Zuletzt aktualisiert am 10. März 2020.
Ähnlich wie die dritte Meditation des Buches »Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen«, die sich mit der »hellseherischen Erkenntnis der elementarischen Welt« befasste, unterbricht auch die siebente den systematisch aufsteigenden Gang, der sich an den Wesensgliedern des Menschen orientiert, um einen methodischen Exkurs einzuschalten. Der erste Teil dieser Meditation befasst sich mit der Methodik des Übens, den inneren »Verrichtungen« und Erlebnissen, die zur Erfahrung »in den übersinnlichen Welten« hinführen, während der zweite »die Art des Erlebens in übersinnlichen Welten« charakterisiert.
Die Entwicklung höherer Erkenntnisfähigkeiten muss vom gewöhnlichen Seelenleben ausgehen, denn nichts anderes steht dem Menschen zur Verfügung. Die Übungen (Exerzitien) die von der Seele vorgenommen werden, führen zu ihrer Umwandlung. In jeder Seele schlummern höhere Erkenntnisfähigkeiten (»die Kräfte der Selbstentwickelung liegen in jeder Menschenseele«), sie müssen aber zur Entfaltung gebracht werden. Bereits »Wie erlangt man Erkenntnisse …?« begann mit dem Satz: »Es schlummern in jedem Menschen Fähigkeiten, durch die er sich Erkenntnisse über höhere Welten erwerben kann« (Kapitel »Bedingungen«).
Die Beschreibung eines Weges (einer Methode, »μετά ὁδός«, der Weg, der zu etwas hinführt) muss Ausgangspunkt und Ziel miteinander verknüpfen und Orientierungspunkte benennen, die aufeinander verweisen. Im Fall der Erkenntnisschulung ist der Ausgangspunkt das gewöhnliche Bewusstsein, über das jeder Mensch verfügt, das Ziel ein außergewöhnliches Bewusstsein, von dessen Möglichkeit im Lauf der Menschheitsgeschichte viele gezeugt haben. Auch die Idee eines Weges, der vom einen zum anderen führt, ist keine Erfindung Steiners. Alle spirituellen Weltsichten enthalten Beschreibungen solcher Wege (Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum, Islam, indigene Religionen). Sie unterscheiden sich lediglich durch den ideellen und kulturellen Kontext, in den sie eingebettet sind, die angewandten Techniken, das soziale Setting und ihre konkreten Ziele. Die neuzeitliche Philosophie setzte mit der Säkularisierung solcher methodischen Diskurse der Spiritualität ein. Was früher Theorie der Gotteserkenntnis und Angelologie war, wurde zur Theorie der Sinneserkenntnis und zur Kritik der Metaphysik.
Dem gewöhnlichen Bewusstsein, das umgewandelt werden soll, stehen naturgemäß keine anderen Mittel zur Verfügung, als die Kräfte und Erlebnisse, die ihm unmittelbar zugänglich sind. Der Übungsweg kann daher auch nur von diesen ausgehen. Dort wo ich bin, muss ich beginnen, um dorthin zu gelangen, wo ich nicht bin. Für den spirituellen Weg gilt jedoch gleichzeitig: Ich bin immer schon am Ziel und muss den Weg zurücklegen, um dies zu erkennen.
Werden die Anleitungen umgesetzt, verändert sich das Seelenleben und es treten die beschriebenen Wirkungen ein. Hinter dem Schleier tritt hervor, was durch ihn verborgen war, aus den Tiefen taucht empor, was in ihnen unbemerkt lebte. Neue Erlebnisse treten auf, Metamorphosen von bereits Bekanntem, aufs höchste gesteigerte »Einsamkeit« oder das »Schweben über einem Abgrund«. Werden diese Empfindungen und Erfahrungen durchlebt, setzen sie Kräfte frei, die aus den tieferen Schichten des Seelenlebens hervortreten. Sie stellen »Keime« dar, die in der übersinnlichen Erkenntnis aufblühen. Die anderen Zustände, in welche die Seele sich selbst versetzt, verändern ihre Wirklichkeit. Das eine führt zum anderen: Auftretende Prüfungen, vor die man gestellt wird, führen auch die Fähigkeiten herbei, ihnen standzuhalten, besser: diese Prüfungen treten erst auf, weil man die Fähigkeiten entwickelt hat, ihnen standzuhalten. So bewegt das innere Leben auch sein mag, der Wanderer zwischen den Welten vermag angesichts der Tatsache, dass seine Seele ein unerschöpfliches Reservoir an Kräften in sich birgt, stets seinen Gleichmut zu bewahren. Keine Prüfung, die sich auf dem Seelenweg ergibt, ist so beschaffen, dass sie nicht unter Aufbietung der Kräfte, die ihm im Verfolg des Weges zufließen, bestanden werden könnte. Denn im Unterschied zu einem physischen Weg, den wir zurücklegen, erschöpfen sich die Kräfte auf dem spirituellen Weg nicht, sondern vermehren sich während des Gehens.
Der »beste Erkenntnisweg« (für den gegenwärtigen Menschen) ist laut Steiner jener, der durch Versenkung in Gedanken und Empfindungen zur »Verdichtung« und »Verstärkung« des Seelenlebens führt. Diese Versenkung hebt die Gedanken und Empfindungen des Alltags aus ihrem gewöhnlichen Kontext heraus: als Versenkungsinhalt dienen sie nicht der Orientierung in der sinnlichen Welt, sondern der Sammlung der Seelenkräfte. Darauf kommt es an, »intensiv« in und mit diesen Gedanken und Empfindungen zu leben. Versenkung bedeutet Einswerden mit dem Inhalt der Versenkung, Beendigung der Zerstreuung, des diskursiven Herumlaufens des Verstandes (Gegenbild der »Debattenkultur«), Eintauchen in ein Gefühl, statt oberflächliches Hindurchgleiten durch Kaskaden emotioneller Erregungen (Gegenbild der »Empörungskultur«).
