Wem gehört der Leib? Nachdenken über das Gesundheitsregime

Zuletzt aktualisiert am 6. Juni 2021.

Wem gehört der Leib? Die nicht nur in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellose Ausweitung des staatlichen Zugriffs auf unser Leben aufgrund der von der WHO erklärten Corona-Pandemie regt das Nachdenken über das Gesundheitsregime an. Beim folgenden Text handelt es sich um einen Versuch, nicht um die Verkündigung einer letzten Wahrheit.

Wem gehört der Leib?

Hieronymus Bosch. Garten der Lüste. Ausschnitt aus der mittleren Tafel.

Eine fundamentale Frage ist: Wem gehört der Leib?

Spontan könnte man auf diese Frage antworten: »Mein Leib gehört mir«. Ein ähnliches Argument wurde in den Auseinandersetzungen um die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs verwendet, bei welchem es offenkundig nicht nur um den eigenen Leib geht, sondern auch um die in diesem Leib heranwachsende Person.

Die Frage nach dem Leib. Gesundheit und Krankheit

Nun aber fragen wir nur nach dem eigenen Leib und nach der ihm anhaftenden Gesundheit. Gesundheit ist ein Zustand, in dem sich mein Leib befindet, Krankheit ein anderer. (Wir sprechen hier nur von Krankheiten des Leibes, nicht von solchen der Seele oder des Geistes). Die meisten Krankheiten betreffen als Zustände meines Leibes in erster Linie mich selbst und andere Menschen nur insofern, als sie von meiner Krankheit sozial berührt werden: als Angehörige, als Mitarbeiter des Gesundheitswesens, als Beitragszahler, die das Gesundheitswesen mitfinanzieren.

Anders verhält es sich mit ansteckenden Krankheiten, Zuständen meines eigenen Leibes, die per definitionem nicht bei mir bleiben, sondern auf andere übergehen können. Insofern stellen ansteckende Krankheiten besondere Leibeszustände dar, die immer auch über die begrenzte Sphäre dessen hinausweisen, was ich mir selbst zurechnen darf.

Bei nicht ansteckenden Krankheiten hat die Frage nach dem Schutz anderer vor meinen eigenen Leibeszuständen keinen Sinn, weil sie nicht ansteckend sind. Ansteckende Krankheiten beziehen sich jedoch stets auch auf andere, die durch die Art, wie ich mich als Erkrankter verhalte, ebenfalls erkranken könnten. Im Gegensatz zu individuellen Erkrankungen, die zunächst nur mich selbst betreffen, könnte man ansteckende Krankheiten daher als »demische« Krankheiten bezeichnen, weil sie das Gemeinwesen, den demos betreffen. (Daher auch die Ausdrücke »Epi-demie« oder »Pan-demie«).

Wenn andere durch ein Risiko der Ansteckung oder tatsächliche Ansteckung von meiner Krankheit befallen werden können, stellt diese Erkrankung die Frage nach dem sozialen Ganzen und dem Verhältnis zwischen diesem Ganzen und meinem Leib.

Bin ich noch souveräner Herr über meinen Leib, wenn sich meine Erkrankung potentiell auf das soziale Ganze auswirken kann? Hat dieses soziale Ganze nicht das Recht, über meinen Leib mitzubestimmen, um sich vor dem Risiko zu schützen, das mein Leib für es darstellt?

Infektionskrankheiten können nie nur auf der individuellen Ebene des einzelnen Erkrankten betrachtet werden, die Gesamtheit der potentiell Mitbetroffenen ist immer schon in das Krankheitsgeschehen involviert, ob ich es will oder nicht. Insofern machen Epidemien sichtbar, was bei allen anderen Formen von Erkrankungen ebenso der Fall ist: sie betreffen stets auch andere, zwar nicht durch die Möglichkeit der Ansteckung, aber als Mitleidende und Mithelfende.

Der soziale Aspekt

Was von der Krankheit gilt, gilt jedoch auch für die Gesundheit. Schon als Gesunder bin ich in soziale Netze eingebunden, wirken sich meine Leibeszustände auf andere aus. Solange ich gesund bin, können andere an meiner Gesundheit teilhaben, da sie mich in die Lage versetzt, ihre Bedürfnisse zu stillen. Ich kann produktiv sein und trage durch meine Produktivität zum Gedeihen des Ganzen bei. Bedürfnisse und Leistungen befinden sich in einem relativen Gleichgewicht: meine eigenen Bedürfnisse werden durch andere gestillt, ich stille die Bedürfnisse anderer. Deswegen stellt die Gesundheit als Leibeszustand auch das soziale Gleichgewicht nicht in Frage, im Gegensatz zur Krankheit. Krankheit beraubt mich in größerem oder geringerem Umfang der Möglichkeit, die Bedürfnisse anderer zu stillen und versetzt mich in einen Zustand gesteigerter oder vollständiger Bedürftigkeit. Sie erzeugt einen Mangel, für den ich alleine keinen Ausgleich mehr schaffen kann.

