Zuletzt aktualisiert am 5. März 2017.
3. Christus, der Bräutigam der Menschheitsseele
Der Hauptgedanke des Johannes-Evangeliums lässt sich laut Steiner verstehen, wenn man den Sinn der Menschheitsentwicklung erfasst. [1] Der Sinn dieser Entwicklung besteht in der Ichwerdung, der Individualisierung des universellen Menschen, der aus dem Geist des Urgottheit hervortritt, um über Stufen der kosmischen und irdischen Evolution einem Leib entgegenzuwachsen, der die Grundlage für diese Ichwerdung bilden soll. In äußerster Gottferne findet der universelle Mensch zu sich selbst, nur um zu erkennen, dass der Weg, der ihn zu sich führte, ihn zugleich seines Zusammenhangs mit dem Allleben beraubte. Der Verlust dieses Zusammenhangs war der Preis seiner Individualisierung. Der Tod ist der Sünde, das heißt, der Sonderung Sold. Allein aus dem göttlichen Leben kann jene Überwindung des Todes kommen, die nicht zugleich das erworbene Selbstbewusstsein vernichtet. Davon handelt dieser Vortrag in Anknüpfung an das Johannes-Evangelium. Bereits das Eingangskapitel spricht davon, wie sich durch die Ankunft des Christus Jesus die gesamte Menschheit verändert. Die Bedeutung dieser Ankunft lässt sich aus der Parallele zwischen Gattungsentwicklung und Entwicklung des Einzelmenschen begreifen.
Die Gattung entwickelte sich durch aufeinanderfolgende Zeitalter: das polarische, hyperboräische und lemurische. Im ersten passte sich der physische Leib, im zweiten der Ätherleib und im dritten der Astralleib an die irdischen Verhältnisse an: die Vehikel der Individualisierung.
Im atlantischen Zeitalter entstanden aus dem Astralleib nacheinander drei Seelenglieder: Empfindungsseele, Verstandesseele und Bewusstseinsseele. Vor dem Erwachen der Bewusstseinsseele waren die Hauptfähigkeiten des Menschen Sprache und Gedächtnis. Die Fähigkeit des logischen Denkens war noch nicht ausgebildet.
Erst mit dem Aufdämmern des Bewusstseins beginnt das fünfte Zeitalter, die nachatlantische Zeit. In diesem Zeitalter hat die Menschheit das Geistselbst auszubilden. Dieses Geistselbst wird als ein höheres geistiges Prinzip charakterisiert, das sich in den Menschen herabsenkt und in ihm wirkt, bis es endlich in der Bewusstseinsseele sich selbst ergreift und als individuelles geistiges Wesen jedes einzelnen Menschen erkennt. Es wird den einzelnen Seelengliedern des Menschen durch höhere Wesenheiten eingeprägt, genauer gesagt durch Angeloi, die dieses geistige Wesensglied bereits ausgebildet haben.
Mit dem ersten Aufleuchten des Geistselbstes tritt die erste Kultur des fünften Zeitalters in Erscheinung: die vorvedische, urindische. Auf sie folgen die persische, die chaldäisch-ägyptisch-hebräische und als vierte die griechisch-lateinische. Die gegenwärtige Menschheit gehört der fünften Kulturepoche oder Bewusstseinsstufe an. Auf die gegenwärtige Kulturepoche werden zwei weitere folgen.
Zu Beginn des fünften Zeitalters ist der Astralleib das vorherrschende Glied der Menschheit, das Geistselbst senkt sich in diesen herab. Da die Verstandeskräfte des Geistselbstes erst ansatzweise vorhanden sind, erwecken die spirituellen Führer dieser Epoche das alte Hellsehen wieder in sich, indem sie jene unterdrücken. Mit Hilfe des sympathischen Nervensystems bilden sie ein traumartiges Hellsehen aus. Das Geistselbst senkt sich in dieses Nervensystem und damit die tieferen Schichten des Astralleibs. Daraus ist die »herrliche Traumwelt des alten Indien begreiflich, das große und weite, aber dämmrige und dumpfe Erfassen des Brahman«.
