Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.
Laut dem Finanzanalysten und Wirtschaftswissenschaftler Michael Hudson verhält sich Amerika in der gegenwärtigen Krise wie der Held einer griechischen Tragödie, der sich durch seine eigene Hybris zugrunde richtet. Die einstmals »einzige Supermacht« treibt durch den Versuch, ihre Rivalen auszuschalten, den von ihr angeführten Block der »freien Welt« in den wirtschaftlichen und politischen Ruin. Der Beitrag »Amerikanische Diplomatie als Tragödie« erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Amerikanische Diplomatie als Tragödie
Gastbeitrag von Michael Hudson
Wie in einer griechischen Tragödie, deren Protagonist das Schicksal herbeiführt, das er zu vermeiden sucht, erreicht die Konfrontation der USA und der NATO mit Russland in der Ukraine genau das Gegenteil des von Amerika angestrebten Ziels. Sie sollte China, Russland und seine Verbündeten daran hindern, unabhängig von der Kontrolle der USA über ihre Handels- und Investitionspolitik zu bestimmen.
Der Plan der Biden-Regierung, die China als Amerikas langfristigen Hauptgegner bezeichnete, bestand darin, Russland von China abzuspalten und danach Chinas militärische und wirtschaftliche Lebensfähigkeit zu lähmen. Die amerikanische Diplomatie hat jedoch dazu geführt, dass sich Russland und China mit dem Iran, Indien und anderen Verbündeten zusammengetan haben. Zum ersten Mal seit der Bandung-Konferenz der blockfreien Staaten im Jahr 1955 ist eine kritische Masse in der Lage, sich gegenseitig zu versorgen und die Emanzipation von der Dollar-Diplomatie einzuleiten.
Angesichts der industriellen Prosperität Chinas, die auf selbstfinanzierten öffentlichen Investitionen in sozialisierten Märkten beruht, räumen US-Beamte ein, dass es mehrere Jahrzehnte dauern wird, bis dieser Kampf entschieden ist. Die Bewaffnung eines stellvertretenden ukrainischen Regimes ist lediglich ein erster Schritt, um den Zweiten Kalten Krieg (und möglicherweise/oder tatsächlich den Dritten Weltkrieg) in einen Kampf um die Aufteilung der Welt zwischen Verbündeten und Feinden überzuführen, wobei es darum geht, ob die Regierungen oder der Finanzsektor die Weltwirtschaft und die Gesellschaft gestalten werden.
Was als »Demokratie« nach US-amerikanischem Vorbild ausgegeben wird, ist eine Finanzoligarchie, die grundlegende Infrastrukturen wie Gesundheit und Bildung privatisiert. Die Alternative ist das, was Präsident Biden als »Autokratie« bezeichnet – eine feindselige Bezeichnung für Regierungen, die stark genug sind, eine globale Rentenoligarchie an der Übernahme der Kontrolle zu hindern. China wird als »autokratisch« bezeichnet, weil es die Stillung von Grundbedürfnissen subventioniert, anstatt sie dem Markt preiszugeben. Seine gemischte Wirtschaft kostengünstiger zu machen, wird als »Marktmanipulation« bezeichnet, als ob das etwas Schlechtes wäre, was nicht auch die Vereinigten Staaten, Deutschland und jede andere Industrienation während ihres wirtschaftlichen Aufschwungs im 19. und frühen 20. Jahrhundert getan hätten.
Clausewitz machte die These populär, der Krieg sei eine Erweiterung der nationalen Interessen – hauptsächlich der wirtschaftlichen. Die Vereinigten Staaten sehen ihr wirtschaftliches Interesse darin, ihre neoliberale Ideologie weltweit zu verbreiten. Ihr missionarisches Ziel besteht darin, die Volkswirtschaften zu finanzialisieren und zu privatisieren, indem die Verantwortung von den nationalen Regierungen auf einen kosmopolitischen Finanzsektor verlagert wird. In einer solchen Welt gäbe es wenig Bedarf an Politik. Die Wirtschaftsplanung würde sich von den politischen Hauptstädten in die Finanzzentren verlagern, von Washington zur Wall Street, mit Satelliten in der Londoner City, der Pariser Börse, Frankfurt und Tokio. Die Vorstandssitzungen der neuen Oligarchie würden auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos stattfinden. Bislang öffentliche Infrastrukturdienste würden privatisiert und so hoch bepreist, dass sie Gewinne (und sogar Monopolrenten), Fremdfinanzierung und Managementgebühren einschließen, anstatt öffentlich subventioniert zu werden. Schuldendienst und Miete würden zu den wichtigsten Gemeinkosten für Familien, Industrie und Regierungen.
Das Bestreben der USA, ihre unipolare Macht aufrechtzuerhalten und der Welt eine »America First«-Finanz-, Handels- und Militärpolitik aufzuzwingen, birgt eine inhärente Feindseligkeit gegenüber allen Ländern in sich, die versuchen, ihre eigenen nationalen Interessen zu verfolgen. Da die USA immer weniger gegenseitige wirtschaftliche Vorteile zu bieten haben, drohen sie mit Sanktionen und mischen sich verdeckt in die Politik anderer Länder ein. Der Traum der USA sieht eine chinesische Version von Boris Jelzin vor, die die Führung der Kommunistischen Partei des Landes ablöst und das öffentliche Eigentum an den Meistbietenden verkauft – vermutlich, nachdem eine Währungskrise die inländische Kaufkraft vernichtet hat, so wie es im postsowjetischen Russland geschah, wo nur die internationale Finanzgemeinschaft als Käufer übrig blieb.