Aber auch die Gesundheit setzt das soziale Ganze voraus. Ich wäre nicht gesund, hätten meine Eltern mich nicht ernährt und behütet, wäre ich nicht durch die Leistungen unzähliger anderer erst in diesen Zustand versetzt worden. Gesundheit ist ebenso wenig allein mein Verdienst, wie Krankheit allein oder überhaupt meine Schuld ist.

Krankheit deckt auf, was Gesundheit verbirgt: dass wir als Menschen soziale Wesen, auf andere angewiesen und mit ihnen verbunden sind. Wir tragen Verantwortung nicht nur für uns selbst, sondern auch für andere, einmal mehr, einmal weniger. Sind wir gesund, können wir mehr Verantwortung für andere tragen, sind wir krank, müssen andere Verantwortung für uns übernehmen.

Mein Leib gehört nicht mir

Wenn wir bedenken, dass wir schon unseren gesunden Leib nicht uns selbst, sondern dem sozialen Netz verdanken, in das wir durch unsere Erzeugung eintreten – zunächst unseren Eltern, dann aber der Gesamtheit aller, die durch ihre Leistungen dazu beitragen, dass eben diese Gesamtheit besteht und bestehen bleiben kann, können wir dann immer noch behaupten: Mein Leib gehört mir?

Müssten wir nicht vielmehr sagen: Mein Leib gehört der Menschheit? Denn letztlich hängt die Existenz jedes Einzelnen in Gesundheit und Krankheit von den Leistungen der gesamten Menschheit ab. Auch dies macht die Corona-Krise sichtbar, die nicht nur unsere eigene Verletzlichkeit, sondern auch die Verletzlichkeit von Lieferketten, die Nachteile von Produktionsverlagerungen in Billiglohnländer, die Auswirkungen der globalen Vernetzung von Verkehrssystemen schlagartig offengelegt hat.

Was aber bedeutet dies für unser Verhältnis zu unserem Leib? Es bedeutet, dass wir durch die Tatsache, dass wir ihn besitzen, Verantwortung für die gesamte Menschheit tragen. In Wahrheit »besitzen« wir ihn nicht, vielmehr wurde er uns von der Gesamtheit der Mitlebenden zugeeignet, auf dass wir die mit ihm verbundene Verantwortung für ihn und alles, was mit ihm zusammenhängt, wahrnehmen.

Der Blick auf unsere Erzeuger, die wir bei der Betrachtung des Verhältnisses zu unserem Leib nicht ausklammern dürfen, weil wir ohne sie gar nicht existieren würden, eröffnet eine weitere Dimension von Sozialität: die unserer Vorfahren und der Vorfahren dieser Vorfahren. Ohne unsere Vorfahren würden wir nicht existieren, sie leben in uns fort, sie nehmen an uns teil, sie sind der in uns fortlebende Teil der Menschheit, dem wir unser Dasein verdanken. Und dieser Blick auf die Vorfahren erweitert sich zu jenem auf die Nachfahren, die aus uns hervorgehen könnten und die Verantwortung, die wir ihnen gegenüber wahrnehmen, sofern wir welche zeugen oder auch nicht. Denn auch für die Ungeborenen, die durch uns nicht geboren werden, tragen wir eine indirekte Verantwortung. Die Ungeborenen inexistieren uns, ebenso wie die Verstorbenen.

Das soziale Ganze ist nicht nur das Ganze der jetzt Mitlebenden, sondern auch das der Verstorbenen und Ungeborenen. Unser Zusammenhang mit ihnen ist jedoch nicht durch die Tatsache vermittelt, dass sie einen Leib besitzen, sondern dass wir aus ihrem Leib hervorgegangen sind und sie aus unserem Leib hervorgehen können. Als bereits Verstorbene sind sie von den Zuständen unseres Leibes nicht betroffen, als noch nicht Geborene könnten sie von ihnen betroffen sein, insofern wir diese Zustände durch Zeugung an sie weitergeben.

