Von der Notwendigkeit, Schichtenurteile zu bilden

Zuletzt aktualisiert am 20. April 2020.

Die Wahrheit liegt nicht auf der Oberfläche

Die Wahrheit liegt nicht auf der Oberfläche. Walchensee. © Lorenzo Ravagli

In Zeiten von Corona zeigt sich die Sprache der Ausgrenzung und des Hasses in ihrer ganzen Fragwürdigkeit. Die Krise fordert uns auf, Schichtenurteile zu bilden.

Gastbeitrag von Andreas Laudert

1.

Warum stellt sich auch bei einem vollkommen unnormalen Modus unseres Alltagsverhaltens relativ rasch ein Gefühl der Normalität ein? Sie heißt nun, folgt man den Worten des Gesundheitsministers, lediglich »neue Normalität«. Es ist, als käme bereits unsere Sprache nicht mehr hinterher und setzte sich nach einer Weile erschöpft auf eine Wiese und schaute in den Himmel. Es ist, als kehrte unser Denken in den eigenen vier Wänden sich selbst den Rücken, um sich nicht im Spiegel, um nicht die eigenen Gedanken erblicken zu müssen. Es ist, als wüssten wir nicht mehr, was wir denken sollen – dabei »sollen« wir gar nicht denken, wir dürfen und wir können es –, es ist, als beherrschte uns ein Gefühl, das als Sorge um die eigene Gesundheit begann und als Irritation oder Missmut angesichts des Ungehorsams anderer endete, das plötzlich von der nackten Angst zur moralischen »Vernunft« mutierte, ein Gefühl, dessen Herkunft wir nicht mehr überprüfen, weil wir mit seiner Wirkung so beschäftigt sind.

Maron, MuninAber auch düstere Szenarien, die jetzt ersonnen oder konkludiert werden, dürften am Ende mehr oder minder ausbleiben, oder zumindest unserem Wahrnehmen und Wahrnehmenwollen entzogen sein, weil unser Zusammenleben, unsere medialen Gesellschaften und unsere Gewohnheiten so funktionieren, dass selbst das Ungeheuerlichste sich unentwegt selbst filtert, sich selbst relativiert und am Ende nur ein paar neue Schlagworte oder Moden oder nette Kolumnen über dies und jenes hervorgebracht haben wird. Einige Menschen werden wahrscheinlich über diese Zeit reden wie über eine unfassbar abenteuerliche Ferienreise, wo wir zwar in Gefahr gerieten, wo aber alles glimpflich ausging und wir wertvolle neue Erfahrungen sammelten. Souvenirs, kleinere oder größere Unpässlichkeiten führen wir von dort noch eine Weile mit im Gepäck, aber im Großen und Ganzen haben wir alles blendend überstanden, die Wirtschaft brummt. Wir werden uns wieder vertragen und das Kleingedruckte in den neuen Verträgen und Gesetzen hinnehmen. Wir setzen uns nicht groß damit auseinander, wir saßen schließlich monatelang genug »auseinander«. Wir werden nicht kleinlich sein wollen – im Feuilleton und in der Wissenschaft wird genug Platz für die »großen Debatten« bleiben, für die tiefergehende Aufarbeitung, für den Ernst, den wir natürlich auch ernstnehmen und honorieren und mit Preisen bedenken. Wird also alles wieder gut? Wird die Ausnahme die Regel? Wenn wir es eines Tages mit der Vorsicht mal gut sein lassen – was wird das sein: das Gute?

2.