In der zweiten Kulturepoche erhebt sich das Geistselbst in die Empfindungsseele. Hier tritt die Dualität von Mensch und Welt, Gut und Böse, Ormuzd und Ahriman auf. Die persische Kulturstufe sucht den entstandenen Zwiespalt zu überwinden, indem sie die vom Geist der Finsternis durchdrungene Stofflichkeit zum guten Gott, zu Ormuzd zurückführt.
Die ägyptisch-assyrisch-israelitische Bewusstseinsstufe wird durch den Aufstieg des Geistselbstes in die Verstandesseele erreicht. Sie strebt danach, die Welt verstandesmäßig zu begreifen, insbesondere wird das Geistselbst, die himmlische Weisheit, im Kosmos gesucht. Daraus resultiert die chaldäische Astrologie, die jene ewigen Gesetze erkennt, welche den Lauf der Gestirne und das menschliche Schicksal bestimmen. Die chaldäischen Priesterweisen blicken hinauf zu den Sternen und sehen in ihnen die Offenbarungen der Götter. Im »auserwählten Volk« waltet das Geistselbst in der Organisation der Gemeinschaft, die Gesetzgebung des Moses, ein Abbild der Sternenweisheit der Chaldäer, schafft den in sich geschlossenen Volkskörper, der sich aus den zwölf Stämmen bildet.
Auf der nächsten Kulturstufe, die Griechenland und Rom repräsentieren, dringt das Geistselbst in die Bewusstseinsseele. Wird es von dieser ergriffen, kommt das Geistige im Menschen zu einem Bewusstsein seiner selbst. Nicht nur mit Verstand und Gemüt wird nun die Welt durchdrungen, wie im Gesetz Jahwes, im Griechentum kommt der gesamte geistige Inhalt des Ich zur Erscheinung, die Götter nehmen Menschengestalt an. Rom schafft im Staat ein »idealisiertes Abbild« dieses Ich. »Die griechischen Götter und der römische Staat sind das Abbild dessen, was das Ich in sich hat und objektiv zu machen sucht«.
Die fünfte Bewusstseinsstufe, repräsentiert durch die anglo-germanische Kultur, die im 15. Jahrhundert aufgeht, soll das Geistselbst im Geistselbst zum Ausdruck bringen. Der Mensch wird begreifen lernen, was das Geistselbst seinem Wesen nach ist. Aber obwohl diese Epoche mit dem Beginn der Neuzeit angebrochen ist, sind bisher nur Wenige zum Verständnis dieses Wesens vorgedrungen. Die Aufgabe besteht darin, das Denken mit dem Denken zu ergreifen, die »Ewigkeitsschlange zu runden«. Das Denken muss zum Organ werden, durch das sich das individuelle geistige Wesen des Menschen selbst erfasst. Steiner weist an dieser Stelle auf seine Philosophie der Freiheit hin, deren Zweck es sei, diese individuelle geistige Selbsterfassung anzuregen.
An die fünfte schließen sich zwei weitere Bewusstseinsstufen: Auf der sechsten leuchtet der Lebensgeist als himmlische »Gabe«, »wie ein Licht von oben«, in das Geistselbst hinein. »Diese Kulturstufe ist die künftige«. Bereits auf der griechisch-lateinischen Bewusstseinsstufe begann dieses Leben »gnadenhaft« in die Menschheit einzufließen. Christus Jesus war es, der den göttlichen Lebensgeist, den alles belebenden Geist, als eine dem Menschen »völlig fremde Macht« vom Himmel auf die Erde heruntertrug.
Eben davon handelt das Johannes-Evangelium. Zwei Bedingungen mussten erfüllt sein, damit der Lebensgeist wirksam werden konnte: es mussten Menschen vorhanden sein, die ein »aus dem Geistselbst gebildetes Organ« (einer Gralsschale gleich) für die Aufnahme des Lebensgeistes besaßen, und diese Menschen mussten einen Durst danach empfinden, über den bis dahin entwickelten Verstand hinauszukommen. Nun existierten solche Menschen: sie wurden mit dem Namen »Johannes« bezeichnet. Auch der Täufer gehörte zu ihnen. Christus und der Lebensgeist sind dasselbe.