Die Verantwortung des Einzelnen für seinen Leib impliziert die Existenz der gesamten Menschheit auf Erden, der Mitlebenden, der Verstorbenen und der Ungeborenen. Sie alle sind Teil von uns; sie sind uns zugeeignet, wie wir ihnen. Wenn aber die nicht mehr und die noch nicht körperlich Existierenden Teil von uns sind, wenn die Abwesenden ebenso zu uns und zum Kreis unserer Verantwortung gehören, wie die mit uns Anwesenden, können wir dann behaupten, die leibliche Existenz im Hier und Jetzt allein mache unser menschliches Wesen aus?

Müssen wir nicht anerkennen, dass das soziale Ganze auch Zustandsformen des Menschen einschließt, die über die leibliche Existenz hinausgehen: die vorgeburtlichen und nachtodlichen? Können wir den Begriff der Menschheit überhaupt denken, ohne die vergangenen und künftigen Generationen mitzudenken, denen wir unser Dasein verdanken und die uns ihr Dasein verdanken? Jenen gegenüber tragen wir eine Verantwortung, die uns zu Dankbarkeit und Pietät aufruft, dazu, ihr Erbe zu ehren und zu pflegen, diesen gegenüber die Verantwortung, Vorsorge für sie und ihre Existenzmöglichkeit auf der Erde zu treffen, sie zu hegen und zu schützen, ob wir welche zeugen oder nicht.

Die Verstorbenen und die Ungeborenen sprechen zu uns, wenn wir auf sie hören: jene davon, wie wir geworden sind, was wir sind, diese davon, wozu wir in ihnen und durch sie werden können. Wie lassen sich angesichts dieses allumfassenden Verantwortungsgewebes, in das wir eingebunden sind, allein dadurch, dass wir auf der Erde existieren, Gesundheit und Krankheit denken?

Die menschliche Würde

Gesundheit versetzt uns, wie gesagt, in die Lage, ihre Segnungen anderen zuteil werden zu lassen; Krankheit auferlegt uns ein Ausmaß an Bedürftigkeit, das nur durch die Anteilnahme anderer ausgeglichen werden kann. Während Gesundheit Grundlage des sozialen Netzes ist, das die Existenz aller sichert, wird es durch Krankheit ins Ungleichgewicht gebracht, ein Ungleichgewicht, das nur durch einen Überschuss an selbstlosen Handlungen ausgeglichen werden kann, die jenen zuteil werden, die ihrer bedürftig sind.

Die Substanz dieser ausgleichenden Handlungen nennt man Liebe. Ohne Liebe gibt es keine Heilung, weder des sozialen Netzes, noch der Krankheit. Ein Gesundheitswesen ist eine institutionalisierte Form der Liebe – oder sollte es sein. Liebe handelt nicht aus eigenem Interesse, sondern aus dem Interesse des anderen. Liebe setzt Verzicht voraus; Verzicht darauf, die Segnungen der eigenen Gesundheit aufzuzehren und sie stattdessen anderen als heilende Nahrung zukommen zu lassen.

Die Einsicht drängt sich auf, dass mit dieser Liebe, dem Handeln aus dem Interesse anderer, auch die Würde zu tun hat. Des Menschen würdig ist ein Handeln, das nicht allein durch das Eigeninteresse bestimmt ist, sondern durch das Bewusstsein der Verantwortung des Einzelnen für das soziale Netz, dem er angehört und ohne das er nicht existieren könnte. Denn das Handeln aus bloßem Eigeninteresse negiert den sozialen Zusammenhang, ohne den es gar nicht möglich wäre, es untergräbt sich selbst. Seine eigenen Handlungsmöglichkeiten durch eben dieses Handeln zu untergraben, ist widersinnig und damit würdelos, da es der Vernunftbegabung des Menschen widerspricht.

Hängt aber die Würde des Menschen nicht auch von seiner Freiheit ab? Können wir ein unfreies, ein fremdbestimmtes, ein abhängiges Leben als würdevoll betrachten? Widerspricht Bedürftigkeit nicht der Würde des Menschen? Ist eine würdige Existenz nicht nur eine solche, die der stolzen Freiheit entspringt? Müssen wir damit allen Kranken, Unselbständigen, von uns Abhängigen die Würde absprechen? Mitnichten. Denn es kommt darauf an, dass wir im Leiden die Würde bewahren, unsere eigene und die des Leidenden, des Kranken oder Bedürftigen. Zweifellos schränkt Krankheit oder Beeinträchtigung unsere Freiheit ein, aber nicht zwingend unsere Würde. Solange sie nicht angetastet wird.