Ein ganz anderer großer Ausnahmezustand der jüngeren deutschen Geschichte war der Fall der Berliner Mauer, der Zusammenbruch der DDR, die Öffnung (nicht Schließung) der Grenzen. Auch er war seinerzeit physisch überall sichtbar, er bestimmte plötzlich unseren Alltag und verwandelte ihn auf allen Ebenen, denn auf einmal mussten wir uns mit Menschen befassen, mit denen wir so noch nie verkehrt hatten. Die soziale Distanz, die trotz räumlicher Nachbarschaft – wir waren ja »ein« Volk – jahrzehntelang zwischen ihnen und uns herrschte und die wir oftmals schlicht vergaßen und gar nicht mehr bemerkten, sie wurde vom einen Tag auf den anderen aufgehoben, und dann waren sie da, die anderen Menschen, über die wir doch so wenig wussten, wie sie tickten und funktionierten, ob sie gefährlich waren oder ob unser demokratischer Organismus sie integrieren würde können. Verantwortlich dafür war die Positiv-Pandemie der Perestroika, die alle Ostblockstaaten ansteckte und das System nach und nach wie beim Domino umstürzte. Auch damals musste – vor allem in Deutschland – politisch alles sehr schnell gehen. Alle Verhandlungen standen unter Zeit- und Verantwortungsdruck, es galt, das historische Zeitfenster zu nutzen. Der fast schon abgewählte damalige Bundeskanzler Kohl wurde für seine ebenso zupackende wie umsichtige Strategie gelobt, die Grünen wollten vom Wetter reden, der die Lage noch am hellsichtigsten analysierende Kanzlerkandidat Lafontaine wurde Opfer eines Attentats und am Ende war Deutschland wiedervereinigt. Die abstrakten mahnenden Prognosen – dass Deutschland neue Großmachtphantasien entwickeln würde – bewahrheiteten sich nicht, aber die konkreten Warnungen Lafontaines bestätigten sich später durchaus. Was denn die Alternative gewesen wäre, brachte man zur Rechtfertigung hervor. Aber was der Prozess eben auch, nach einem kurzen geschichtlich retardierenden Moment, einem Nicht-wahrhaben-Wollen hervorgebracht hat, war der NSU und war eine Gruppierung namens »Alternative für Deutschland«.

3.

Bei aller offenkundigen Unvergleichbarkeit von Lockdown und Einheitstaumel könnte es im Kern auch diesmal am Ende so gelaufen sein: Irgendwann ist die Pandemie überstanden und alle sind wieder draußen und gesund. Aber auch Deutschland ist damals weder wiedervereinigt noch ist die historische Wunde geheilt worden, allenfalls formal, wenn auch nicht auf gesunde Weise. Denn viele Bürger, auf die 1990 nicht gehört wurde, empfanden den Prozess nachhaltig als einen autoritären Akt, als einen bloßen Anschluss, ein angeblich alternativloses Aufkaufen und Kontrollieren, ein erzieherisches Integrieren des schwächeren Systems in das stärkere. Ein möglicher dritter, ein schöpferischer Weg, eine wirkliche Alternative eben, wurde konsequent und reichlich selbstgewiss aus dem Diskurs herausgehalten – ähnlich wie derzeit ein völlig verkürzter Gesundheitsbegriff unausgesprochen zum Paradigma erklärt wird. Mit den Folgen dieses historischen Fehlers kämpfen wir noch heute, immer wieder nämlich kommt er hoch, immer wieder artikulieren Ostdeutsche eine tiefsitzende seelische Verletzung. Der Erfolg einer in ihrem Glutkern nationalistischen Partei wäre ohne ihre Verankerung in vielen Teilen Ostdeutschlands nicht in dieser Weise eingetreten. Das Auseinanderdriften – man möchte sagen: die soziale Distanzierung – der Welten und Milieus und wirtschaftlichen Verhältnisse (aber eben nicht nur im Osten, sondern auch im Westen) hat ihre Ursache im Versäumen oder bewussten Verhindern dieses dritten Weges. Ein solcher hätte den Dialog langfristig aufrechterhalten und beleben können, weil die Würde aller Beteiligten gewahrt worden wäre. (Man muss auch in Gesundheitsfragen im Dialog mit dem eigenen Körper sein, auch er hat seine Würde, eine Virusinfektion ist kein Schicksal, sondern hängt auch von einem wachen Kontakt zur eigenen Leiblichkeit ab.)

Immer wieder legten lediglich Künstler und Kulturschaffende den Finger in diese Wunde des Organismus, so auch heute: Die Autorin Juli Zeh und der Theaterintendant Thomas Ostermeier artikulierten in jüngeren Interviews in der »Süddeutschen Zeitung« ihre Befürchtung, dass die soziale Polarisierung nach Aufhebung der Corona-Maßnahmen zunehmen werde. Wie sieht es, abseits der Talkshows und angesichts solcher berechtigten Analysen, mit der Dialogfähigkeit in Deutschland gegenwärtig aus?

4.