Auf den Inhalt der Versenkung kommt es nicht an, obwohl manche wirksamer als andere sind. Entscheidend ist die Intensität der Versenkung und ihre Wiederholung. An die Stelle der Extensität muss die Intensität treten. Versenken kann man sich in Gedanken, Gefühle, sinnbildliche Vorstellungen. Die Versenkung muss zum seelischen Lebenselement werden, wie das Atmen für den Leib. 1924 wird Steiner im 22. Kapitel seiner Autobiografie im Rückblick auf sein 35. Lebensjahr schreiben: »Ich erkannte im seelischen Erleben das Wesen der Meditation und deren Bedeutung für die Einsichten in die geistige Welt. Ich hatte auch früher schon ein meditatives Leben geführt; doch kam der Antrieb dazu aus der ideellen Erkenntnis seines Wertes für eine geistgemäße Weltanschauung. Nunmehr trat in meinem Innern etwas auf, das die Meditation forderte wie etwas, das meinem Seelenleben eine Daseinsnotwendigkeit wurde. Das errungene Seelenleben brauchte die Meditation, wie der Organismus auf einer gewissen Stufe seiner Entwickelung die Lungenatmung braucht«.
In der Meditation werden alle Sinneseindrücke oder Erinnerungen »zum Schweigen gebracht«. Der Meditierende darf sich allein dem hingeben, was er willentlich, willkürlich in den Mittelpunkt seines Bewusstseins rückt. Nur aus dieser Versenkung, deren Inhalt und Form man durch »Aufwendung eigener Seelenmacht« herbeigeführt hat, erwachsen die Kräfte zur übersinnlichen Erkenntnis. Inhalte der Versenkung sind umso wirksamer, je größer der Kraftaufwand, der nötig ist, um sie zu erzeugen. Die habituellen Vorstellungsinhalte der Seele sind daher von geringem Wert, um so wirkungsvoller Vorstellungen, die erst erzeugt werden müssen, zum Beispiel sinnbildliche Vorstellungen. Das Wirkende ist die Kraft, die aufgewendet wird, um die Versenkung herbeizuführen und aufrecht zu erhalten.
All diese Ausführungen setzen eine Energetik der Seele voraus. Sie ist ein Reservoir – Steiner spricht sogar von einem »unerschöpflichen« Reservoir – an Kräften, die gelenkt und gebündelt werden können. Kräfte wirken, ihre Wirkungen werden erlebt. »Kraft« ist kein physikalischer, sondern ein spiritueller Begriff, der an der Anschauung der eigenen Tätigkeit gebildet und auf physikalische Vorgänge projiziert wird. In den »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften« heißt es: »Wille ist die Idee selbst als Kraft aufgefasst«. Schon das gewöhnliche Bewusstsein ist ein Ergebnis der Wirksamkeit von Kräften, auch wenn diese Kräfte nicht beobachtet werden, da die Aufmerksamkeit den Ergebnissen ihrer Wirksamkeit zugewandt ist. Das morgendliche Aufwachen ist ein Ergebnis von Wirksamkeit, die Seele wird am Leib tätig, drängt die Tätigkeit des Ätherleibes zurück, das Auftauchen der Wahrnehmungswelt aus dem Abgrund der nächtlichen Finsternis ist Ergebnis von Tätigkeit, alle Inhalte des Bewusstseins treten in dieses nur durch Tätigkeit ein. Hielte die Seele in dieser unablässig produzierenden Tätigkeit inne, träten keine Erlebnisinhalte ins Bewusstsein, sie könnte ihren Blick auf die Tätigkeit zurückwenden, die sie ausübt. Genau dies geschieht in der Versenkung. Die Inhalt erzeugende Tätigkeit der Seele wird zurückgehalten, in sich selbst aufgestaut, dadurch verdichtet sie sich, fließt in sich selbst zurück. Sie verausgabt sich nicht in der Hingabe an die erzeugten Inhalte, sondern steigert sich in der Hingabe an sich selbst. Diesen Vorgang bringen die »Sprüche der Säulenweisheit« zum Ausdruck: »Im reinen Gedanken findest du das Selbst, das sich halten kann. Wandelst zum Bilde du den Gedanken, erlebst du die schaffende Weisheit. Verdichtest du das Gefühl zum Licht, offenbarst du die formende Kraft. Verdinglichst du den Willen zum Wesen, so schaffest du im Weltensein« (GA 34, Bericht über den theosophischen Kongress in München 1907).
Das Selbst, das sich halten kann, ist das Selbst, das innehält, das sich in sich selbst hält, das sich nicht an anderes verliert, in das es sich metamorphosiert, das die Meta-Morphose, die Gestaltwerdung im anderen unterlässt, um sich selbst als das Gestaltende anzuschauen.
Der Gedanke, der sich zum Bild wandelt, ist der Gedanke, der sich nicht diskursiv zerstreut, der nicht herumläuft (discurrere), sondern stehenbleibt. Wer meditieren will, muss sich aus dem Diskurs verabschieden, der zerstreut. Was heute als Inbegriff wissenschaftlichen Lebens gilt (der »Diskurs«), ist der Verzicht auf Geisteswissenschaft, die dort beginnt, wo der Diskurs endet. Im Bild manifestiert sich die göttliche Sophia, die Mutter der schaffenden Urbilder, die aus dem Kosmos herabströmen, um den Formenwandel der Naturwesen zu bewirken und im abstrakten Gedanken des Menschen zu ersterben.
Im Gefühl, das sich zum Licht verdichtet, fließt die inspirative Kraft nicht weiter in die gegenständliche Welt aus, sondern offenbart sich als formende Energie, die der Gestaltwerdung der gegenständlichen Welt zugrunde liegt. Das Gefühl soll sich nicht in Erregungen des Abscheus oder des Entzückens in die Welt verströmen, sondern sich in sich selbst verdichten, seiner selbst als des Lichtes ansichtig werden, das die innere Finsternis erleuchtet, und den Gestalten Form gibt, die aus der Finsternis hervortreten.
Im Willen, der sich zum Wesen verdinglicht, begehrt die Seele nicht länger nach wesenlosen Dingen, um an ihnen zu entkraften, sondern wendet das Begehren nach innen, um es zur schöpferischen Potenz zu erheben, die im Sein der Welt als Wesen unter Wesen schafft.
Übersinnliche Erlebnisse können zwar in der Seele auch spontan, unabhängig von systematischer Schulung auftreten, zum Beispiel aufgrund einer Veranlagung zu »inbrünstigem Erleben«. Die »Geheimwissenschaft im Umriss« spricht im Hinblick auf solche spontanen Erlebnisse von »Selbsterweckung« oder »Selbsteinweihung«. Allerdings vermag jemand mit dieser Veranlagung sein Erleben nicht zu beherrschen und auf diese Beherrschung der Seelenkräfte kommt es bei der Erkenntnis an: »Jedes andere Hereinbrechen der übersinnlichen Welt in die Seelenerlebnisse wird dazu führen, dass sie sich wie durch Zwang einstellen und der Mensch an sie sich verliert, oder dass er sich über ihren Wert, über ihre wahre Bedeutung innerhalb der wirklichen übersinnlichen Welt allen möglichen Täuschungen hingibt«.
