und Aporien des globalen Blicks nicht zu entkommen.
Jeder Versuch, »die Welt« besser zu machen, vorausgesetzt wir halten sie für schlecht, ist prinzipiell zum Scheitern verurteilt. Was bleibt uns also anderes, als uns selbst zu bessern? Vielleicht tragen wir auf diese Weise zur Heilung des Patienten Menschheit bei, der immer kränker wird, je mehr er versucht, sich zu therapieren.
Fragen wir radikal genug?
Das Nachdenken über Tugend setzt voraus, dass wir bereit sind, radikale Fragen zu stellen, die einst in die Domäne der Philosophie fielen. Zum Beispiel die Fragen: »Was will ich eigentlich?« »Worin sehe ich den Sinn meiner Existenz?« Aber wer hat denn heute überhaupt Zeit, sich solche Fragen zu stellen? Inmitten des täglichen Gewühls von Verpflichtungen und aufgedrungener Aktivitäten, die unsere Muße auffressen, in der allein wir zur Besinnung kommen könnten? Die Lebensbeobachtung zeigt, dass solche Fragen besonders in der Jugend auftreten, früher wurden sie auch während der Studentenzeit bewegt, als es noch kein Bologna-System gab. Aber lassen sie sich auf ein bestimmtes Lebensalter begrenzen? Können wir allen Ernstes behaupten, die Frage nach dem Sinn des Lebens sei ein Privileg der Jugend und als Fünfzigjährige hätten wir keine Zeit für solchen Unsinn? Fragen wir nach dem, was wir wirklich wollen, müssen wir uns auf einen Standpunkt jenseits dessen stellen, was die Gesellschaft oder die Bedürfnisse von uns verlangen. Der Leib benötigt keine Tugend, er ist, was er ist. »Die Gesellschaft« ist eine bequeme Ausflucht für jene, die der Unbequemlichkeit dieser Frage entkommen wollen.
Die Frage nach der Tugend ist eine Frage nach der Mitte unserer Seele, nach dem Kern unserer geistigen Existenz. Eine Frage, die über den täglichen Konkurrenzkampf und das Kompetenzgerede hinauszielt, das voraussetzt, sie sei immer schon beantwortet. Um sie beantworten zu können, müssen wir in tiefere Schichten unseres Wesens vorstoßen, wir müssen den Schutt bedeutungsloser Informationen und zerstreuender Ablenkungen beiseite räumen, um zu unserem Urbild vorzudringen. Nach diesem Urbild können wir auch in unserem kollektiven Gedächtnis suchen, in dem die Erinnerung an eine Zeit verschüttet ist, für die nicht der tägliche Konkurrenzkampf im Vordergrund stand, sondern das, was ewig gilt.
Die Tugenden sind die Engel unserer Seele
Diese Zeit, die sogenannte Vormoderne, fasste Tugend als unmittelbaren Ausdruck des Menschenwesens auf, als Urbild der Seele und Vorbild des Geistes. Sie imaginierte die Tugenden als die Engel unserer Seele. Jeder Seelenkraft ordnete sie einen Engel zu, dem diese Seelenkraft zustrebte. Inmitten der Fluten des Begehrens sah diese Zeit den Engel der Mäßigung stehen, der dessen mäandrierenden Strom in geordnete Bahnen lenkt.
Aus den Gefühlskräften, die zwischen Furcht und Hingabe schwanken, leuchtete ihr der Engel des Mutes entgegen. Über das endlose Hin und Her der Meinungen und wechselnden Wahrheitsüberzeugungen erhob sich der Engel der Weisheit. Im Zentrum der Seele aber, über alle anderen wachend und den Menschen mit seinem ausgleichenden Wesen durchdringend, erhob sich der Engel der Gerechtigkeit.
Stellen wir uns für einen Augenblick vor, die Menschheit wäre ein Leib und eine Seele und sie wäre von diesen Engeln weltumspannend durchdrungen. Herrschte der Engel der Mäßigung im Handeln und Verhalten dieser Menschheit – gäbe es eine Finanz- oder ökologische Krise, gäbe es Ausbeutung, Hunger oder Armut? Wirkte der Engel des Mutes in ihrem Fühlen und verhinderte ein Übermaß an Furcht und Unterwerfung – gäbe es humanitäre Krisen wie Kriege, Bürgerkriege, Unterdrückung oder Terrorismus? Wäre das Vorstellungsleben der Menschheit vom Engel der Weisheit durchdrungen – gäbe es all die Verblendung, all den Hass und die Illusionen, die das Zusammenleben der Völker auf diesem Planeten und das soziale Klima ihrer Gesellschaften ebenso wie das Leben des Einzelnen verdunkeln? Und waltete der Engel der Gerechtigkeit ausgleichend zwischen diesen Seelenkräften und sorgte dafür, dass Mäßigung und Mut von Weisheit geleitet werden, so dass die Mäßigung nicht zur Tyrannei und der Mut nicht zum Übermut wird, käme das Urbild der Menschheit auf der Erde zur Entfaltung.