Was ist diese unantastbare Würde? Was unantastbar ist, ist nicht körperlich. Die Definition des Körpers ist seine Tastbarkeit, seine sinnliche Existenz. Was unantastbar ist, ist übersinnlich. Wollen wir seine Würde nicht antasten, müssen wir alle Zustände des leiblichen Menschen auf seinen übersinnlichen Wesenskern beziehen, aus dem auch die Liebe, die Fähigkeit zu uneigennützigem Handeln entspringt. Es ist jener Wesenskern, in dem die Unsichtbaren, Unantastbaren, die Verstorbenen und Ungeborenen anwesend sind.

Würdevoll gehen wir mit einem Menschen um, wenn wir die in ihm anwesenden Verstorbenen und Ungeborenen ehren, d.h. wenn wir sein übersinnliches Wesen und in ihm das übersinnliche Wesen aller Menschen ehren. Dann achten wir auch die Freiheit, die eigene und die des anderen, die von der Würde nicht zu trennen sind. Meine Würde verletzt nicht der Zwang, den mir die Krankheit auferlegt, indem sie mich der Freiheit mehr oder weniger beraubt, den mir zugeeigneten Leib als Resonanzraum meines übersinnlichen Wesens zu bewohnen, meine Würde verletzt der Zwang, den mir ein anderer Wille auferlegt, der mein Recht zur Selbstbestimmung beschränkt, auch und gerade in der Beeinträchtigung, die mir die Krankheit auferlegt.

Grundlage unserer Würde ist die Tatsache, dass wir ein übersinnliches Wesen sind, das auf je individuelle Weise die gesamte Menschheit repräsentiert. Als Möglichkeitswesen birgt es die Universalität des Menschseins und damit auch die Freiheit in sich. Dieses universelle Möglichkeitswesen ist dem je eigenen Leib als seinem existentiellen Resonanzraum zugeordnet, an dem es sich individualisiert. Im jeweils einzigartigen Zusammenspiel zwischen Möglichkeitswesen und Resonanzraum realisiert sich unsere Freiheit und Würde.

Der Sinn von Krankheit

Daraus ergibt sich so etwas wie ein Sinn von Krankheit: Krankheit ruft uns dazu auf, uns des übersinnlichen Wesens der Menschheit bewusst zu werden und aus Liebe zu ebendiesem Wesen zu handeln. Krankheit ruft uns dazu auf, unserer Würde bewusst zu werden, die sich im Umgang mit der eigenen Bedürftigkeit und in der Art bezeugt, wie wir mit dem anderen Bedürftigen umgehen, der den Mangel, an dem er leidet, nicht mehr selbst auszugleichen vermag. Und sie ruft uns dazu auf, unserer Freiheit bewusst zu werden, die wir trotz der uns durch sie auferlegten Beschränkungen bewahren müssen.

Nichtansteckende Krankheit ruft uns zur Rücksicht auf, ansteckende Krankheit zur Vorsicht – vor anderen und für andere. Noch mehr als die nicht ansteckende Krankheit macht uns die ansteckende jenes soziale Netz bewusst, dem wir alle angehören, dem wir unsere Existenz verdanken, dem wir verpflichtet sind, ob wir es wollen oder nicht.

Wem mein Leib auch nicht gehört

So wenig, wie mein Leib mir gehört, gehört er aber auch der Pharma- oder Genindustrie oder dem Staat. Dies deswegen, weil der Zugriff dieser Mächte ihn entwürdigt. Auch wenn sie vorgeben, ihn zu schützen, entweder durch Impfungen oder gentechnische Manipulationen oder durch obrigkeitliche Akte, tun sie dies in Wahrheit aus anderen Interessen. Wirtschaftsunternehmen verfolgen private Interessen, Staaten politische, von wechselnden Mehrheiten abhängige.