Die Inhalte solcher spontanen Erlebnisse müssen nicht per se »falsch« sein, jene, die sie haben, sind jedoch nicht imstande, sie zu überprüfen. »Visionen«, spontane Schauungen, sind daher keine Erkenntnisse im geisteswissenschaftlichen Sinn, sondern Erlebnisse von zweifelhafter Bedeutung. Gegen sie spricht die Zwanghaftigkeit, der Verlust der Selbstkontrolle und die Möglichkeit der Täuschung, die aufgrund der Art ihres Zustandekommens nicht ausgeschlossen werden kann. Nur durch systematisch kontrollierte Beobachtung und fortwährende Überprüfung lassen sich Täuschungen vermeiden.
Täuschungen und Illusionen können aufgrund der Umwandlung des Seelenlebens während der Schulung auftreten, auch wenn das gewöhnliche Bewusstsein von Neigungen zu Täuschung und Illusion relativ frei ist. Der »Selbstsinn« – die Selbstsucht, der Egoismus – kann durch diesen Wandel in einem befremdlichen Ausmaß zutage treten. Der Beeinflussung (»Verfälschung« heißt es in der »Geheimwissenschaft im Umriss«) des Wahrgenommenen durch diese Selbstsucht kann allein durch »schonungslose, energische« Selbsterkenntnis Einhalt geboten werden.
Steiner wendet sich nun der Eigenart des Erlebens in übersinnlichen Welten zu. Gewisse Eigenschaften der Seele und die Kategorien des gewöhnlichen Bewusstseins nehmen in diesem Erleben eine völlig neue Bedeutung an. Dies wird an moralischen und ästhetischen Phänomenen illustriert. Die Illustrationen zeigen zugleich, wie es zu den genannten Täuschungen kommen kann.
Während im gewöhnlichen Bewusstsein Naturgesetze und moralische Gesetze sich auf völlig unterschiedliche ontologische Regionen beziehen, fallen deren Entsprechungen in der geistigen Welt zusammen. In der Sinneswelt lassen sich Naturvorgänge nicht mit moralischen Kategorien erklären, die letzteren sind auf erstere nicht anwendbar. Körper, die der Gravitation gehorchen und dabei Menschen verletzen, tun dies nicht mit der Absicht, zu zerstören, sondern folgen lediglich einem Naturgesetz. Es hat keinen Sinn, eine Giftpflanze als »böse« zu bezeichnen, ebensowenig wie es sinnvoll ist, solche Kategorien auf die Tierwelt anzuwenden: ein Raubtier ist nicht »böse«, weil es seine Beutetiere schlägt, sondern gehorcht lediglich dem Gesetz seiner Natur. Für das menschliche Handeln gilt dies natürlich nicht, da es – entgegen heute verbreiteten Auffassungen, die darauf abzielen, den Begriff der moralischen Verantwortung abzuschaffen – nicht der Naturordnung, sondern der moralischen Ordnung angehört.
In den geistigen Regionen ist Kants Unterscheidung zwischen dem »gestirnten Himmel über mir« und »dem moralischen Gesetz in mir« aufgehoben. Der gestirnte Himmel ist in mir und das moralische Gesetz außer mir – genauer gesagt, die beiden Sphären durchdringen sich, sind eins geworden. Die Ontologie der seelisch-geistigen Welt ist durch seelisch-geistige Gesetze bestimmt, und diese sind durch und durch moralisch. Moralische Eigenschaften sind Tatsachen der geistigen Natur, sie schaffen Tatsachen und wirken sich wie Naturkräfte aus. Diese Welt ist aus der selben Substanz gewoben, wie die Seele, ihre Eigenschaften sind »Naturgegebenheiten« der höheren Welt. Während man in der sinnlichen Welt nur im metaphorischen Sinn von »brennendem« Hass oder »verzehrender« Gier sprechen kann, kommt diesen Ausdrücken in der Seelenwelt reale Bedeutung zu. »Damit«, so Steiner in der Vortragsreihe »Von der Initiation« 1912, »ist nicht etwas wie ein Sinnbild, sondern etwas ganz Reales, Wirkliches, real Spirituelles gemeint. Luzifer zum Beispiel würde niemals in demselben Sinne sagen: dieses oder jenes brenne ihn, wie ein Mensch im Sinnensein vom Hass sagen könnte, er brenne ihn; sondern Luzifer würde es sagen in wahrhaftem, ganz wirklichen Sinne«. (GA 138, 27.08.1912). Was Steiner in der »Geheimwissenschaft im Umriss« über das Fortwirken von Begierden nach dem Tode ausführt, gilt auch von den Erlebnissen, die dem Menschen durch die Initiation zugänglich werden, denn die Initiation ist der vorweggenommene Tod:
»Zweierlei Wünsche gibt es für das Ich im Leben. Solche, die aus den Leibern [physischer Leib, Ätherleib, Astralleib] herstammen, die also innerhalb der Leiber befriedigt werden müssen, die aber auch mit dem Zerfall der Leiber ihr Ende finden. Dann solche, die aus der geistigen Natur des Ich stammen. Solange das Ich in den Leibern ist, werden auch diese durch die leiblichen Organe befriedigt. Denn in den Offenbarungen der Organe des Leibes wirkt das verborgene Geistige. Und in allem, was die Sinne wahrnehmen, empfangen sie zugleich ein Geistiges. Dieses Geistige ist, wenn auch in anderer Form, auch nach dem Tode vorhanden. Alles, was das Ich von Geistigem innerhalb der Sinnenwelt begehrt, das hat es auch, wenn die Sinne nicht mehr da sind. Käme nun zu diesen zwei Arten von Wünschen nicht noch eine dritte hinzu, es würde der Tod nur einen Übergang bedeuten von Begierden, die durch Sinne befriedigt werden können, zu solchen, welche in der Offenbarung der geistigen Welt ihre Erfüllung finden.
Diese dritte Art von Wünschen sind diejenigen, welche sich das Ich während seines Lebens in der Sinnenwelt erzeugt, weil es an ihr Gefallen findet auch insofern, als sich in ihr nicht das Geistige offenbart.