Man kann Russland und Präsident Putin nicht verzeihen, dass sie sich gegen die »Reformen« der Harvard-Boys gewehrt haben. Deshalb planten US-Beamte, wie man die russische Wirtschaft stören könnte, um (so hofften sie) eine »Farbenrevolution« zu inszenieren, durch die Russland vom neoliberalen Lager der Welt zurückerobert werden sollte. Das ist der Charakter der »Demokratie« und der »freien Märkte«, die der »Autokratie« des staatlich subventionierten Wachstums gegenübergestellt werden. Wie der russische Außenminister Sergej Lawrow in einer Pressekonferenz am 20. Juli 2022 zum gewaltsamen Staatsstreich in der Ukraine im Jahr 2014 erklärte, bezeichnen die USA und andere westliche Politiker Militärputsche als »demokratisch«, die von den Vereinigten Staaten in der Hoffnung unterstützt werden, neoliberale Politik zu fördern.
Erinnern Sie sich, wie sich die Ereignisse nach dem Putsch entwickelt haben? Die Putschisten spuckten Deutschland, Frankreich und Polen, die die Garanten des Abkommens mit Viktor Janukowitsch waren, ins Gesicht. Es wurde am nächsten Morgen mit Füßen getreten. Diese europäischen Länder haben keinen Mucks von sich gegeben – sie haben sich mit der Situation abgefunden. Vor ein paar Jahren habe ich die Deutschen und Franzosen gefragt, was sie von dem Staatsstreich hielten. Was sollte das alles, wenn sie nicht verlangten, dass die Putschisten die Vereinbarungen einhalten? Sie antworteten: »Das ist der Preis für den demokratischen Prozess.« Ich mache keine Witze. Erstaunlich – das waren Erwachsene, die als Außenministers fungierten.[1]
Dieses »Doppeldenk«-Vokabular zeigt, wie weit sich die Mainstream-Ideologie von Rosa Luxemburgs Beschreibung der zivilisatorischen Wahl, die sich vor einem Jahrhundert stellte, entfernt hat: Barbarei oder Sozialismus.
Die widersprüchlichen Interessen und Belastungen der USA und Europas durch den Krieg in der Ukraine
Um auf Clausewitz‘ Sichtweise des Krieges als Erweiterung der nationalen Politik zurückzukommen: Die nationalen Interessen der USA weichen stark von denen ihrer NATO-Satelliten ab. Der militärisch-industrielle Komplex, der Erdöl- und der Agrarsektor Amerikas profitieren, während die industriellen Interessen Europas leiden. Dies gilt insbesondere für Deutschland und Italien, da ihre Regierungen die Einfuhr von North-Stream-2-Gas und anderen russischen Rohstoffen blockieren.
Die Unterbrechung der weltweiten Energie-, Lebensmittel- und Rohstoffversorgungsketten und die daraus resultierende Preisinflation (die Monopolrenten nicht-russischer Anbieter ermöglicht) hat den Verbündeten der USA in Europa und dem globalen Süden enorme wirtschaftliche Belastungen auferlegt. Dennoch profitiert die US-Wirtschaft davon, oder zumindest profitieren bestimmte Sektoren der US-Wirtschaft davon. Wie Sergej Lawrow in seiner oben zitierten Pressekonferenz ausführte: »Die europäische Wirtschaft ist am stärksten betroffen. Die Statistiken zeigen, dass 40 Prozent des durch die Sanktionen verursachten Schadens von der EU getragen werden, während der Schaden für die Vereinigten Staaten weniger als 1 Prozent beträgt.« Der Wechselkurs des Dollars ist gegenüber dem Euro in die Höhe geschnellt, der auf die Parität zum Dollar gefallen ist und voraussichtlich weiter in Richtung der 0,80 Dollar fallen wird, bei denen er vor einer Generation stand. Die Dominanz der USA über Europa wird durch die Handelssanktionen gegen russisches Öl und Gas noch verstärkt. Die USA sind ein Exporteur von Flüssiggas, US-Unternehmen kontrollieren den weltweiten Ölhandel, und US-Firmen sind die größten Getreidevermarkter und -exporteure der Welt, da Russland von vielen ausländischen Märkten ausgeschlossen wurde.
Erhöhung der europäischen Militärausgaben – für die Offensive, nicht für die Verteidigung
Die US-Waffenhersteller freuen sich darauf, mit Waffenverkäufen an Westeuropa Gewinne zu machen, das sich durch die Lieferung von Panzern und Haubitzen, Munition und Raketen an die Ukraine buchstäblich selbst entwaffnet. US-Politiker unterstützen eine kriegerische Außenpolitik, um Waffenhersteller zu fördern, die Arbeitskräfte in ihren Wahlbezirken beschäftigen. Und die Neocons, die das Außenministerium und die CIA beherrschen, sehen den Krieg als Mittel zur Durchsetzung der amerikanischen Vorherrschaft in der Weltwirtschaft, angefangen bei den eigenen NATO-Partnern.