Während die Entwicklung des Geistselbstes in der Bewusstseinsseele ein entsprechend ausgebildetes Gehirn als Spiegelungsorgan voraussetzte, wird die Aufnahme des Lebensgeistes in der sechsten Bewusstseinsstufe durch das Herz erfolgen. Das Herz ist das Organ des Lebensgeistes, es wird zu jenem willkürlichen Muskel werden, als der es bereits heute angelegt ist. Die siebente Kulturstufe wird mit der Aufnahme des Geistesmenschen beginnen, Träger dieser Aufnahme wird der Atmungsorganismus sein (Atma = Atem).
Als quergestreifter Muskel ist das Herz auf die Zukunft vorbereitet, es steht erst am Anfang seiner Entwicklung. So wie heute das Gehirn, das Spiegelungsorgan des Geistselbstes durch die Zirkulation des Blutes genährt wird, wird einst der Lebensgeist im Herzen und vom Herzen aus wirken.
Der einströmende Lebensgeist verändert das Verhältnis des Menschen zu seinem Blut, das vom Träger des Kollektivbewusstseins zum Träger des Egoismus, schließlich zum Träger des selbstlosen Selbstbewusstseins wird. In der Urzeit herrschte in den Stämmen und Völkern das Prinzip der Nahehe (Endogamie). Es existierten viele kleine Stammes- und Volksgruppen, die durch Blutsverwandtschaft verbunden waren und auf einen großen Ahnherrn als ihren gemeinsamen Stammvater zurückblickten. Überall lässt sich jedoch der Übergang zur Exogamie, zur Fernehe beobachten. Viele Sagen erzählen von den Konflikten, die bei diesem Übergang auftraten. Die endogamen Gemeinschaften besaßen ein auf das sympathische Nervensystem gestütztes Bewusstsein: ein instinktives Hellsehen und das intuitive Vermögen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Sie handelten aus moralischen Instinkten. Mit dem Übergang zur Fernehe verlieren sich diese Fähigkeiten. An die Stelle des instinktiven Hellsehens tritt der Verstand, an die Stelle der instinktiven Moral das äußere Gesetz. »Aus der Nacht des alten Instinktes dämmert das moralische Sternenlicht auf«. Ausdruck für diesen Übergang ist die »mosaische Gesetzesreligion«. Sie wird durch ein neues Licht abgelöst, das Christuslicht, das den Menschen zu seinem eigenen Gesetzgeber macht und ihm die Fähigkeit verleiht, nicht nur aus Liebe zum Nächsten, sondern auch zum Fernsten zu handeln.
Dem moralischen Instinkt der Stammesgesellschaften entspricht auf höherer Stufe der Lebensgeist oder »das Christus-Prinzip«, das nun nicht mehr in begrenzten Gemeinschaften, sondern in der gesamten Menschheit zu wirken beginnt. In Christus ist dieser Übergang »Fleisch geworden«. Er trat in Erscheinung, als die »Blutsbande« des Stammes durch die Fernehe soweit gelockert waren, dass sich der »Gott des Stammes« zum Gott aller Menschen wandeln konnte und die »Blutsbrüderschaft« sich zur »Pflicht gegen jeden Mitmenschen« erweiterte. Die »Stammestreue« sollte von der »Gottestreue« abgelöst werden, der Treue zu jenem Geistgott, der die gesamte Menschheit umschließt. Durch das Christuslicht im Lebensgeist, der als Gnadengabe in den Menschen einströmt, werden die früheren Lebensformen aufgehoben: der durch die Blutsbande bedingte Moralinstinkt wird ebenso außer Kraft gesetzt, wie das Priestergesetz, »Stammesautoritäten« wie Moses oder Jahwe verlieren ihre Bedeutung.