Die niedrigsten Genüsse können Offenbarungen des Geistes sein. Die Befriedigung, welche die Nahrungsaufnahme dem hungernden Wesen gewährt, ist eine Offenbarung des Geistes. Denn durch die Aufnahme von Nahrung wird das zustande gebracht, ohne welches das Geistige in einer gewissen Beziehung nicht seine Entwickelung finden könnte.
Das Ich aber kann hinausgehen über den Genuss, der durch diese Tatsache notwendig geboten ist. Es kann nach der wohlschmeckenden Speise Verlangen tragen, auch ganz abgesehen von dem Dienste, welcher durch die Nahrungsaufnahme dem Geiste geleistet wird. Dasselbe tritt für andere Dinge der Sinnenwelt ein. Es werden dadurch diejenigen Wünsche erzeugt, die in der Sinnenwelt niemals zum Vorschein gekommen wären, wenn nicht das menschliche Ich in diese eingegliedert worden wäre. Aber auch aus dem geistigen Wesen des Ich entspringen solche Wünsche nicht.
Sinnliche Genüsse muss das Ich haben, solange es im Leibe lebt, auch insofern es geistig ist. Denn im Sinnlichen offenbart sich der Geist; und nichts anderes genießt das Ich als den Geist, wenn es sich in der Sinnenwelt dem hingibt, durch das des Geistes Licht hindurchleuchtet. Und es wird im Genusse dieses Lichtes bleiben, auch wenn die Sinnlichkeit nicht mehr das Mittel ist, durch das die Strahlen des Geistes hindurchgehen.
Für solche Wünsche aber gibt es keine Erfüllung in der geistigen Welt, für die nicht schon im Sinnlichen der Geist lebt. Tritt der Tod ein, dann ist für diese Wünsche die Möglichkeit des Genusses abgeschnitten. Der Genuss an einer wohlschmeckenden Speise kann nur dadurch herbeigeführt werden, dass die physischen Organe da sind, welche bei der Zuführung der Speise gebraucht werden: Gaumen, Zunge usw. Diese hat der Mensch nach Ablegung des physischen Leibes nicht mehr.
Wenn aber das Ich noch Bedürfnis nach solchem Genuss hat, so muss solches Bedürfnis unbefriedigt bleiben. Sofern dieser Genuss dem Geiste entspricht, ist er nur so lange vorhanden, als die physischen Organe da sind. Sofern ihn aber das Ich erzeugt hat, ohne damit dem Geiste zu dienen, bleibt er nach dem Tode als Wunsch, der vergeblich nach Befriedigung dürstet. Was jetzt im Menschen vorgeht, davon lässt sich nur ein Begriff bilden, wenn man sich vorstellt, jemand leide brennenden Durst in einer Gegend, in der weit und breit kein Wasser zu finden ist.
So geht es dem Ich, insofern es nach dem Tode die nicht ausgelöschten Begierden nach Genüssen der äußeren Welt hegt und keine Organe hat, sie zu befriedigen. Natürlich muss man den brennenden Durst, der als Vergleich mit dem Zustande des Ich nach dem Tode dient, sich ins Maßlose gesteigert denken und sich vorstellen, dass er ausgedehnt sei auf alle dann noch vorhandenen Begierden, für die jede Möglichkeit der Erfüllung fehlt.
Der nächste Zustand des Ich besteht darin, sich frei zu machen von diesem Anziehungsband an die äußere Welt. Das Ich hat in sich eine Läuterung und Befreiung in dieser Beziehung herbeizuführen. Aus ihm muss alles herausgetilgt werden, was an Wünschen von ihm innerhalb des Leibes erzeugt worden ist und was in der geistigen Welt kein Heimatrecht hat.
Wie ein Gegenstand vom Feuer erfasst und verbrannt wird, so wird die geschilderte Begierdenwelt nach dem Tode aufgelöst und zerstört. Es eröffnet sich damit der Ausblick in jene Welt, welche die übersinnliche Erkenntnis als das ›verzehrende Feuer des Geistes‹ bezeichnen kann. Von diesem ›Feuer‹ wird eine Begierde erfasst, welche sinnlicher Art ist, aber dieses so ist, dass das Sinnliche nicht Ausdruck des Geistes ist.
Man könnte solche Vorstellungen, wie sie in bezug auf diese Vorgänge die übersinnliche Erkenntnis geben muss, trostlos und furchtbar finden. Erschreckend könnte es erscheinen, dass eine Hoffnung, zu deren Befriedigung sinnliche Organe nötig sind, nach dem Tode sich in Hoffnungslosigkeit, dass ein Wunsch, den nur die physische Welt erfüllen kann, dann in brennende Entbehrung sich wandeln muss.
Man kann eine solche Meinung nur so lange haben, als man nicht bedenkt, dass alle Wünsche und Begierden, die nach dem Tode von dem ›verzehrenden Feuer‹ erfasst werden, im höheren Sinne nicht wohltätige, sondern zerstörende Kräfte im Leben darstellen. Durch solche Kräfte knüpft das Ich mit der Sinnenwelt ein festeres Band, als notwendig ist, um aus dieser selben Sinnenwelt alles dasjenige in sich aufzunehmen, was ihm frommt. Diese Sinnenwelt ist eine Offenbarung des hinter ihr verborgenen Geistigen.
Das Ich könnte den Geist niemals in der Form genießen, in der er sich nur durch leibliche Sinne offenbaren kann, wenn es diese Sinne nicht benutzen wollte zum Genusse des Geistigen im Sinnlichen. Doch entzieht sich das Ich auch so viel von dem wahren geistigen Wirklichen in der Welt, als es von der Sinnenwelt begehrt, ohne dass der Geist dabei spricht. Wenn der sinnliche Genuss als Ausdruck des Geistes Erhöhung, Entwickelung des Ich bedeutet, so derjenige, der ein solcher Ausdruck nicht ist, Verarmung, Verödung desselben. Wird eine derartige Begierde in der Sinnenwelt befriedigt, so bleibt ihre verödende Wirkung auf das Ich deshalb doch vorhanden. Nur wird vor dem Tode diese zerstörende Wirkung für das Ich nicht sichtbar. Deshalb kann im Leben der Genuss nach solcher Begierde neue gleichartige Wünsche erzeugen. Und der Mensch wird gar nicht gewahr, dass er durch sich selbst sich in ein ›verzehrendes Feuer‹ hüllt. Nach dem Tode wird nur sichtbar, was ihn auch schon im Leben umgibt; und durch das Sichtbarwerden erscheint dieses zugleich in seiner heilsamen, wohltätigen Folge« (GA 13, Kapitel »Schlaf und Tod«).