Das Problem bei dieser Sichtweise ist, dass zwar Amerikas militärisch-industrielle Monopole, seine Ölindustrie und Landwirtschaft profitieren, die übrige US-Wirtschaft aber durch den Inflationsdruck infolge des Boykotts russischer Gas-, Getreide- und anderer Rohstoffexporte unter Druck gerät und der enorme Anstieg des Militärhaushalts als Vorwand für die Kürzung von Sozialausgaben genutzt wird. Das ist auch ein Problem für die Mitglieder der Eurozone. Sie haben der NATO versprochen, ihre Militärausgaben auf die geforderten 2 Prozent ihres BIP zu erhöhen, und die Amerikaner drängen auf eine noch höhere Aufrüstung mit den neuesten Waffen. Fast vergessen ist die Friedensdividende, die 1991 versprochen wurde, als die Sowjetunion den Warschauer Pakt auflöste, in der Erwartung, dass die NATO ebenfalls wenig Grund zur Existenz haben würde.
Russland hat kein erkennbares wirtschaftliches Interesse an einer neuen Besetzung Mitteleuropas. Das wäre für Russland nicht von Vorteil, wie seine Führer bei der Auflösung der alten Sowjetunion erkannten. In der Tat kann es sich heute kein Industrieland mehr leisten, eine Infanterie aufzustellen, um ein feindliches Land zu besetzen. Alles, was die NATO tun kann, ist, aus der Ferne zu bombardieren. Sie kann zerstören, aber nicht besetzen. Das haben die Vereinigten Staaten in Serbien, Irak, Libyen, Syrien und Afghanistan erfahren. Und so wie das Attentat auf Erzherzog Ferdinand in Sarajewo (dem heutigen Bosnien-Herzegowina) 1914 den Ersten Weltkrieg auslöste, kann man die Bombardierung des benachbarten Serbien durch die NATO als Fehdehandschuh betrachten, der den Zweiten Kalten Krieg in einen veritablen Dritten Weltkrieg überführte. Das war der Punkt, an dem die NATO zu einem offensiven Bündnis wurde.
Inwiefern entspricht das den europäischen Interessen? Warum sollte Europa aufrüsten, wenn der einzige Effekt darin besteht, dass es im Falle weiterer Angriffe auf Russland zum Ziel von Vergeltungsmaßnahmen wird? Was hat Europa davon, ein größerer Kunde für den militärisch-industriellen Komplex der USA zu werden? Die Umleitung von Ausgaben für den Wiederaufbau einer Offensivarmee – die niemals eingesetzt werden kann, ohne eine atomare Reaktion auszulösen, die Europa auslöschen würde – wird die Sozialausgaben einschränken, die zur Bewältigung der heutigen Probleme der Städte und der wirtschaftlichen Rezession erforderlich sind.
Das einzige dauerhafte Druckmittel, das eine Nation in der heutigen Welt besitzt, sind Handel und Technologietransfer. Europa hat davon mehr zu bieten als die Vereinigten Staaten. Dennoch kommt der einzige Widerstand gegen neue Militärausgaben von rechten Parteien und der deutschen Linkspartei. Die sozialdemokratischen, sozialistischen und Labour-Parteien in Europa teilen die amerikanische neoliberale Ideologie.
Sanktionen gegen russisches Gas machen Kohle zum »Brennstoff der Zukunft«
Der Kohlenstoff-Fußabdruck von Bombenangriffen, Rüstungsproduktion und Militärbasen ist in der heutigen Diskussion über die globale Erwärmung und die Notwendigkeit, die Kohlenstoffemissionen zu reduzieren, auffallend wenig präsent. Die deutsche Partei, die sich selbst als »die Grünen« bezeichnet, führt die Kampagne für Sanktionen gegen die Einfuhr von russischem Öl und Gas an, das die Stromversorger durch polnische Kohle und sogar deutsche Braunkohle ersetzen. Die Kohle wird zum »Brennstoff der Zukunft«. Ihr Preis steigt auch in den Vereinigten Staaten rasant an, was den amerikanischen Kohleunternehmen zugutekommt.
Im Gegensatz zu den Vereinbarungen des Pariser Clubs zur Verringerung der Kohlendioxidemissionen haben die Vereinigten Staaten weder die politischen Möglichkeiten noch die Absicht, sich an den Einsparungsbemühungen zu beteiligen. Der Oberste Gerichtshof hat kürzlich entschieden, dass die Exekutive nicht befugt ist, landesweite Energievorschriften zu erlassen; dies können nur die einzelnen Bundesstaaten tun, es sei denn, der Kongress verabschiedet ein nationales Gesetz zur Reduzierung fossiler Brennstoffe.
Das scheint unwahrscheinlich, denn um den Vorsitz eines demokratischen Senats- und Kongressausschusses zu übernehmen, muss man führend bei der Beschaffung von Wahlkampfspenden für die Partei sein. Joe Manchin, ein Milliardär der Kohleindustrie, führt vor allen anderen Senatoren bei der Wahlkampfunterstützung durch die Öl- und Kohleindustrie, was es ihm ermöglicht, den Auswahlprozess seiner Partei für den Vorsitz des Senatsausschusses für Energie und natürliche Ressourcen zu gewinnen und jede ernsthaft restriktive Umweltgesetzgebung zu blockieren.