Das neue Gesetz, das Jesus Christus verkündet, lautet: »Wer nicht verlässt Vater und Mutter und Bruder um meinetwillen, der kann nicht mein Jünger sein«. Dieser Satz hebt die Blutsbande der Verwandten- und Stammesgemeinschaft auf, durch das Christentum wird die einstige Blutsliebe auf alle Menschen ausgeweitet. Nur wer sein individuelles Leben an diesem Gesetz ausrichtet, kann Christus nachfolgen. Christus ist der Überwinder aller menschlichen Gemeinschaften, die auf Abstammung, Verwandtschaft und Vererbung gründen. Die alten Stammesgötter, so Steiner, hatten »unauflösliche Ehen« mit ihren Völkern geschlossen, zusammen mit ihren Völkern, also den endogamen Gemeinschaften, mussten sie vergehen. Durch Christus zieht ein neuer Geist in die Menschheit ein, der sich mit der einzelnen Menschenseele verbindet, die sich durch die Reihe aufeinanderfolgender Inkarnationen fortentwickelt. An die Stelle der Kollektive tritt die einzelne menschliche Individualität. Menschen, die mit dem Würdenamen, der spirituellen Rangbezeichnung »Johannes« benannt wurden, empfanden die brennende Sehnsucht nach etwas, das über das alte Gesetz und die alte Gerechtigkeit hinausging, sie »dürsteten nach dem neuen Menschensohn«. Christus befriedigte diese Sehnsucht als »Bräutigam der Menschheitsseele«, dessen Braut die Menschheit war. Daher ist »Christus oder der Lebensgeist« der eingeborene Sohn Gottes.
Ein Symbol der Verbindung, die dieser Bräutigam mit der Seele der Menschheit feiert, ist die Hochzeit zu Kana. In Galiläa strömten allerlei Völker in buntem Gemisch durcheinander, hier hatte sich die Fernehe schon ausgewirkt und die alten Stammesbande zerbrochen. Bei dieser Hochzeit war die Mutter Jesu anwesend, die jedoch nie als Maria bezeichnet wird. Sie trägt keinen Eigennamen, denn es handelt sich um die Seele des Menschen, die erst ausreifen muss, damit sie Christus in sich ausgebären kann. Daher die schroffe Zurückweisung durch Jesus (»Weib, was habe ich mit dir zu schaffen. Meine Stunde ist noch nicht gekommen«). »Niemals hätte eine so hohe Individualität wie Christus so zu seiner leiblichen Mutter gesprochen«.
Auch das Gespräch mit der Samariterin am Jakobsbrunnen zeigt die Auflösung des an die Blutsverwandtschaft gebundenen Stammesbewusstseins: Jakob ist der Repräsentant der Stammesgottheit, der Brunnen die alte Tradition, aus der geschöpft wurde, die aber den Durst nicht länger stillt. An die Stelle des Geistes, der durch das Blut des Stammes floss, soll der Lebensgeist treten, von dem jeder einzelne Mensch ergriffen wird: »Wer aber vom Wasser trinkt, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten; sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt«.
Der »Menschengott« oder Menschheitsgott vermählt sich mit der Menschenseele, der Lebensgeist senkt sich in das Geistselbst herab, fortan kann die Menschheit das Bewusstsein von Gut und Böse aus einem anderen Quell, dem Quell des »lebendigen Wassers« schöpfen, sie muss es nicht mehr aus dem versiegenden Brunnen des Vaters Jakob, der mosaischen Gesetzgebung, beziehen.
4. Christus als Himmelsleiter, auf der die Engel auf- und niedersteigen
Im vierten Vortrag [2] trägt Steiner weitere Bausteine zusammen, um das Wesen der Einweihung oder Erweckung und damit das Johannes-Evangelium und seine Christologie dem Verständnis nahezubringen. Dazu greift er noch einmal auf die Anthropologie und ihre Beziehung zum Kosmos zurück. Die ontologischen Schichten der Wirklichkeit unterscheiden sich nicht nur phänomenologisch, sondern auch durch ihren geistigen Gehalt.
Der Mensch fasst den gesamten Kosmos, die gesamte Natur in sich und ist mit allen Wesen verwandt. Sein physischer Leib entspricht der Mineralwelt, sein Ätherleib der Pflanzenwelt, sein Astralleib der Tierwelt. Durch sein Ich-Bewusstsein erhebt er sich über diese drei Reiche.