Die »zerstörenden Kräfte«, welche die Seele ebenso in sich trägt, wie aufbauende, wirken, wie durch diese Schilderungen deutlich wird, bereits im Leben auf sie zurück. Die »verödende« Wirkung geistloser Begierden und des durch sie angestrebten Genusses, umgibt den Menschen schon während des Lebens, auch wenn er des »verzehrenden Feuers« nicht gewahr wird, in das er sich hüllt. Unsere Hölle, unser Fegefeuer umgibt uns bereits während des Lebens auf der Erde und wir betäuben uns lediglich für diese Realität, indem wir in neue Genüsse flüchten, welche die zerstörenden Wirkungen der vorangegangenen vorübergehend überdecken. Diese Tatsache ist esoterisches Gemeingut. In der ismailischen Gnosis (8. Jahrhundert) beispielsweise, gestaltet die Seele durch ihr Verhalten, ihre Gewohnheiten und Handlungen eine Form des Seins oder der Existenz, die unabhängig vom vergänglichen Körper fortexistiert. Diese Existenzform – ihr »erworbener Leib«, im Unterschied zum vererbten –, besitzt eine geheime Verwandtschaft zu einer von vier Kategorien von Wesen: zu Engeln, Dämonen, Tieren oder wilden Bestien, die erst nach dem Tode offenbar wird. Nach dem Ablegen des Leibes gesellt die Seele sich den entsprechenden Wesen zu (Henry Corbin, En islam iranien, IV, S. 90). Der Sufimystiker Semnāni (14. Jahrhundert) weiß, dass die Hölle existiert, »aber sie ist in Dir; wenn Du sie kultivierst und die Samen der Hölle pflegst, dann wird sie [nach dem Tode] zu Deiner persönlichen Gehenna werden«. Aber ebenso existiert der Himmel in dir: wenn du seine Samen hegst, wird aus ihnen dein persönlicher Himmel aufblühen (siehe: Kosmosophie und mystische Anthropologie). Auch Jacob Boehme ist mit dieser Tatsache vertraut: »Nun siehe, du Menschenkind, das hast du zu erwarten nach dem Zerfall deines Leibes, da du ein ewiger Geist bist: entweder du wirst ein Engel Gottes im Paradies, oder ein hässlicher, ungestalter, teuflischer Wurm, ein Tier oder ein Drache; je nachdem, wem du dich hier in diesem Leben unterworfen hat: dasselbe Bildnis, das du hier in deinem Gemüt getragen hast, wird dir in der Ewigkeit erscheinen, denn es kann kein anderes Bildnis beim Zerfall deines Leibes herausfahren, als eben das, welches du hier schon in dir getragen hast« (»De tribus Principiis oder Beschreibung der drei Prinzipien göttlichen Wesens« 1619 | Kapitel 16; siehe: Vom Tier im Menschen und des letzteren Wiedergeburt). Karīm-Khān Kirmāni aus der Schule der Schaichi schließlich schreibt im 19. Jahrhundert: »Das Paradies des wahrhaft Gläubigen ist sein eigener [Seelen-]Leib. Seine tugendhaften Handlungen sind seine Bäume, klaren Gewässer, Schlösser und Huri. Die Hölle des Ungläubigen ist ebenfalls sein eigener [Seelen-]Leib; seine hasserfüllten Handlungen sind seine Feueröfen, seine Monster, seine Schlangen, Hunde, Drachen usw.« (Siehe: Himmel und Hölle im Menschen)
Hass und Neid, zerstörerische Emotionen, die nicht auf den »Genuss des Geistigen im Sinnlichen« abzielen, sondern aus der Begierde nach dem Genuss des Sinnlichen entspringen, »ohne dass der Geist dabei spricht«, wirken zerstörerisch auf jenen zurück, der ihnen Nahrung gibt. Wer seine zerstörerischen Emotionen an anderen ausagiert, zerstört sich selbst. Wer sich selbst dabei physisch vernichtet (wie ein Selbstmordattentäter), gelangt nicht in den Himmel, sondern in die Hölle, die er sich selbst zubereitet 1)
Im Gegensatz dazu wirkt Liebe, durch die »des Geistes Licht hindurchleuchtet«, so, dass sie auf den Liebenden aufbauend, fördernd zurückwirkt. »Wer einen Menschen lieb hat«, so fährt Steiner an der zitierten Stelle fort, »wird doch nicht allein zu dem an ihm hingezogen, was durch die physischen Organe empfunden werden kann. Nur von diesem aber darf gesagt werden, dass es mit dem Tode der Wahrnehmung entzogen wird. Gerade das aber wird dann sichtbar an dem geliebten Menschen, zu dessen Wahrnehmung die physischen Organe nur das Mittel waren.
Ja, das einzige, was diese volle Sichtbarkeit hindert, ist dann das Vorhandensein derjenigen Begierde, die nur durch physische Organe befriedigt werden kann. Würde diese Begierde aber nicht ausgetilgt, so könnte die bewusste Wahrnehmung des geliebten Menschen nach dem Tode gar nicht eintreten. So betrachtet, verwandelt sich die Vorstellung des Furchtbaren und Trostlosen, das für den Menschen die Ereignisse nach dem Tode haben könnten, wie sie die übersinnliche Erkenntnis schildern muss, in diejenige des tief Befriedigenden und Trostreichen«. (Angemerkt sei, dass diese nachtodlichen Erlebnisse nicht etwa ewig dauern, sondern Übergangszustände auf dem Weg in die Welt der Inspiration und Intuition darstellen. Darauf deutet bereits die Formulierung »Wie ein Gegenstand vom Feuer erfasst und verbrannt wird, so wird die geschilderte Begierdenwelt nach dem Tode aufgelöst und zerstört«. So wie die Initiation von der imaginativen Welt in jene der Inspiration und Intuition hinaufführt, verläuft auch der Weg der Seele nach dem Tod durch diese Welten, sobald jene Begierden, die sie an die sinnliche Welt fesseln, »verbrannt« sind. Der geistige Wesenskern des Menschen, der aus dem Feuer der Läuterung hervorgeht, erhebt sich wie der Phönix aus der Asche, um als Simurgh in die Krone des Weltenbaums hinaufzufliegen, in dessen Geäst die Samen künftiger Existenzen heranreifen. Ausführlicher werden diese nachtodlichen Passagen im Anschluss an die zitierten Ausführungen in der »Geheimwissenschaft im Umriss« beschrieben).