Neben dem Öl ist die Landwirtschaft ein wichtiger Faktor für die Zahlungsbilanz der USA. Die Blockierung russischer Getreide- und Düngemitteltransporte droht eine Nahrungsmittelkrise im globalen Süden sowie eine europäische Krise auszulösen, da kein Gas für die Herstellung von Düngemitteln im Inland zur Verfügung steht. Russland ist der weltweit größte Exporteur von Getreide und auch von Düngemitteln, und seine Ausfuhren dieser Produkte sind von den NATO-Sanktionen ausgenommen. Der russische Schiffsverkehr wurde jedoch dadurch blockiert, dass die Ukraine Minen in die Seewege durch das Schwarze Meer gelegt hat, um den Zugang zum Hafen von Odessa zu sperren, in der Hoffnung, dass die Welt die Schuld an der drohenden weltweiten Getreide- und Energiekrise auf Russland schieben würde, anstatt auf die gegen Russland verhängten US/NATO-Handelssanktionen.[2] Auf seiner Pressekonferenz am 20. Juli 2022 zeigte Sergej Lawrow die Scheinheiligkeit des PR-Versuchs auf, die Dinge zu verdrehen:
Viele Monate lang hat man uns gesagt, dass Russland an der Nahrungsmittelkrise schuld sei, weil die Sanktionen nicht für Nahrungsmittel und Düngemittel gelten. Deshalb brauche Russland keine Mittel und Wege zu finden, um die Sanktionen zu umgehen, und solle deshalb Handel treiben, weil sich ihm niemand in den Weg stelle. Es hat uns viel Zeit gekostet, ihnen zu erklären, dass Lebensmittel und Düngemittel zwar nicht unter die Sanktionen fallen, dass aber das erste und zweite Paket westlicher Restriktionen Auswirkungen auf die Frachtkosten, die Versicherungsprämien, die Genehmigungen für russische Schiffe, die diese Waren transportieren, um in ausländischen Häfen anzulegen, und die Genehmigungen für ausländische Schiffe, die dieselben Ladungen in russischen Häfen übernehmen, haben. Man lügt uns offen an, dass dies nicht stimmt und dass es allein an Russland liegt. Das ist ein übles Spiel.
Der Getreidetransport über das Schwarze Meer wurde wieder aufgenommen, aber die NATO-Länder haben Zahlungen an Russland in Dollar, Euro oder den Währungen anderer Länder im Einflussbereich der USA blockiert. Länder mit Nahrungsmitteldefiziten, die es sich nicht leisten können, die horrenden Lebensmittelpreise zu bezahlen, sehen sich mit drastischen Engpässen konfrontiert, die sich noch verschlimmern werden, wenn sie gezwungen sind, ihre Auslandsschulden zu bezahlen, die auf den steigenden US-Dollar lauten. Die sich abzeichnende Treibstoff- und Nahrungsmittelkrise dürfte eine neue Welle von Einwanderern nach Europa treiben, die dort zu überleben suchen. Europa wurde bereits von Flüchtlingen überschwemmt, die von den Bombenangriffen der NATO und der Unterstützung dschihadistischer Angriffe auf Libyen und die Öl produzierenden Länder des Nahen Ostens betroffen waren. Der diesjährige Stellvertreterkrieg in der Ukraine und die Verhängung antirussischer Sanktionen sind ein perfektes Beispiel für Henry Kissingers Aussage: »Es mag gefährlich sein, Amerikas Feind zu sein, aber Amerikas Freund zu sein, ist tödlich.«
Rückschlag durch die Fehlkalkulationen der USA/NATO
Amerikas internationale Diplomatie zielt darauf ab, eine Finanz-, Handels- und Militärpolitik zu diktieren, die andere Länder in Dollar-Schulden und Handelsabhängigkeit festhält und sie daran hindert, Alternativen zu entwickeln. Wenn dies nicht gelingt, versucht Amerika, die Widerspenstigen von der US-zentrierten westlichen Sphäre zu isolieren.
Amerikas Auslandsdiplomatie basiert nicht mehr auf dem Angebot gegenseitigen Nutzens. Dies konnte nach dem Zweiten Weltkrieg behauptet werden, als die Vereinigten Staaten in der Lage waren, Regierungen Kredite, Auslandshilfe und militärischen Schutz gegen Besatzung – sowie Produkte zum Wiederaufbau der vom Krieg zerstörten Volkswirtschaften – im Austausch für deren Zustimmung zu einer für amerikanische Exporteure und Investoren günstigen Handels- und Währungspolitik anzubieten. Aber heute gibt es nur noch die kriegerische Diplomatie, die damit droht, Nationen zu misshandeln, deren sozialistische Regierungen Amerikas neoliberale Bestrebungen zur Privatisierung und zum Ausverkauf ihrer natürlichen Ressourcen und öffentlichen Infrastruktur ablehnen.
Das erste Ziel besteht darin, Russland und China daran zu hindern, sich gegenseitig zu helfen. Dies ist die alte imperiale Strategie des Teilens und Herrschens. Die Minimierung der Fähigkeit Russlands, China zu unterstützen, würde den Vereinigten Staaten und NATO-Europa den Weg ebnen, neue Handelssanktionen gegen China zu verhängen und Dschihadisten in die westliche Uiguren-Region Xinjiang zu schicken. Ziel ist es, Russlands Waffenarsenal massiv zu reduzieren, genügend Soldaten zu töten und genügend Engpässe und Leiden zu verursachen, um nicht nur seine Fähigkeit zu schwächen, China zu helfen, sondern auch seine Bevölkerung zur Unterstützung eines Regimewechsels, einer von den USA geförderten »Farbenrevolution« anzuspornen. Der Traum ist es, einen Jelzin-ähnlichen Führer zu fördern, der der neoliberalen »Therapie« zustimmt, die Russlands Wirtschaft in den 1990er Jahren demontierte.