So wie jene Industrien derzeit organisiert sind, haben sie an etwas, aus dessen Bewirtschaftung sie keinen Gewinn ziehen können, keinerlei Interesse. Sowenig Wirtschaftsunternehmen meinen Leib als Privateigentum beanspruchen dürfen, steht es dem Staat zu, ihn zum öffentlichen Eigentum zu erklären. Tut er dies und verfügt er über die Leiber seiner Untertanen, handelt er aus biopolitischen Überlegungen. Aus Biopolitik können rassistische oder hygienische Diktaturen hervorgehen. Der Unterschied zwischen beiden ist nicht groß, denn auch der rassistische Staat ist eine Form der Hygienediktatur (Eugenetik). Eine Diktatur der Hygiene tritt dann ein, wenn das gesamte Leben einer Gesellschaft dem Diktat der Vermeidung von Ansteckung oder der Gesundheit als höchstem Wert unterworfen wird und Einspruch gegen dieses Diktat nicht mehr möglich ist. Sie ist nicht nur entwürdigend, weil sie die Freiheit durch äußere Eingriffe in die Selbstbestimmung einschränkt, sie ist auch sinnlos, weil sie der Vernunft widerspricht. Denn wirklich bezwungen werden könnte das Risiko von Ansteckung nur, wenn das Prinzip der Ansteckung, damit aber auch der soziale Zusammenhang, der unser Wesen ausmacht, ein für allemal eliminiert würde.

Ebensowenig, wie wir die Krankheit »ausrotten« können, die nur uns selbst betrifft, können wir jene »ausrotten«, die auf andere übergreift. Krankheit gehört, ebenso wie der Tod, zur conditio humana. Es entspricht der menschlichen Würde, mit beiden in Freiheit umzugehen, nicht aber, sie zu eliminieren oder zu leugnen. Ersteres ist vermutlich ein vergebliches, letzteres gewiss ein unsinniges Unterfangen. An die Stelle der ausgerotteten treten, wie die Erfahrung zeigt, andere Krankheiten. Nichts spricht gegen den Versuch, zu heilen oder unter dem Gesichtspunkt der Prävention ein gesundes Leben zu führen, sich und andere zu schützen, entsprechen doch beide der Verantwortung, die uns gegenüber uns selbst und anderen auferlegt ist, dadurch, dass uns der Leib zugeeignet wurde. Der conditio humana entspricht es auch, unsere eigene Sterblichkeit anzunehmen, so bitter dies ist. Bedenken wir jedoch, dass wir durch unseren Tod in jenen universellen Möglichkeitsraum zurücktreten, aus dem wir in individueller leiblicher Form erneut hervorgehen können, raubt dies dem Tod seinen Stachel.

Fremdes Privateigentum und öffentliches Eigentum an meinem Leib hebt das freie Verhältnis zwischen mir und meinem Leib auf, auf dem meine und seine Würde beruht. Es hebt auch das freie Verhältnis zwischen mir und dem Anderen auf, was unserer Menschenwürde widerspricht, die gebietet, den Anderen niemals als Mittel, sondern stets nur als Zweck zu betrachten. Es greift nicht nur in die Integrität meines Leibes ein, sondern auch in die Integrität meiner Persönlichkeit, die sich am Leib bildet und durch ihn manifestiert. Diese Überlegung begründet, warum es keine Experimente an Menschen, keine Eingriffe in die Keimbahn, keine Patente auf Teile des menschlichen Genoms, aber auch keine staatlich verordnete medizinische Zwangsbehandlung geben darf. Dies deswegen, weil weder Wirtschaftsunternehmen noch der Staat die Menschheit repräsentieren. Diese ist allein in der Gesamtheit aller oder in jedem Einzelnen, insofern er diese Gesamtheit repräsentiert, d.h. in ihm als übersinnlichem Wesen, gegenwärtig. Letztlich darf nur dieses übersinnliche Menschheitswesen über meinen Leib verfügen.

Einschränkungen der Freiheit

Darf der Staat in unsere Freiheit eingreifen, um uns vor anderen, andere vor uns, ja gar, uns vor uns selbst zu schützen? Nun –, er tut es fortwährend. Der Staat aber sind wir. All seine Macht verdankt er uns, weil wir sie an ihn abgetreten haben. Die Politiker, die seine Macht verwalten, haben diese Macht von uns geborgt, sie üben sie aus, weil wir ihnen diese Ausübung gestatten. Sie bringen Gesetze in unserer Vertretung hervor und diese beruhen zuletzt auf unserem Willen, da wir sie gewählt haben.

Wir sind nicht ohnmächtig gegenüber dem Staat, er ist nicht der Leviathan, der alles verschlingt, keine fremde Macht, die über uns kommt, ohne dass wir selbst dazu beigetragen hätten. Auch wenn unsere Mitwirkungsmöglichkeiten gering sind und der Ergänzung bedürfen, exkulpieren können wir uns nicht vom staatlichen Handeln, das in unserer Repräsentanz geschieht. Der Rechtsphilosoph Wolfgang Böckenförde bemerkte, der Staats beruhe auf Voraussetzungen, die er selbst nicht zu schaffen vermöge. Zu diesen gehört die Anerkennung seiner Autorität – unserer Autorität, die wir an ihn abgetreten haben.