Rückwirkungen moralischer Eigenschaften auf die Wesensbeschaffenheit ihres Trägers zeigen sich laut der siebten Meditation nicht nur am Astralleib, sondern bereits am Ätherleib: Teile dieses Leibes können sich nicht entwickeln, wenn die ihnen entsprechenden moralischen Eigenschaften nicht ausgebildet werden, unvollkommen ausgebildete ätherische Organe sind eine Folge der moralischen Verfassung des betreffenden Menschen. (Diese Beobachtung erklärt, warum die Ausbildung einzelner Chakren von der Entwicklung seelisch-moralischer Eigenschaften abhängt, z.B. die sechzehnblättrige Lotusblume in der Nähe des Kehlkopfs von der Steigerung der Achtsamkeit: bei der Begriffsbildung und Entschlussfassung, im Sprechen, im äußeren Handeln, in der Gestaltung des gesamten Lebens, gegenüber sich selbst und der eigenen Lebenserfahrung. Sie erklärt auch die Bedeutung der goldenen Regel, die Steiner in »Wie erlangt man …?« formuliert: »Wenn du einen Schritt vorwärts zu machen versuchst in der Erkenntnis geheimer Wahrheiten, so mache zugleich drei vorwärts in der Vervollkommnung deines Charakters zum Guten«. Und sie erklärt, warum so viele bereits in den Anfangsgründen der Schulung versagen. Geisteswissenschaft als reale Geistesforschung ist keine Angelegenheit des glänzenden Intellekts, blendender angelesener Kenntnisse oder trockener Gelehrsamkeit, sondern eine Abfolge grundstürzender Geschehnisse, die mit der moralischen Besserung beginnt und durch einen Verbrennungsprozess zur Transformation der Seele führt, der aus der Kohle der anima nigra den Diamanten der anima candida herausläutert).
Allerdings bedeutet die unvollkommene Ausbildung der ätherischen Organe nicht, dass die ihnen entsprechenden physischen Organe ebenfalls unvollkommen entwickelt wären, denn physische Organe unterliegen anderen Gesetzen als ätherische. Im Gegenteil: ein ätherisches Organ kann in dem Maß übervollkommen sein, als das physische unvollkommen ist. (Nebenbei bemerkt, stellt diese Äußerung eine Absage an den physiognomischen Kurzschluss von der körperlichen Erscheinung auf das innere Wesen des Menschen dar, der Steiner manchmal unterstellt wird).
In der physischen Welt, so Steiner weiter, entstehen Begierden und Wünsche durch die Wahrnehmung eines inneren Mangels, einer Unvollkommenheit. Befriedigt werden sie dadurch, dass man die Eigenschaft eines anderen Wesens in seinen Besitz zu bringen und diese zu verzehren versucht, ohne den inneren Mangel dauerhaft zu beseitigen. Die Begierden erneuern sich, solange dieser Mangel nicht beseitigt wird, ja sie steigern sich sogar, da sich das Erlebnis der Befriedigung durch die Wiederholung abstumpft.
In der geistigen Welt dagegen sind Begierden ein Mittel zur Selbstvervollkommnung. Wesen, die in sich den Mangel einer Eigenschaft empfinden, werden von anderen angezogen, die über ebendiese Eigenschaft verfügen. Ihr Anblick wird als beständiger Aufruf empfunden, diese Eigenschaft in sich selbst auszubilden. Die Empfindung des Mangels führt die Wahrnehmung der ausgleichenden Vollkommenheit herbei und die Begierde findet erst Befriedigung, wenn das Wesen, das den Mangel empfindet, den Ausgleich des Mangels in sich selbst herbeiführt. Die Befriedigung wird also nicht aus dem Verzehr fremder Eigenschaften geschöpft, sondern aus der Hervorbringung dieser Eigenschaften durch jenes Wesen, das am Mangel leidet.
Die »Freiheit des Wollens« wird durch solche »Gesetze« des geistigen Erlebens nicht beeinträchtigt, denn ein Wesen, das einen Mangel empfindet und mit der Anschauung der ausgleichenden Vollkommenheit konfrontiert ist, kann sich dieses Anblicks auch erwehren und sich vom anderen Wesen, das diese Vollkommenheit besitzt, abwenden. Allerdings hat dies zur Folge, dass das betreffende Wesen sich dadurch in eine geistige Umwelt versetzt, die seiner weiteren Entwicklung ungünstig ist.
Ebenso wie die Bedeutung moralischer Kategorien, verändert sich auch jene der ästhetischen. »Schön« ist in der geistigen Welt die Durchsichtigkeit, die Transluzenz oder Transparenz eines Wesens, das sein gesamtes Inneres offenbart, der Begriff ist also gleichbedeutend mit »rückhaltloser Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit«, während Hässlichkeit in der Opazität besteht, darin, dass innere Eigenschaften vor anderen verborgen werden. Hässlich ist ein geistiges Wesen, das sich »seiner geistigen Umgebung entzieht«, das sich unaufrichtig offenbart, das lügt.