So erstaunlich es klingen mag, aber die US-Strategen haben nicht mit der offensichtlichen Reaktion der Länder gerechnet, die sich gemeinsam im Fadenkreuz der militärischen und wirtschaftlichen Bedrohung durch die USA/NATO befinden. Am 19. Juli 2022 trafen sich die Präsidenten Russlands und des Irans, um ihre Zusammenarbeit angesichts des gegen sie gerichteten Sanktionskriegs anzukündigen. Vorausgegangen war ein Treffen zwischen Russland und dem indischen Premierminister Modi. Die US-Diplomatie treibt Russland, China, Indien und den Iran dazu, sich zusammenzuschließen und Argentinien und anderen Ländern die Hand zu reichen, um der BRICS-plus-Bank beizutreten. Diese Art von Diplomatie wurde treffend als Methode charakterisiert, wie man »sich selbst in den Fuß schießt«.
Die USA beenden den Dollar-Standard des internationalen Finanzwesens
Die Trump-Administration unternahm im November 2018 einen wichtigen Schritt, um Länder aus der Dollar-Umlaufbahn zu vertreiben, indem sie fast 2 Milliarden Dollar der offiziellen Goldbestände Venezuelas beschlagnahmte, die in London gelagert wurden. Die Bank of England stellte diese Reserven Juan Guaidó zur Verfügung, dem rechtsgerichteten Politiker, der von den Vereinigten Staaten ausgewählt wurde, um den gewählten Präsidenten Venezuelas als Staatschef zu ersetzen. Dies wurde als »demokratisch« definiert, weil der Regimewechsel die Einführung des neoliberalen »freien Marktes« versprach, der als Kernstück der amerikanischen Definition von Demokratie in der heutigen Welt gilt.
Der Golddiebstahl war nicht die erste Beschlagnahme dieser Art. Am 14. November 1979 legte die Carter-Regierung nach dem Sturz des Schahs die iranischen Bankguthaben in New York lahm. Durch diesen Akt wurde der Iran daran gehindert, seine Auslandsschulden zu begleichen, was ihn in die Zahlungsunfähigkeit trieb. Diese Maßnahme wurde von allen Beteiligten als einmalige Ausnahme angesehen. Aber jetzt, da die Vereinigten Staaten die selbsternannte »außergewöhnliche Nation« sind, werden solche Beschlagnahmungen zur neuen Norm in der US-Diplomatie. Noch weiß niemand, was mit den libyschen Goldreserven geschah, die Muammar al-Gadaffi zur Stützung einer afrikanischen Alternative zum Dollar verwenden wollte. Und Afghanistans Gold und andere Reserven wurden von Washington einfach als Bezahlung für die Kosten der »Befreiung« des Landes von der russischen Kontrolle beschlagnahmt, die die Unterstützung der Taliban verursachte. Doch als die Biden-Regierung und ihre NATO-Verbündeten im März 2022 einen weitaus größeren Griff nach Russlands ausländischen Bankreserven und Devisenbeständen in Höhe von etwa 300 Milliarden Dollar unternahmen, wurde damit eine radikale neue Epoche der Dollar-Diplomatie eingeläutet. Jede Nation, die eine Politik verfolgt, die nicht im Interesse der US-Regierung liegt, läuft Gefahr, dass die US-Behörden ihre Währungsreserven in US-Bankguthaben oder Wertpapieren beschlagnahmen.
Dies war ein Warnsignal, das die Länder dazu veranlasste, sich davor zu fürchten, ihren Handel, ihre Ersparnisse und Auslandsschulden in Dollar zu halten und Dollar- oder Euro-Bankeinlagen und -Wertpapiere als Zahlungsmittel zu verwenden. Indem sie andere Länder dazu veranlassten, darüber nachzudenken, wie sie sich aus dem US-zentrierten Welthandels- und Währungssystem befreien könnten, das 1945 mit dem IWF, der Weltbank und später der Welthandelsorganisation geschaffen wurde, haben die US-Beschlagnahmungen das Ende des US-Schatzbriefstandards beschleunigt, der das Weltfinanzsystem bestimmt hat, seit die Vereinigten Staaten 1971 das Gold abschafften.[3]
Seit die Konvertierbarkeit des Dollars in Gold im August 1971 endete, hat die Dollarisierung des Welthandels und der Investitionen dazu geführt, dass andere Länder den größten Teil ihrer neuen internationalen Währungsreserven in US-Schatzbriefen und -Bankeinlagen halten müssen. Wie bereits erwähnt, ermöglicht dies den Vereinigten Staaten, ausländische Bankeinlagen und auf US-Dollar lautende Anleihen zu beschlagnahmen.