Alle Gesetze greifen in unsere Freiheit ein, indem sie unser Verhalten auf die eine oder andere Weise regeln. Das beginnt schon mit dem Straßenverkehr und endet nicht mit den Gesetzen zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit, mit den Strafgesetzen, die Verletzungen ebenjener sanktionieren. Während manche schon die Regel, die gebietet, bei Rot nicht über eine Kreuzung zu fahren, als entwürdigend empfinden, weil sie ihre Freiheit einschränkt, akzeptieren sie andere, weil sie sie für vernünftig halten und eine aus Vernunft entsprungene Einschränkung der eigenen Freiheit im Interesse aller so betrachten, als hätten sie sich diese selbst auferlegt.

Sogar Gesetze, die Freiheiten – bürgerliche Freiheiten – garantieren, setzen der Freiheit Schranken, der Freiheit jener nämlich, die gegen diese Garantien verstoßen könnten. Die garantierte Redefreiheit sichert diese Freiheit gegen all jene, die sie einschränken wollen, die garantierte Meinungsfreiheit ebenso. Hier schützt uns der Staat paradoxerweise sogar vor sich selbst, denn diese bürgerlichen Freiheitsrechte werden vom Staat garantiert, der über ihre Einhaltung zu wachen hat. Umso empfindlicher reagieren wir auf die Einschränkung dieser Rechte durch jene Instanz, die dazu berufen ist, sie zu schützen. Und ebendies tun die Corona-Verordnungen, was niemand bestreitet.

Verhältnismäßigkeit

Gestritten wird vielmehr über die »Verhältnismäßigkeit«. Nach Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen wird gefragt, die vor einer drohenden Gefahr schützen sollen. Sie setzen voraus, dass eine solche Gefahr besteht und dass es ein zu schützendes Gut gibt. Sie setzen die angemessene Einschätzung der Gefahr voraus und die Abwägung, ob die verhängten Maßnahmen das zu schützende Gut ausreichend zu schützen vermögen. Schränken die Maßnahmen Freiheiten ein, muss zudem die Abwägung erfolgen, ob diese Einschränkung durch den Schutz zu rechtfertigen ist, den sie zu gewähren vorgibt.

Bei der Beurteilung der Angemessenheit muss die Gefahr, der Wert der eingeschränkten Rechtsgüter und der Wert des zu schützenden Gutes gegeneinander abgewogen werden. (Dreieck der Abwägung aus Gefahr, zu schützendem Rechtsgut und Maßnahme).

Je höher man die Gefahr einschätzt, um so einschneidender dürften die ergriffenen Maßnahmen sein, die die verteidigten Rechtsgüter schützen sollen. Wenn diese Verteidigung nur durch die Einschränkung bürgerlicher Freiheiten, wie der Bewegungsfreiheit, der Freiheit der Berufsausübung, der Versammlungsfreiheit usw. möglich scheint, werden sie ergriffen. (Staats-)Bürgerliche Freiheiten sind die Projektion unseres Möglichkeitswesens in den öffentlichen Raum. Jede Einschränkung dieser Freiheiten hebt einen Teil unserer Universalität auf, und damit die Projektion unserer Individualisierung in die soziale Sphäre.

Die Art der ergriffenen Maßnahmen hängt auch von dem zu schützenden Rechtsgut ab und dem Wert, dem man ihm zuschreibt. Im Konflikt zwischen individuellen Freiheitsrechten und »Volksgesundheit« entscheidet die Wertung des einen oder des anderen über das Maß der zu treffenden Maßnahmen.

Wie auch immer diese Entscheidungen im Einzelnen ausfallen mögen: schon angesichts der Tatsache, dass sie alle betreffen und alle im sozialen Netz miteinander durch ihre gegenseitige Verantwortung verwoben sind, müsste eine solche Abwägung unter Beteiligung aller erfolgen. In der Beteiligung aller bildet sich die Würde unserer Freiheit ab. Demokratisch organisierte Länder sollten eine solche Beteiligung begünstigen, wird doch in ihnen das »Volk« als Souverän betrachtet, der sich selbst regiert. Dürfen nun Maßnahmen zum Schutz dieses Souveräns (der Gesundheit aller) die Souveränität dieses Souveräns einschränken, also seine Möglichkeit, über eben jene Maßnahmen zu seinem eigenen Schutz mitzubestimmen? Und wer ist befugt, solche Maßnahmen zu verhängen?