Zitieren wir noch einmal eine etwas längere Passage aus den bereits genannten Münchner Vorträgen des Jahres 1912:
»Wenn wir in den übersinnlichen Welten wahrnehmen, so erblicken wir zunächst einen bedeutsamen Unterschied in bezug auf die Wesen, die uns dort entgegentreten. Von dem einen wird man – vermöge der intuitiven Erkenntnis, die man da haben kann – sagen können: Dieses Wesen, das du da anschaust, ist imstande, hat den Willen, alles, was es in sich hat, wirklich auch äußerlich in seiner äußeren Erscheinung darzuleben. Nehmen wir an, ein solches Wesen habe einen elementarischen Lichtleib, es gehöre zu den Wesen, die sich nicht in der Sinneswelt verkörpern, sondern nur in den höheren Welten einen Lichtleib annehmen oder dergleichen [also beispielsweise ein Engel]. Dieser Lichtleib kann der Ausdruck dessen sein, was es in seinem Innern ist. Es ist nicht wie ein Mensch im Sinnensein, der uns entgegentritt in einer bestimmten Form und der die mannigfaltigsten Gefühle, Empfindungen und so weiter in sich verbergen kann …
So ist es für gewisse Wesen der übersinnlichen Welt nicht, sie zeigen in ihrer Gestalt den unmittelbarsten Ausdruck dessen, was sie in sich tragen. In den Ingredienzien liegt offen zutage, was sie im Innern sind. Andere Wesen gibt es, welche das nicht können, ihr eigentliches Innere unmittelbar in ihrer äußeren übersinnlichen Erscheinung zur Darstellung, zur Offenbarung zu bringen. Diesen Wesen gegenüber hat das hellseherische Bewusstsein das Gefühl von etwas Abstoßendem, von etwas, wovon es weg möchte, von etwas, was presst, was sogar recht widerwärtig sein kann …
Es ist dem Hellseher ganz natürlich, zu sagen, ein Wesen, welches alles, was es innen hat, offenbart, sei schön. Aber unmittelbar drängt sich dazu die andere Vorstellung: damit es schön sein kann, muss es aufrichtig, ehrlich sein! Es ist schön, weil es nichts verbirgt, weil es auf dem Antlitz trägt, was es in sich hat. Wahr und schön ist dasselbe, wenn man in die übersinnlichen Welten kommt. Und ein Wesen, das nicht sein Inneres offenbart, ist hässlich; das empfindet man unmittelbar im hellseherischen Bewusstsein. Aber man empfindet noch etwas anderes: es lügt einen an, es zeigt nicht, was es zeigen sollte. Das Hässliche ist zugleich das Lügnerische. Das Wahre, Aufrichtige und Ehrliche ist zugleich das Schöne, und das Hässliche das Lügnerische. …
Wenn man in die übersinnlichen Welten eindringt, kann man ein Wesen finden, welches man nach allen Begriffen, die man sich im Sinnensein angeeignet hat, als ein schönes Wesen bezeichnen muss, als ein herrliches Wesen vielleicht: schön, strahlend, herrlich. Nun hat man es vor sich. Es ist aber kein Beweis, dass es auch ein gutes Wesen ist, wenn es einem so entgegentritt, es kann ein ganz böses sein und einem in der hehrsten Engelsgestalt entgegentreten. Denn nach dem Begriffe von schön, den man sich in der Sinneswelt gebildet hat, nennt man ein solches Wesen in der übersinnlichen Anschauung schön. Wie sollte man es auch nicht! Wenn man es abgebildet finden würde in der Sinneswelt, würde man es mit vollem Rechte schön nennen. Ein solches Wesen kann [in seinem Inneren] das hässlichste sein, das es nur gibt; trotzdem kann es als ein schönes bezeichnet werden, wenn man bei den Bezeichnungen der Sinneswelt bleibt. Es kann ein ganz böses Wesen sein, kann die Bosheit und die Schlechtigkeit und die Unwahrheit, die einen anlügt, behalten, kann ein Teufel in Engelsgestalt sein. Das ist durchaus möglich in den übersinnlichen Welten.
…
Man hat also vor sich eine Engelsgestalt und kann sich jetzt sagen, wenn man es so weit gebracht hat, denkend bleiben zu können beim übersinnlichen Anschauen: Dass du jetzt einen Engel siehst oder irgendeine herrliche Gestalt, dadurch musst du dich nicht täuschen lassen; das kann alles möglich sein, es kann ein Engel sein, kann aber auch ein Teufel sein.
Nun kann man anfangen mit dem, was man so oft tun muss, wenn man hinaufrückt in die höheren Welten: mit einer gehörigen Selbstprüfung. Man kann mit sich zu Rate gehen und untersuchen, wie viel Eigenschaften von Selbstsinn, von Egoismus man in sich hat. Dann durchdringt sich die Seele mit mancherlei Bitternissen, dann kommt mancherlei Wermut in die Seele hinein. Aber dieses Bittere, Peinigende kann gerade dazu führen, dass man sich wieder eine kurze Zeit reinigt, dass man sich läutert in seinem Selbstsinn, in seinem Egoismus.
Und wenn man dadurch zu dem Urteil kommt, wie wenig man eigentlich frei ist von dem Selbstsinn und dass man danach streben muss, frei zu werden, dann erleuchtet sich einem der ganze Prozess, der sich abspielt im Seeleninnern, Wenn man es nun so weit gebracht hat, dass einem, wenn man solche Selbstbetrachtung anstellt, das nicht entfällt, was man anschaut – denn das wird in der Regel bei den ersten Schritten geschehen –, so fängt unter Umständen der Engel an, gar kein Engel zu sein, sondern recht hässliche Formen anzunehmen, und man kann nach und nach dahinterkommen, dass man sich sagt: Dem Wesen, dem du da als einem bösen entgegengetreten bist, hast du die Möglichkeit gegeben, seine Bösartigkeit zum Ausdruck zu bringen, indem es dir erst eine ganz andere Gestalt vorgaukelte; aber du hast es gezwungen, dir seine wahre Gestalt zu zeigen, indem du dich mit reineren Gefühlen durchdrungen hast.
So hat ein seelischer Vorgang in der übersinnlichen Welt ein Zwingendes, ein Kraftendes; so macht man es selber den Wesen möglich, einen anzulügen, oder man zwingt sie, einem ihre wahre Gestalt darzustellen.
Wie man hineintritt in die übersinnliche Welt, mit welchen Qualitäten, danach stellt sie sich einem dar. Was man die Quelle der Täuschungen nennt, damit muss man noch ganz anders vorgehen, als es gewöhnlich geschieht« (GA 138, 27.08.1912).
Wir können bereits in der sinnlichen Welt eine Lüge als »hässlich« empfinden. Dieser Empfindung liegt die Tatsache zugrunde, dass die unterschiedlichen Welten sich durchdringen und gegenseitig repräsentieren. Das Wesen, das lügt, muss aber in der Sinneswelt keineswegs hässlich sein, im Gegenteil: wer etwas Hässliches in der sinnlichen Welt aus seiner Lügenhaftigkeit erklären wollte, unterläge wiederum einem Fehlschluss. Anders hingegen in der geistigen Welt: hier erscheint Hässlichkeit tatsächlich als wesensgemäßer Ausdruck der Lüge, sobald man die Maske der Lüge durchschaut.