In allen Naturwesen ist Bewusstsein vorhanden, nichts ist bewusstlos. Der Kristall besitzt zwar in der physischen Welt kein Selbstbewusstsein, kein »Ich« – wohl aber in einer anderen Welt, einer anderen ontologischen Wirklichkeitsschicht. Am Modell des Menschen lässt sich dies erläutern. Sein viergliedriges Wesen beruht darauf, dass sein Ich in dieser physischen Welt anwesend ist und die übrigen Glieder seiner Organisation durchdringt, die ebenfalls der physischen Welt angehören. Folgende Übersicht macht dies deutlich:
Die drei Leiber des Tieres befinden sich in der physischen Welt, sein Ich in der Astralwelt; deswegen besitzt das Tier keine individuelle Seele, sondern eine »Gruppenseele«. Das einzelne Tier verhält sich zu seiner Gruppenseele, wie die Finger der Hand zum Ich des Menschen. So wie das Ich im einzelnen Finger anwesend ist, so die gemeinsame Seele einer bestimmten Tierart im einzelnen Tier, aber der einzelne Finger besitzt ebensowenig ein eigenes Ichbewusstsein wie das einzelne Tier. Die einzelnen Löwen sind Glieder des in der Astralwelt befindlichen Löwen-Ich. Ebenso, wie sich das Ich des Menschen in der physischen Welt entwickelt, entwickelt sich die Gruppenseele der Tiere in der Astralwelt. Diese Entwicklung der Gruppenseelen entspricht der Entwicklung des (einzelnen) menschlichen Ich in der physischen Welt.
Die Pflanzen sind Gebilde, deren physischer und Ätherleib sich in der physischen Welt befindet, während ihr Astralleib in der Seelenwelt, und ihr Ich in der unteren Geistwelt weilt. Gleichartige Pflanzen besitzen ein gemeinsames Ich. Der Mensch verfällt im traumlosen Schlaf zeitweise in jenes Bewusstsein, von dem die Pflanzen ihr ganzes Leben lang erfüllt sind. Die Pflanzenwelt der Erde befindet sich in permanentem Schlafzustand und führt ein Traumleben.
Mineralien schließlich sind nur mit ihrem physischen Leib in der physischen Welt anwesend, ihr Ätherleib befindet sich in der Astralwelt, ihr Astralleib in der unteren und ihr Ich in der oberen Geistwelt. Die untere Geistwelt ist die Welt »gestalteter«, die obere eine Welt »gestaltloser« Geistkeime. (Diese Ontologie der höheren Welten wurde von Steiner bereits in der Theosophie dargestellt. Von den »formlosen« und »gestalteten Geistkeimen« handelt das Kapitel »Die physische Welt und ihre Verbindung mit Seelen- und Geisterland«).
Auch das Mineral denkt, fühlt und will, nur nicht in der physischen Welt, sondern in der geistigen. Lediglich seine leblosen Teile sind in der physischen Welt sichtbar. Das Verhältnis des Minerals zu seiner Seele ist dasselbe, wie das der Nägel und Knochen zum Menschen-Ich. Der Kristall als Gegenstand ist der physische Leib eines selbstbewussten Wesens, dessen Selbst im Fixsternhimmel zu suchen ist.
Nun besitzen die einzelnen Wesensglieder des Menschen, die in der physischen Welt anwesend sind, ihr je eigenes Bewusstsein, und da Bewusstsein stets Träger eines solchen Bewusstseins voraussetzt, sind die betreffenden Wesensglieder vom Bewusstsein höherer geistiger Wesen durchdrungen. Das »Eigenbewusstsein« des physischen Leibes befindet sich in der oberen Geistwelt, der Mensch weiß nichts von ihm, es »spukt« jedoch in seinen Gliedern. Das »Bewusstsein« des Ätherleibes hat seinen Sitz in der unteren Geistwelt. Das »Bewusstsein« des Astralleibs weilt in der Astralwelt.
Allein das Ich des Menschen ist in der physischen Welt als solches heimisch und gelangt hier zum Selbstbewusstsein.