Als die Rechtsanwältin Beate Bahner vor Ostern eine Klage gegen die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus einreichte, geriet sie erstaunlicherweise selber ins Visier der Justiz und anschließend vorübergehend in die Psychiatrie. Zuvor hatte ein Anwalt aus Konstanz bereits gegen ihre Klage im Internet mit folgenden Worten polemisiert: »Wir werden Beate Bahner zu gegebener Zeit in die Liste der ›Corona-Deppen‹ aufgenommen. (sic!) Wenn sie Pech hat, aber bekannt genug ist, landet sie in der nachfolgen Wikipedia-Liste …« Es folgte ein Link, der die an Covid-19 inzwischen Verstorbenen auflistet und die »fortlaufend aktualisiert« werde. – Unabhängig von der Integrität oder Nicht-Integrität der Persönlichkeit von Beate Bahner: Welche Sprache jemand wählt, wenn man sachlich streitet oder vorgibt, es zu tun, ist manchmal ein geeignetes Kriterium, um gleichsam hinter die Kulissen der Auseinandersetzung zu blicken, hinter die Maske der Worte und Sätze. Das gilt ungeachtet der grundsätzlichen inhaltlichen Positionierung. Das Gehässige ist tief ins Bürgertum eingewandert. Doch gerade auch bei Protestierenden, die sich im Namen der Gerechtigkeit, des Umweltschutzes, einer humanitären Friedens- oder Asylpolitik als sogenannte Aktivisten äußern, findet sich oftmals eine Sprache, die abstößt, die aggressiv-suggestiv ist. Sie liegt in jener Moralauffassung begründet, die Gerd Weidenhausen kürzlich in der Zeitschrift »Die Drei« in seiner Darstellung der Political Correctness analysiert hat.

Boghossian, Angst vor der WahrheitWas das Coronavirus und den politischen Umgang damit anbelangt, so kann indes überraschen, dass es eher die Verlautbarungen der offiziellen Linie sind, deren rhetorisches Kleid einer Rüstung gleicht und die sich mit aller Macht und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln und Waffen gegen andere Sichtweisen zur Wehr zu setzen versucht, ja, selbst gegen legitime juristische Schritte. Sicherlich finden sich dort auch behutsamere Positionen und Äußerungen, die den Dialog nicht gleich abbrechen. Es gibt durchaus auch eine Haltung, die – in homöopathischer Dosis und weil es freilich auf Interesse stößt und Einschaltquoten steigen lässt – etwa im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Kritiker der Maßnahmen zu Wort kommen lässt. Jedoch eine Tendenz zur Sprachregelung – ein Mittel, das immer dort auftritt, wo Gruppeninteressen bestehen – niemals müsste das Wesen der Sprache im freien Gespräch der Individuen domestiziert werden – kann in der Debatte schon auffallen, und diese Tendenz müsste stutzig machen.

5.

Denn zunächst ginge es doch einfach darum, verschiedene Ebenen zu unterscheiden und das zu praktizieren, was Rudolf Steiner einmal die Bildung von »Schichtenurteilen« genannt hat. Es gibt zunächst die Ebene der Symptome und der Debatte über die beste Strategie, um gesundheitsunterstützend zu wirken. Diese Debatte steht aus der Natur der Sache heraus derzeit im Vordergrund, einfach aufgrund der Dynamik der Ereignisse und aufgrund desjenigen, was der Baseler Philosoph Christian Graf als »Verantwortungsperspektive« beschreibt – denn eine solche müssen, unter Stress und Zeitdruck, die politisch Handelnden und Führenden berücksichtigen. (Man kann freilich Zweifel haben, ob solches Mitgefühl mit der Macht anlässlich der Geschichte des 20. Jahrhunderts wirklich am Platze ist.)

Und es gibt eine zweite, ganz andere Ebene, der sich vielleicht eher die spirituell Forschenden und Nachsinnenden widmen oder Menschen, die versuchen, sich nicht vom Negativen und Alarmierenden vollkommen in Bann ziehen zu lassen, sondern den Blick zu heben und mit Gespür für kleine Veränderungen und Verschiebungen auch Chancen zu erkennen – dass Delphine wieder in Gewässern schwimmen, die dort zuletzt nicht mehr gesehen wurden, dass draußen plötzlich mehr Väter mit ihren Kindern zu sehen sind oder dass am Himmel kaum noch Kondensstreifen auftreten. Dazu zählen auch innere Erlebnisse: dass man zur Ruhe kommt, sich auf Wesentliches besinnt.