Nicht immer offenbaren geistige Wesen also ihre wahre Natur. Ihre Hässlichkeit oder Lügenhaftigkeit besteht darin, dass sie sich der Transparenz verweigern, dass sie sich mit einer Hülle umkleiden, eine Maske tragen, einen äußeren Schein erzeugen, der mit ihrem Inneren nicht übereinstimmt. Das Hässliche erscheint als schön, aber diese Erscheinung ist eine Spiegelung seelischer Eigenschaften des Betrachters, der diesen Wesen durch seinen »Selbstsinn« die Möglichkeit gibt, »ihre Bösartigkeit zum Ausdruck zu bringen«. Letztlich ist also die Täuschung auf die mangelnde Transparenz des Seelenspiegels zurückzuführen, in dem sich das betreffende Wesen abbildet. In der Maske des Schönen kann ein Wunsch oder ein Begehren des Betrachtenden Gestalt annehmen, die den Spiegel seiner Seele verdunkeln. Erst der gereinigte Blick, der bis zum »Innengrund« eines solchen Wesens vordringt, wird erkennen, dass es eine Maske der Täuschung trägt, die seinem Wesen nicht entspricht und diese Maske wird daraufhin als besonders hässlich erscheinen. Dringt man auf den Grund des Wesens vor, erkennt man seine Erscheinungsform als Maske, es ist entlarvt und kann nicht mehr das Bild der Schönheit vortäuschen. Es muss sich in seiner wahren Gestalt, der Gestalt der Lüge, offenbaren.
All diese Beispiele machen laut Steiner deutlich, dass die Vorstellungswelt des gewöhnlichen Bewusstseins umgebildet und an die Verhältnisse der geistigen Welt angepasst werden muss. Und das gilt nicht nur für die Erfahrung, die Beobachtung, die Erkenntnis der geistigen Welt, sondern auch für die Beschreibung, die Darstellung dieser Erkenntnis.
»Es müssen Begriffe umgewandelt, erweitert, mit anderen verschmolzen werden, wenn man die übersinnliche Welt richtig beschreiben will«. Beschreibungen der übersinnlichen Welt, die sich der Begriffe bedienen, die auf die sinnliche zugeschnitten sind, ohne dass der angedeutete Kategorienwandel mitthematisiert wird, werden daher stets »etwas Unzutreffendes haben«, genauer gesagt, werden die Vorstellungen, die aufgrund solcher Beschreibungen gebildet werden, etwas Unzutreffendes haben. Hieraus erschließt sich ein Verständnis des »sinnbildlichen«, metaphorischen Sprachgebrauchs: Was für geistige Tatsachen im vollen Wortsinn, wörtlich gilt, kann für sinnliche Tatsachen nur eine metaphorische Geltung beanspruchen, aber dieser metaphorischen Geltung liegt ein tatsächlicher Sachverhalt zugrunde. Die Paradoxa das Literalsinns lösen sich auf, sobald die spirituelle Hermeneutik die esoterische Bedeutungsebene des Gesagten aufschließt. Dass die Sonne am Himmel stehenbleibt oder ein Mensch über das Wasser wandelt, erscheint nur solange paradox, als nicht erkannt wird, dass diese Tatsachenbehauptungen sich nicht auf die sinnliche Welt beziehen, sondern auf eine andere ontologische Ebene der Wirklichkeit, auf der die Gesetze von Raum und Zeit tatsächlich aufgehoben sind. Dass schön zugleich wahr und hässlich böse ist, dass sich seelische Eigenschaften unmittelbar als Naturtatsachen manifestieren, erscheint nur einem Bewusstseinszustand als Irrtum, der in der Dualität der sinnlichen Welt befangen ist. Für einen Bewusstseinszustand, dem die Seele als »Natur«, das Moralische als Grundsubstanz der ontologischen Realität erscheint, erweist sich dieser Irrtum als Wahrheit.
Diese Bemerkungen gelten auch für Steiners eigenen Sprachgebrauch, etwa, wenn er von einem ätherischen, astralischen oder Ich-»Leib« spricht. Dem Ausdruck »Leib« kommt lediglich eine metaphorische Bedeutung zu, die darauf beruht, dass der geistige Sachverhalt durch den sinnlichen symbolisch repräsentiert wird. Einen wirklichen Begriff des Leibes kann man nur durch gedankliche Operationen, durch ideelle Anschauung gewinnen. Der sinnlich wahrnehmbare Leib stellt eine Repräsentation seiner übersinnlichen Realität dar. Der sprachliche Ausdruck repräsentiert sowohl die übersinnliche Realität als auch die sinnliche Repräsentation. In Wahrheit ist der sinnlich wahrnehmbare Leib eine Metapher, der sprachliche Ausdruck eine Metapher der Metapher.
Anmerkung:
1 ) Dass die Seele des Menschen zu dem wird, was sie aus sich macht, ist eine Anschauung, die sich auch in der Philosophie findet. Schon im Gorgias erzählt Sokrates einen Mythos vom Totengericht, bei dem die Folgen ihres Handelns und Verhaltens an ihrer Substanz – ihrem Aussehen – nach dem Tode offenbar werden. In einer nicht näher spezifizierten mythischen Frühzeit mussten die Sterbenden noch in ihrem Körper vor den Totenrichter treten und seine Urteile wurden durch deren körperliches Erscheinungsbild verzerrt. Eine »Reformation« dieses Gerichts durch Zeus sorgte dafür, dass es erst nach Ablegung des Körpers stattfand. Seither steht jede Seele entblößt vor ihrem Richter, der sie unmittelbar so sieht, wie sie ist. Dieser urteilt nur nach seiner Wahrnehmung der Beschaffenheit der Seele. So wie ein Leichnam das Aussehen behält, das der Körper zu Lebzeiten des Verstorbenen angenommen hat, so behält auch die Seele die Beschaffenheit, die sie während ihres Lebens im Körper durch ihr Verhalten annahm. Wenn sie Untaten begangen hat, treten diese nun als sichtbare Verunstaltungen an ihr in Erscheinung, ebenso wie die Narben oder Verformungen des Körpers. Ethische Mangelhaftigkeit manifestiert sich als Hässlichkeit. Daher ist es unmöglich, den Richter zu täuschen. Die Urteile des Totengerichts beruhen auf unmittelbarem Augenschein. Übeltäter werden in den Tartaros, den Ort der Läuterung verwiesen, Gerechte auf die Inseln der Seligen. ↑
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wird fortgesetzt