Die Arbeit des Ich an seinen Leibern besteht darin, sich den Bewusstseinsinhalt jener Wesenheiten, der ihm zunächst un- oder überbewusst ist, anzueignen. (Diesen Vorgang thematisierten bereits die Aufsätze Wie erlangt man Erkenntnisse …, siehe: Das Geheimnis des Hüters der Schwelle. Dort war von geistigen Wesenheiten die Rede, deren Aufgaben der Mensch im Verlauf seiner Einweihung Schritt für Schritt übernehmen muss. Aus dem ganzen Zusammenhang geht hervor, dass Steiner hier von den geistigen Wesensgliedern Geistselbst, Lebensgeist und Geistesmensch und den zu ihnen in Beziehung stehenden Geistwesen, den Engeln, Erzengeln und Zeitgeistern spricht).
Darin, sich die Tätigkeit dieser höheren Wesenheiten bewusst zu machen, besteht die Einweihung. Wenn der Mensch seinen Astralleib durch sein Ich umwandelt, steigt er in die Astralwelt hinauf – oder hinab, die Richtungsbezeichnungen sind im ortlosen geistigen Raum obsolet – und »wird ein Genosse aller astralischen Wesenheiten«. Er ist von einer Umwelt geistiger Wesen umgeben, die Astralbewusstsein besitzen.
Wenn er seinen Ätherleib umwandelt, steigt er in die unteren Regionen der geistigen Welt hinauf; um ihn herum treten »ätherische Wesenheiten auf«, er sieht das Licht nicht nur als Licht, sondern »als Träger lichtvoller Wesenheiten«; mit den physischen Sonnenstrahlen »dringen Engelwesenheiten an ihn heran, deren Leiber aus Licht bestehen«. Steigt er in die geistigen Tiefen seines physischen Leibes hinab – oder hinauf – wird er »mit dem Urvater der Welt eins«. Er kann von sich sagen: »Ich und der Vater sind eins«. Der Ausdruck »Vater« ist ein Gattungsname, der eine ganze Kategorie von Wesenheiten bezeichnet. Der Urvater besteht aus vielen Vätern.
Eine Persönlichkeit, die so hoch eingeweiht ist, dass sie sich die höheren Wesenheiten zum Bewusstsein gebracht hat, die in ihren Leibern wirken, tritt Johannes in Christus Jesus entgegen. Johannes sieht in ihm die Epiphanie der Wesenheiten der drei genannten Welten, der Engel, Erzengel und Zeitgeister. Daher kann Nathanael zu Jesus sagen: »Meister, Du bist Gottes Sohn« – also ein hoher Eingeweihter. Jesus aber erwidert: »Von nun an werdet ihr den Himmel offen sehen und die Engel Gottes auf- und niedersteigen auf des Menschen Sohn«. Das heißt, die Angesprochenen werden jene geistigen Wesenheiten sehen, die seine unteren Wesensglieder oder Bewusstseinsschichten durchleuchten, deren Fähigkeiten, Wissen und Kräfte er sich angeeignet hat. Der Mensch wird in Jesus Christus zu einer Jakobsleiter, auf der die Engel Gottes auf- und absteigen.
Einweihung bedeutet – ebenso wie Bewusstseinsentwicklung – Individualisierung. Diese verläuft vom Allgemeinen zum Besonderen, von der Einheit zur Vielheit. Ist aber die Individualisierung erreicht – hat das Ich des Menschen im physischen Leib ein Selbstbewusstsein erlangt –, kann es wieder aufsteigen, und den Inhalt jener früheren Kollektivmächte in sich aufnehmen, deren unselbstständiges Glied es vor seiner Individualisierung war.
So gehörte der Mensch, bevor er in die physische Welt herabstieg, als er den »Blut-Rubikon« [3] noch nicht überschritten hatte, einer Gruppenseele der Astralwelt an – er war ein unselbstständiges Glied im Geistleib eines Erzengels. Der ganze Stamm war in diese Gruppenseele eingebettet. Beim Herabsteigen einer solchen Gruppenseele in die physische Welt geschieht dasselbe wie beim Samenkorn: das Korn wird in die Erde gelegt, und es entsteht daraus eine Ähre mit vielen Körnern. Aus dem geistigen Ur-Ich der Menschheit entstehen die vielen einzelnen Individualisierungen dieses Ich.