All diese Ebenen – also auch die dritte, die im Folgenden charakterisiert werden wird – müssen nicht im Widerspruch zueinander stehen; es geht um die Vielschichtigkeit eines Phänomens und nicht um die Vielstimmigkeit der Meinungen. Wenn alle im Chor durcheinander singen oder gar brüllen, wie sie meinen, dass es richtig wäre, entsteht noch nichts Gutes; aber wenn sich Chorstimmen wie Schichten übereinanderlegen und aufeinander achten, wird aus dem Vielen ein Ganzes. Doch dafür braucht es, wenn man nicht gemeinsam improvisiert, eine Partitur, einen Dirigenten, eine zugrundeliegende Komposition, die Schöpfung eines Menschen. Hier wird der Vergleich zum Problem, denn beim Coronavirus liegt nichts dergleichen vor, auf das wir uns berufen und beziehen könnten, es ist ja zunächst kein anspruchsvolles individuelles Kunstwerk, das frei zu interpretieren wäre, sondern ein kniffliges Rätsel der gegebenen biologischen Natur, ein eben bereits medizinisch vielschichtiges Geschehen, das plötzlich eingesetzt, das aufgetreten ist in der Welt und die Aufmerksamkeit sämtlicher Medien und des Menschheitspublikums fesselt. Vielleicht muss aber umso mehr unsere Reaktion darauf ein gesamtgesellschaftliches Kunstwerk werden?

6.

Eben deshalb wäre es hilfreich, eine dritte Schicht für die Urteilsbildung zumindest in Betracht zu ziehen. Das ist die Ebene der Erkenntnis, der Wahrheitsfrage, auch der Moralität in einem noch einmal anderen Sinne.

Husemann, MedizinMaßnahmen heißen so, weil man dabei Maß nimmt, weil es um deren Verhältnismäßigkeit geht in Bezug auf die Lage, für die sie getroffen werden. Die Frage nach den sogenannten Nebenwirkungen und Kollateralschäden berührt die Wahrheitsfrage noch einmal schärfer und existenzieller als es nur die persönliche Sinnfrage täte, es tangiert sie auch als die Frage nach den objektiven oder »wahren Interessen« hinter den Maßnahmen, also nach möglicherweise nicht nur Fehlern, die aus schlechtem Rat derzeit begangen werden mögen, sondern es hängt auch die Frage nach Absichten, nach in Kauf genommenen Schäden damit zusammen.

Diese drei Schichten könnte man behelfsmäßig als die Ebenen des Physisch-Materiellen, des Seelischen und des Geistigen bezeichnen. Eine gesunde Urteilsbildung ist erst dann möglich, wenn man alle Ebenen berücksichtigt, wenn das Ich, der urteilende Mensch, diese Ebenen denkend, fühlend und handelnd verwebt.

Um bewusst noch einmal zeitgeschichtlich zurückzublicken: 1999 etwa, im Kosovokrieg, war eine Urteilsbildung, die nicht trennt und die auch nicht das Ich in sich selber zerreißt, so nicht mehr gegeben. Ratlos gestanden selbst sogenannte kritische Intellektuelle immer wieder ein, sie wüssten auch keine bessere Lösung als die Maßnahme der Bombardierung Serbiens unter Inkaufnahme der entsprechenden Nebenwirkungen und Kollateralschäden. Es war ein initiatorischer Moment: die Resignation vieler Bürger einschließlich der (ausgerechnet rotgrün-fortschrittlichen) Regierung, die Ratlosigkeit des Verstandes angesichts der vielzitierten »Komplexität der Welt« wurden erstmals dezidiert Thema. Ein Schriftsteller wie Peter Handke, der jeder Form von Sprachregelung zeitlebens skeptisch nachspürte, wurde und wird seitdem immer wieder zur Zielscheibe jener Art von polemischem Hass, der hier bereits zitiert wurde und der im Wortsinn für sich spricht, nur »für sich selbst«, nicht für eine gemeinsame Suche nach Wahrheit, nach Vielschichtigkeit.