Legitimität

Über die Legitimität von Maßnahmen im genannten Dreieck der Abwägung hat in einer Demokratie prinzipiell der Souverän zu bestimmen. In parlamentarischen Demokratien die Parlamente, in rechtsstaatlich verfassten Demokratien außerdem die judikative Gewalt. Ein weiterer Faktor ist das öffentliche Feld, das zur Willensbildung beiträgt, indem es die Möglichkeit bereitstellt, über die Einschätzung der Gefahr, die Art und den Wert der zu schützenden Rechtsgüter und die Art der Maßnahmen unter Beteiligung aller zu diskutieren. Kompliziert wird das Verfahren dadurch, dass viele Aufgaben des Souveräns auf die Exekutive übertragen werden, die den institutionell gewordenen, von Gesetzen gelenkten Willen des Souveräns repräsentiert. Aber dieser institutionalisierte Wille, das Handeln der Exekutive in Ministerien und Ämtern, muss durch die anderen Gewalten, die Legislative und die Judikative sowie die Öffentlichkeit kontrollierbar bleiben.

Kontrolle und Kritik. Wahrheit

Auf all diesen Feldern lassen sich derzeit Defizite beobachten: Defizite der parlamentarischen oder judikativen Kontrolle des exekutiven Handelns, Defizite der Öffentlichkeit, auf deren Feld das Gebaren all der anderen Beteiligten diskutiert werden muss.

Die Wahrnehmung dieser Defizite ruft Kritik und Protest hervor. Protest, sofern er gewaltfrei artikuliert wird, ist eine legitime Form der Beteiligung am Prozess der politischen Willensbildung, besonders dann, wenn andere Formen der Beteiligung nicht zur Verfügung stehen, etwa solche der direkten Demokratie.

Die Kritik und den Protest zu kriminalisieren oder zu pathologisieren, untergräbt die Funktionalität der Demokratie. Feinde der Demokratie sind nicht jene, die friedlich protestieren, sondern jene, die Kritik und Protest nicht zulassen wollen. Derzeit lässt sich beobachten, dass Kategorien des infektiologischen Denkens (»Virus«, »Ansteckung«) in die Debatte über die Angemessenheit behördlicher Maßnahmen oder das staatsbürgerliche Verhalten einwandern, indem je nach Position die jeweils anderen als geistig »infiziert«, als mögliche Quelle (geistiger) Ansteckung oder als quarantänebedürftig denunziert werden. Diese Metaphorik ist fatal, weil sie divergierende Urteile pathologisiert und konsequenterweise die Forderung medizinischer Behandlung nach sich zieht. Der Streit um Wahrheit oder Angemessenheit ist als Streit um die Sache auszutragen, nicht als Streit um Personen und ihre möglicherweise eingeschränkte Urteilsfähigkeit. Ebenso fatal ist die Unterstellung moralischer Defizite bei jenen, die nicht die eigene Meinung teilen.

Zugespitzt wird die Lage dadurch, dass der Protest (zum Beispiel das Demonstrationsrecht oder die freie Meinungsäußerung) im Namen des Schutzes eines anderen Rechtsgutes (der Gesundheit) eingeschränkt wird. Dies geschieht durch vielfältige Formen von Zensur in »sozialen Netzwerken«, aber auch durch Unterwerfung der medialen Öffentlichkeit unter Selbstzensur. Hiergegen sind Einwürfe erst recht legitim. Protest ist auch legitim, insofern er sich gegen Einschränkungen der Redefreiheit und Freiheit der Meinungsäußerung im Namen einer »offiziellen« Wahrheit richtet, die von unterschiedlichen Instanzen beansprucht wird.

In pluralistischen Gesellschaften, die wiederum dem universellen Möglichkeitsraum unserer Freiheit entsprechen, kann es keine offiziellen Wahrheitsinstanzen geben, sondern nur den Meinungsstreit – was die Möglichkeit der Existenz objektiver Wahrheiten nicht ausschließt. Da aber solche vom herrschenden Zeitgeist, sowohl dem wissenschaftlichen wie dem gesellschaftlichen, ohnehin verneint werden, ist der Anspruch auf Wahrheitsautorität besonders abwegig, sofern man sich gleichzeitig auf den Relativismus und Falsifikationismus beruft.