Am wichtigsten ist, dass die Vereinigten Staaten nach Belieben unbegrenzt Dollar-Schuldscheine schaffen und ausgeben können. Sie müssen keine internationale Kaufkraft durch einen Handelsüberschuss erwirtschaften, wie es andere Länder tun müssen. Das US-Finanzministerium kann einfach elektronisch Dollars drucken, um seine ausländischen Militärausgaben und den Kauf von ausländischen Ressourcen und Unternehmen zu finanzieren. Und da es das »Ausnahmeland« ist, muss es diese Schulden – die anerkanntermaßen viel zu hoch sind, um je beglichen zu werden – niemals erstatten. Ausländische Dollarbestände sind ein kostenloser Kredit an die Vereinigten Staaten, der ebenso wenig zurückgezahlt werden muss wie die Papierdollar in unseren Geldbörsen (die einfach aus dem Verkehr gezogen werden). Was an Amerikas Wirtschaftssanktionen und der Beschlagnahmung russischer und anderer ausländischer Reserven so selbstzerstörerisch zu sein scheint, ist die Tatsache, dass sie die vollständige Entwertung dieses Blankoschecks beschleunigen.
Rückschläge infolge der Isolierung der Wirtschafts- und Währungssysteme der USA/NATO
Es ist schwer zu erkennen, wie die Vertreibung von Ländern aus der wirtschaftlichen Umlaufbahn der USA den langfristigen nationalen Interessen der USA dienen soll. Die Aufteilung der Welt in zwei Währungsblöcke wird die Dollar-Diplomatie auf ihre NATO-Verbündeten und Satelliten beschränken.
Der Rückschlag, den die US-Diplomatie jetzt erlebt, beginnt mit ihrer Anti-Russland-Politik. Es wurde erwartet, dass die Verhängung von Handels- und Währungssanktionen die russischen Verbraucher und Unternehmen daran hindern würde, die US/NATO-Güter zu kaufen, an die sie sich gewöhnt hatten. Die Konfiszierung der russischen Devisenreserven sollte den Rubel zum Absturz bringen und ihn »in Schutt und Asche legen«, wie Präsident Biden versprach. Die Verhängung von Sanktionen gegen die Einfuhr von russischem Öl und Gas nach Europa sollte Russland die Exporteinnahmen entziehen, den Rubel zum Einsturz bringen und die Importpreise (und damit die Lebenshaltungskosten) für die russische Bevölkerung erhöhen. Stattdessen hat die Blockade der russischen Exporte zu einer weltweiten Preisinflation für Öl und Gas geführt und die russischen Exporteinnahmen drastisch erhöht. Es exportierte weniger Gas, verdiente aber mehr – und da Dollar und Euro blockiert waren, verlangte Russland die Bezahlung seiner Exporte in Rubel. Der Wechselkurs stieg, statt zu kollabieren, und ermöglichte es Russland, seine Zinssätze zu senken.
Der vom Westen provozierte Einsatz russischer Soldaten in der Ostukraine, die in Luhansk und Donezk angegriffene russischsprachige Menschen verteidigen, sowie die erwarteten Auswirkungen der daraufhin verhängten westlichen Sanktionen sollten die russischen Wähler dazu bringen, einen Regimewechsel zu fordern. Aber wie fast immer, wenn ein Land oder eine Ethnie angegriffen wird, waren die Russen entsetzt über den ukrainischen Hass auf russischsprachige Menschen und die russische Kultur sowie über die Russophobie des Westens. Als westliche Länder die Musik russischer Komponisten und russische Romane aus den Bibliotheken verbannten – und England schließlich russische Tennisspieler vom Wimbledon-Turnier ausschloss – fühlten sich die Russen angegriffen, nur weil sie Russen waren. Sie scharten sich um Präsident Putin.
Die Handelssanktionen der NATO haben dazu beigetragen, dass sich die russische Landwirtschaft und Industrie besser selbst versorgen können, da Russland gezwungen ist, in die Substitution von Einfuhren zu investieren. Ein viel beachteter Erfolg in der Landwirtschaft war die Entwicklung einer eigenen Käseproduktion, die jene von Litauen und anderen europäischen Lieferanten ersetzt. Die Automobil- und andere Industrieproduktion wird von deutschen und anderen europäischen Marken auf eigene und chinesische Hersteller verlagert. Das Ergebnis ist ein Verlust von Märkten für westliche Exporteure.
Im Bereich der Finanzdienstleistungen hat der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-Bankenclearing-System durch die NATO nicht zu dem erwarteten Chaos im Zahlungsverkehr geführt. Die Bedrohung bestand schon so lange, dass Russland und China genügend Zeit hatten, ihr eigenes Zahlungssystem zu entwickeln. Damit hatten sie eine der Voraussetzungen für die Abspaltung ihrer Volkswirtschaften von denen des US/NATO-Westens geschaffen.
Wie sich herausgestellt hat, verursachen die Handels- und Währungssanktionen gegen Russland Westeuropa die höchsten Kosten und werden wahrscheinlich auf den globalen Süden übergreifen, so dass diese Länder darüber nachdenken müssen, ob es in ihrem wirtschaftlichen Interesse liegt, sich der konfrontativen Dollar-Diplomatie der USA anzuschließen. Am stärksten ist die Störung in Deutschland zu spüren, wo viele Unternehmen wegen der Verknappung von Gas und anderen Rohstoffen schließen mussten. Die Weigerung Deutschlands, die North-Stream-2-Pipeline zu genehmigen, hat die Energiekrise in Deutschland weiter zugespitzt. Dies hat die Frage aufgeworfen, wie lange sich die deutschen Parteien noch der Politik des Kalten Krieges der NATO unterordnen können, wenn die deutsche Industrie und die Haushalte mit stark steigenden Heiz- und Stromkosten konfrontiert werden.