Den umgekehrten Weg beschreiten die Eingeweihten: sie steigen aus dem Zustand der Individualisierung wieder in den Zustand von Gruppenseelen auf, mit anderen Worten: sie werden zu Erzengeln. Solche menschlichen »Erzengel« entstehen, wenn sich »um einen Eingeweihten eine Anzahl von Menschen kosmisch zusammenfinden und zu Gliedern eines gemeinsamen Leibes werden. Eingeweihte werden so zu Volksseelen«. Das »auserwählte Volk« beispielweise, besaß eine die Einzelnen verbindende, gemeinsame Seele, eine menschliche Individualseele, die in den Rang einer Volksseele aufgestiegen war.
Eine einzelne Seele kann durch die Einweihung denselben Weg schneller zurücklegen, den jene Volksseele in Jahrhunderten absolviert hat: Sie wird zur Gruppenseele. Der Eingeweihte erweitert sein Bewusstsein. Er gelangt auf dieselbe Stufe wie die Seele eines ganzen Volkes. Ein solcher wird als »wahrer Israelit« oder – in der Mithras-Einweihung – als »Perser« bezeichnet. Steiner spricht nun über die sieben Stufen dieser Einweihung, deren fünfte die eines Volksgeistes, deren höchste (siebte) die des Vaters ist. Auf der Stufe des Vaters vereinigt sich die Einzelseele »mit dem Urgeist«.
Ein astrales Bild für den Eingeweihten der fünften Stufe ist das Aufleuchten des Lebensbaumes, unter dem dieser Eingeweihte sitzt – diese Stufe erreichte Buddha, aber auch Nathanael, der von Jesus als »wahrer Israelit« bezeichnet wird, den er unter dem Feigenbaum sitzen sah. Nathanael erkennt in Christus den höheren Eingeweihten, daher bezeichnet er ihn als Sohn Gottes (des Vaters). Christus, so Steiner, ist ein Eingeweihter des siebenten Grades, der sein Bewusstsein bis zum Vater erweitert hat, davon zeugt sein Wort: »Ich (oder das Ich-Bin) und der Vater (oder das Göttliche) sind eins«. Christus ist das Leben (Lebensgeist) und das Licht (Geistselbst) der Menschen, er hat sein hohes Bewusstsein bis in den physischen Leib heruntergeführt.
Die ersten fünf Einweihungsstufen (der Mithras-Einweihung, vom Raben bis zur Volksgeiststufe) spielen sich in der Astralwelt ab. Die sechste Stufe (der Sonnenheld oder Sonnenläufer) wiegt diese fünf auf, durch sie steigt der Mensch in seinen Ätherleib hinab und wandelt ihn in Lebensgeist um. Während Völker durch die Umwandlung des Astralleibes auseinander hervorgehen, führt die Umwandlung des Ätherleibes von einer Kulturepoche zur nächsten. [4] Der Sonnenheld umfasst in seinem Bewusstsein ganze Kulturepochen (die Dauer der Kulturepochen wird vom Durchgang der Sonne durch die aufeinanderfolgenden Tierkreiszeichen bestimmt).
Die siebente Stufe schließlich, die Vater-Einweihung, führt zur Erweiterung des Bewusstseins über die Kulturepochen hinaus auf die ganze Menschheit, »zu allen Völkern und Zeitepochen des ganzen Planeten«. Christus Jesus ist der »Repräsentant dieser Einweihungsstufe«: »er trägt die ganze Menschheit in sich«. Deshalb bezeichnet das Johannes-Evangelium die Menschheit als Braut, den eingeweihten Menschensohn als Bräutigam. Christus Jesus umfasst »im Extrakt das Bewusstsein der ganzen Menschheit«.
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Anmerkungen
[1] 31. Oktober 1906
[2] 2. November 1906
[3] Mit der Überschreitung des »Blut-Rubikon« ist die Überwindung der Blutsbande, der Nahehe gemeint.
[4] Später differenzierte Steiner diese ontologischen Schichten weiter aus: Völker ordnete er Erzengeln und Kulturepochen Zeitgeistern zu, trotzdem wirken Erzengel auch als Zeitalterregenten. Siehe z.B. GA 121, 7. Juni 1910.