Die Gefahren der Corona-Pandemie (-Epidemie oder -Endemie) mögen von unterschiedlichen Akteuren unterschiedlich eingeschätzt werden – die beschworene Einheitsmeinung der Wissenschaft gibt es auch in diesem Fall nicht –, sie sind aber nicht die einzigen Gefahren, die unsere Freiheit und Würde, unsere Lebensart, bedrohen.

Auch über die anderen Gefahren, die aus der Abwehr der ersteren erwachsen, muss diskutiert werden. Und diese Diskussion ist mit allen Mitteln zu fördern.


Hinweise:

Stellungnahme Deutsches Netzwerk evidenzbasierte Medizin | Leibniz Institut für Wirtschaftsforschung, Kritik an Inzidenzwert | Positionspapier deutscher Krankenkassen und Ärztevereinigungen | Great Barrington Erklärung | Christof Kuhbandner – Kritik an Erklärung der nationalen Gesundheitsnotlage | Anwälte für Aufklärung | Initiative gegen Cancel Culture | Markus Gabriel in der NZZ: Die Devise heißt: durchhalten und sich vom Irrsinn nicht anstecken lassen


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2 Kommentare

  1. Rüdiger Reichle

    Über weite Strecken kann ich Ihrem Beitrag Wort für Wort zustimmend folgen. Dafür Dank!
    An zwei Stellen allerdings wird mir deutlich, dass ich mich für eine andere Sichtweise stark machen will: 1. Die Politiker üben Macht nicht über mich aus, weil ich es „gestatte“, sondern weil ich sie mit dieser Befugnis und den daraus folgenden Handlungen beauftragt habe (Ein Glück, dass ich nicht alles selber machen muss!). 2. „Ebenso fatal ist die Unterstellung moralischer Defizite bei jenen, die nicht die eigene Meinung teilen.“ – Leider muss ich mich zeitlebens auch mit solchen Menschen auseinandersetzen, deren Meinung ich nicht teile, weil sie durch und durch unmoralisch handeln bzw. denken. Gegebenenfalls spreche ich das auch aus, um sie zu konfrontieren und andere vor ihnen zu warnen. Hier wirkt mein Handeln dann auch politisch.

  2. (Für mich sind die Beiträge dieses Blogs durchgehend spannend und bestes Niveau. Ich könnte zu jedem einen Kommentar schreiben sozusagen als Anerkennung und Lob.- Sorry, wenn ich hier mich nochmals äußere … wieder als erster der Leserschaft).

    Der physische Leib des Menschen als Leihgabe der ganzheitlichen großen Sozialität?– Ich mit selbigem?– In einem solchen Gedankenspiel bin ich was und besonders wie in diesem Zusammenhang?– Wie werde ich derartiger Voraussetzung gerecht bezüglich meinem Sozialverhalten?– Und welchen Einfluss darauf kann ich ausüben (in Freiheit?)?– Mitverantwortung gleich Selbstverantwortung?– Anthropogene konstruktive Generationenfolge durch meine Erzeugerkräfte auf physischer, seelischer und geistiger Ebene?– Welche Rolle spielt dabei Bildung durch Wahrnehmungen, Denken und so besonders innovativer Urteilskraft?—- In diesem Zusammenhang: Ich mag die Poesie der Anthroposophie.
    Hat Wahrheit oder Schönheit stärkere Macht? Wo Wahrheit ist, dort leuchtet helles Licht, in dem sich endlich Schönheit still entfacht, denn Wahrheit ohne Schönheit dauert nicht.— Und Schönheit ohne Wahrheit dauert sie? Sie hält sich durch Verführung eine Zeit, bis die Natur (und die vergibt es nie!) sie unter wilden Wettern von sich speit.—
    Kulturelle Initiative richtig verstanden fördert und fordert genauso den physischen Leib bis in die Erbsubstanzen hinein. Sie kann unter anderem neben gesunder Ernährung und körperlicher Ertüchtigung für ein starkes Immunsystem sorgen, weil sie innerhalb der Würde des Menschen Wege zur Freiheit unterstützt. Das schenkt Wohlbefinden und tut damit genauso der Natur an sich insgesamt gut.

    (Die globalen hausgemachten Probleme hängen innig zusammen mit dem Verhältnis des Ich zu seinem physischen Leib; interessant ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen dem Ich und einem „höheren“ Ich, was auf die Bedeutung selbstlosen tiefgreifenden sozialen Engagements hinweist zum Wohl von Zivilisation, damit Würde, damit Selbstbestimmung, damit prozessuale Freiheit für jeden Menschen).

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