Ins Gespräch mit den Engeln treten
Da die Menschheit aber aus lauter einzelnen Menschen besteht, liegt es an jedem Einzelnen, ob er ins Gespräch mit diesen Engeln seiner Seele tritt und ihnen Einlass gewährt. Wie geht das? Es ist ganz einfach: imaginieren wir diese Engel mit unserer Vorstellungskraft, sprechen wir sie täglich im Gebet oder der Meditation an, rufen wir sie auf, für uns und mit uns zu wirken. »Du Engel der Mäßigung, gib mir die Kraft, auf alles Überflüssige zu verzichten, was vielleicht wünschenswert ist, aber mich von meinem eigentlichen Wollen ablenkt. Du Engel des Mutes, wandle meine Furcht in Mitgefühl und meine Bereitschaft zur Unterwerfung in erkennende Empathie um, damit ich der Versuchung widerstehe, mich der Verantwortung für meine Mitgeschöpfe zu entziehen und meinen Mitmenschen gebührende Achtung entgegenbringe. Du Engel der Weisheit, befreie mich von den Idolen des Marktes und den Illusionen scheinbarer Erkenntnis, auf dass ich mein eigenes Urbild in mir und anderen erkenne. Du schließlich, Engel der Gerechtigkeit, lass mich den Ausgleich zwischen dem Streben nach Mäßigung, Mut und Weisheit finden, auf dass mein Urbild sich in mir verwirklichen kann.«
Gelingt es uns, auf diese Weise ins Gespräch mit unseren Engeln zu treten, und es gibt niemanden, dessen Bitte nicht erhört würde, wenn er wirklich bittet, dann leuchten am Horizont unserer Seele die Erzengel des Geistes auf, die unser Wesen vollenden, die Erzengel von Glaube, Hoffnung und Liebe. Der Glaube ist der Glaube an unser Selbst, an die Kraft unseres Urbildes und das Vertrauen darauf, dass es sich, wenn wir uns ihm nur intensiv genug zuwenden, in uns entfalten wird. Die Hoffnung ist die Flamme der Zuversicht, die dieser Glaube in uns entzündet, eine zarte Flamme, die still und stetig brennt, aber die Kraft besitzt, die dämonische Finsternis zu vertreiben, die das Licht der Engel unserer Seele verdunkelt. Und die Liebe ist die Krönung unseres Wesens, die Quelle unseres Seins, der Daseinsgrund der menschlichen Existenz. Wir sind nur dort ganz Mensch, wo wir lieben. Weisheit ohne Liebe ist wertlos, Gerechtigkeit ohne Liebe grausam, Mut ohne Liebe zerstörerisch und Mäßigung ohne Liebe gewaltsam.
Tugend – nicht nur in Gedanken
Verdichten wir auf diese Weise durch unsere Imagination moralische Ideale zu Bildern, entfalten sie eine Kraft, die unser ganzes Wesen ergreift und von diesem ausstrahlt. Je mehr wir uns selbst nach diesen geistigen Vorbildern ausrichten, um so mehr werden wir selbst zu Vorbildern, für unsere Mitmenschen, vor allem aber für unsere Kinder. Denn Unmündige erziehen wir durch Vorbilder, Mündige erziehen sich selbst durch Einsicht. Niemanden können wir durch moralische Belehrungen erziehen. Deshalb bleiben auch alle Appelle an die Vernunft wirkungslos, deshalb tun wir das Schlechtere, obwohl wir unter Umständen das Bessere wissen. Solange wir unsere Ideen nicht zu lebensvollen Bildern verdichten, lassen sie uns kalt. So ist der Satz Rudolf Steiners in seinem Buch »Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten« zu verstehen: »Jede Idee, die Dir nicht zum Ideal wird, ertötet in Deiner Seele eine Kraft; jede Idee, die aber zum Ideal wird, erschafft in Dir Lebenskräfte.«
Die Welt, in der wir leben, ist stets ein Abbild der Ideen, die unser Handeln leiten. Die Krise der gegenwärtigen Welt ist eine Krise der Ideen. Die Ordnung der Welt zerfällt, weil die Ordnungsmächte des Denkens, die Ideen zerfallen sind. Unsere Beziehung zu ihnen ist zerfallen. Eine nicht unbedeutende Rolle bei diesem Zerfall kommt unserem Bildungswesen zu. Wo, wenn nicht in ihm, soll die Erinnerung an jene Urbilder gepflegt werden, die unserer irdischen Existenz vorausgehen und zugrunde liegen? Hätte sich unser Bildungswesen nicht an die gesellschaftlichen Mächte preisgegeben, die ihre Dominanz aus dem Verlust der Erinnerung an das Urbild des Menschen schöpfen, wäre es der Ort, an dem die fortwährende Vermenschlichung der Welt im Zentrum stünde. So aber, wie die Dinge stehen, dient es nur den Ideologien des Marktes und der Konkurrenz.
Was also nützt die Tugend in Gedanken? Sie nützt so lange nichts, als sie nicht zur Tugend in Person wird, als sie nicht in unserer Person zur Lebensmacht wird, die unser Leben und das Leben der Gemeinschaft erneuert. Solange wir die Wahrheit eines Satzes, der bald drei Jahrtausende alt ist, nicht aus vollem Herzen bejahen können, solange wird sich am beklagenswerten Zustand der Welt, in der wir leben, die das Abbild unserer selbst ist, nichts ändern. Dieser Satz stammt vom griechischen Weisen Bias und lautet: »Was du Gutes vollbringst, das schreibe den Göttern zu, nicht dir.«