Je länger es dauert, den Handel mit Russland wiederherzustellen, desto mehr werden die europäischen Volkswirtschaften und die europäischen Bürger leiden, und desto weiter wird der Wechselkurs des Euro fallen, was die Inflation in allen Mitgliedsländern anheizen wird. Die europäischen NATO-Länder verlieren nicht nur ihre Exportmärkte, sondern auch ihre Investitionsmöglichkeiten in den eurasischen Ländern, deren staatliche Planung und deren Widerstand gegen die Finanzialisierung sich als viel produktiver erwiesen hat als das neoliberale Modell der USA/NATO.
Es ist schwer zu erkennen, wie eine diplomatische Strategie mehr als nur auf Zeit spielen kann. Das bedeutet, auf kurze Sicht zu leben, nicht auf lange Sicht. Die Zeit scheint auf der Seite Russlands, Chinas und der Handels- und Investitionsbündnisse zu stehen, die sie aushandeln, um die neoliberale westliche Wirtschaftsordnung zu ersetzen.
Das eigentliche Problem Amerikas ist seine neoliberale, postindustrielle Wirtschaft
Das Scheitern und die Rückschläge der US-Diplomatie sind das Ergebnis von Problemen, die über die Diplomatie selbst hinausgehen. Das zugrunde liegende Problem ist das Engagement des Westens für Neoliberalismus, Finanzialisierung und Privatisierung. Anstelle einer staatlichen Subventionierung der Lebenshaltungskosten, die Arbeitsleistungen ermöglicht, wird das gesamte soziale Leben dem »Markt« unterworfen – einem Markt, in dem Industrie, Landwirtschaft, Wohnungsbau und Finanzwesen dereguliert und zunehmend räuberisch werden, während Finanz- und Rentenvermögen – hauptsächlich der Reichtum des reichsten einen Prozents – stark subventioniert wird. Einkommen wird zunehmend durch Finanz- und Monopolrenten erzielt, und Vermögen werden durch schuldenfinanzierte »Kapital«-Gewinne bei Aktien, Anleihen und Immobilien gemacht.
Die US-Industrieunternehmen haben sich mehr um die »Schaffung von Wohlstand« bemüht, indem sie den Kurs ihrer Aktien steigerten und über 90 Prozent ihrer Gewinne für Aktienrückkäufe und Dividendenausschüttungen verwendeten, anstatt in neue Produktionsanlagen zu investieren und mehr Arbeitskräfte einzustellen. Das Ergebnis rückläufiger Kapitalinvestitionen ist die Demontage und finanzielle Kannibalisierung der Industrie, um finanzielle Gewinne zu erzielen. Wenn Unternehmen Arbeitskräfte einstellen und neue Produktionsanlagen errichten, geschieht dies im Ausland, wo Arbeitskräfte billiger sind.
Die meisten asiatischen Arbeitskräfte können es sich leisten, für niedrigere Löhne zu arbeiten, weil sie viel niedrigere Wohnkosten haben und keine Schulden für die Ausbildung machen müssen. Die Gesundheitsversorgung ist ein öffentliches Gut und keine finanzierte Markttransaktion, und die Renten werden nicht im Voraus von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bezahlt, sondern öffentlich finanziert. Insbesondere in China soll verhindert werden, dass der Rentiers begünstigende Finanz-, Versicherungs- und Immobiliensektor (FIRE) zu einem lästigen Kostenfaktor wird, dessen wirtschaftliche Interessen von denen einer sozialistischen Regierung abweichen.
China betrachtet Geld als öffentliches Gut, das geschaffen, ausgegeben und verliehen wird, um zur Steigerung der Produktivität und des Lebensstandards (und zunehmend auch zum Schutz der Umwelt) beizutragen. Es lehnt das von den USA unterstützte neoliberale Modell ab, das vom IWF, der Weltbank und der Welthandelsorganisation vorgegeben wird.
Die globalen wirtschaftlichen Verwerfungen gehen weit über den Konflikt der NATO mit Russland in der Ukraine hinaus. Als die Regierung Biden Anfang 2021 ihr Amt antrat, hatten Russland und China bereits über die Notwendigkeit diskutiert, ihren Außenhandel und ihre Investitionen zu entdollarisieren und ihre eigenen Währungen zu verwenden.[4] Das bedeutet einen Quantensprung in der Organisation einer neuen Zahlungsverkehrsinstitution. Die Planung war noch nicht über grobe Umrisse der Funktionsweise eines solchen Systems hinausgekommen, aber die Beschlagnahmung der russischen Währungsreserven durch die USA machte eine solche Planung dringend erforderlich, angefangen bei einer BRICS-plus-Bank. Eine eurasische Alternative zum IWF würde dessen Fähigkeit beseitigen, neoliberale »Sparauflagen« durchzusetzen, um die Länder zu zwingen, ihre Zahlungen an die Arbeitnehmer zu senken und ihre ausländischen Gläubiger vorrangig zu bezahlen, anstatt sich selbst zu ernähren und ihre eigenen Volkswirtschaften zu entwickeln. Neue internationale Kredite werden nicht mehr in erster Linie zur Begleichung von Dollar-Schulden vergeben, sondern sind Teil eines Prozesses neuer gegenseitiger Investitionen in die Basisinfrastruktur, um das Wirtschaftswachstum und den Lebensstandard zu erhöhen. Andere Institutionen werden in dem Maße aufgebaut, wie China, Russland, Iran, Indien und ihre künftigen Verbündeten eine ausreichend große kritische Masse erreichen, um auf der Grundlage ihres eigenen Reichtums an Bodenschätzen und ihrer Produktionskraft einen »Alleingang« zu wagen.
Die Politik der USA bestand darin, mit der Destabilisierung von Ländern zu drohen und sie vielleicht zu bombardieren, bis sie sich bereit erklären, neoliberale Politiken zu übernehmen und ihren öffentlichen Bereich zu privatisieren. Aber gegen Russland, China und den Iran vorzugehen, ist eine viel größere Herausforderung. Die NATO hat sich selbst der Fähigkeit beraubt, einen konventionellen Krieg zu führen, indem sie ihre – zugegebenermaßen weitgehend veralteten – Waffenbestände in der Ukraine der Vernichtung preisgab. In jedem Fall kann keine Demokratie in der heutigen Welt eine Wehrpflicht auferlegen, um einen konventionellen Landkrieg gegen einen bedeutenden, großen Gegner zu führen. Die Proteste gegen den Vietnamkrieg in den späten 1960er Jahren beendeten die Wehrpflicht in den USA, und die einzige Möglichkeit, ein Land wirklich zu erobern, besteht darin, es im Landkrieg zu besetzen. Diese Logik impliziert auch, dass Russland ebenso wenig in der Lage ist, in Westeuropa einzumarschieren, wie die NATO-Staaten Wehrpflichtige in den Kampf gegen Russland schicken können.
Damit bleibt den westlichen Demokratien nur noch eine Art von Krieg: der Atomkrieg – oder zumindest die Bombardierung aus der Ferne, wie sie in Afghanistan und im Nahen Osten praktiziert wurde, ohne dass westliche Arbeitskräfte benötigt werden. Das hat natürlich nichts mit Diplomatie zu tun, sondern lediglich mit Zerstörung. Aber das ist die einzige Taktik, die den Vereinigten Staaten und der NATO in Europa zur Verfügung steht. Die Konstellation ähnelt frappant der Dynamik einer griechischen Tragödie, in der Macht zu Hybris führt, die anderen schadet und daher letztlich asozial und selbstzerstörerisch wird.
Wie können die Vereinigten Staaten ihre weltweite Vorherrschaft aufrechterhalten? Sie haben sich deindustrialisiert und Auslandsschulden angehäuft, deren Rückzahlung nicht absehbar ist. Gleichzeitig verlangen ihre Banken und Anleihegläubiger, dass der globale Süden und andere Länder ausländische Dollar-Anleihegläubiger bezahlen. Und dies angesichts einer Handelskrise, die aus den steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen resultiert, die durch Amerikas antirussische und antichinesische Kriegstreiberei verursacht wurde. Diese Doppelmoral ist ein grundlegender innerer Widerspruch, der zum Kern der heutigen neoliberalen, westlichen Weltsicht führt.
Ich habe die möglichen Szenarien zur Lösung dieses Konflikts in meinem kürzlich erschienenen Buch The Destiny of Civilization: Finance Capitalism, Industrial Capitalism or Socialism beschrieben. Es ist auch als E-Book erhältlich.
Originalveröffentlichung unter einer Creative Commons Licence hier.
Michael Hudson ist Finanzanalyst und Forschungsprofessor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Missouri in Kansas City. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Siehe den Beitrag Die Hegemonie des US-Dollars ist vorüber.
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Anmerkungen:
- Interview von Außenminister Sergej Lawrow mit dem Fernsehsender RT, der Agentur Sputnik und der internationalen Informationsagentur Rossiya Segodnya, Moskau, 20. Juli 2022, Russisches Außenministerium, 20. Juli 2022. https://mid.ru/en/foreign_policy/news/1822901/. Aus Johnson’s Russia List, 21. Juli 2022, #5. ↑
- Internationale Seeschifffahrtsorganisation, Maritime Security and Safety in the Black Sea and Sea of Azov. Siehe Yves Smith, Some Implications of the UN’s Ukraine Grain and Russia Fertilizer/Food Agreements, Naked Capitalism, 25. Juli 2022, und Lawrows Rede vor der Arabischen Liga vom 24. Juli. ↑
- Mein Buch Superimperialism: The Economic Strategy of American Empire (3. Aufl. 2021) beschreibt, wie der Schatzbrief-Standard Amerika einen Blankoscheck verschafft und es ihm ermöglicht hat, ungehindert Zahlungsbilanzdefizite zu machen, einschließlich der Kosten für seine Militärausgaben in Übersee. ↑
- Radhika Desai und Michael Hudson (2021), Beyond Dollar Creditocracy: A Geopolitical Economy, Valdai Club Paper Nr. 116. Moskau: Valdai Club, 7. Juli, nachgedruckt in Real World Economic Review (97). Download. ↑
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