7.

Daher noch einmal allgemeiner gefragt: Was sind unsere Motive, wenn wir etwas tun oder unterlassen, wenn wir etwas befördern oder etwas verhindern wollen, und was sind jeweilige Wirkungen? Sind uns unsere Motive und die Wirkungen unseres Verhaltens und unserer Entscheidungen immer voll bewusst? Sind sie gar Teil eines intellektuellen oder seelischen Kalküls – Einschüchterung, Erheischen von Mitleid, Denunziation anderer, Verwirrung anderer – oder überblicken wir diese Motive und Wirkungen gar nicht, sondern handeln schlicht impulsiv-spontan, ja unberaten? Oder handeln wir auf Geheiß, auf Geheiß unserer Gefühle (wie Angst oder Wut), unserer Sponsoren und Förderer oder unserer Vorgesetzten?

Wenn man sich diese Fragen als Einzelner gewissenhaft stellt und es aushält, auch in eigene Abgründe zu blicken, denn wir sind Menschen und keine moralisch vollkommenen Wesen, wird man vielleicht Situationen erinnern, wo jemand für sich selbst etwa das Motiv anführte, andere »aufwecken« zu wollen, aber dabei vor sich selbst unterschlug, dass nebenbei auch demonstriert werden konnte, wie gut es um die eigenen kognitiven Fähigkeiten bestellt ist. Oder man sagt, man wolle – beim Verhindern von etwas – Verletzungen (etwa von Lesern) vermeiden, während man in Wahrheit befürchtet, die Anerkennung von Kreisen zu verlieren, an die sich diese Leser wenden könnten.

Was kann bei alledem eine Art Orientierung geben oder eine Richtschnur sein? Anders gefragt: Kann man im Einzelfall an Indizien – oder auch am eigenen Bauchgefühl, an so etwas wie der eigenen Intuition – festmachen, wie es sich mit der Redlichkeit von Menschen, die so und so handeln oder uns zu diesem oder jenem auffordern, verhält?

Das kann man, wenn man sich stets die Frage vorlegt, ob man Willkür erlebt oder Freiheit. Eine Richtschnur unseres Urteils kann sein: Bleiben Menschen im Dialog mit anderen Wesen, (möglichst vielen) Sichtweisen und Individuen – streben wir gemeinsam mit anderen weiter nach Verständigung, Erkenntnis, angemessenem Handeln – oder gehen Menschen aus Angst, Sorge oder Kalkül in die Verhärtung, in die Auflösung, beenden oder beeinflussen sie aus welchen Gründen auch immer die sachliche Evaluation der Folgen ihrer Taten und Entscheidungen, etwa ihrer Gesetze, ihrer Maßnahmen und ihrer Verlautbarungen? Stoppen, bremsen oder manipulieren sie Prozesse gemeinsamen Lernens und Debattierens, weil sie Unruhe für ihre Gruppe oder Gemeinschaft befürchten – oder sind sie innerlich frei genug, etwas zu erfahren, auch über sich selbst, das sie nicht im Blick hatten? Kommt das freie Wort ohne Ausnahme zur Sprache oder wird sie geregelt, weil die Macht für sich juristische Ausnahmen beansprucht? Sind Führende souverän genug, auch (Neben-)Wirkungen, die sie nicht berechnen konnten und die sie nicht intendiert hatten, als Zeichen des Lebendigen und der sozialen Tatsachen – etwa eine teilweise »ungehorsame« Bevölkerung – anzuerkennen? Oder verweisen sie dann immer wieder nur auf ihr Motiv, ihr (Haupt-)Anliegen, als rechtfertige es alles, auch Willkür?

Kinder und Jugendliche sind im objektiven Erkennen der eigenen Motive und der Folgen der eigenen Taten noch unbedarft (und dürfen dies auch sein). Gerade deshalb können sie uns oft so wunderbar spiegeln, wo wir selber unaufrichtig oder unglaubwürdig sind, denn sie streben ja dorthin, sie brauchen ja unser Vor-Bild. Ebenfalls sehr präzise prüfen junge Menschen, ob wir mit unseren Maßstäben konsequent oder ob wir mit ihnen beliebig verfahren, ob wir radikal unbestechlich sind oder gelegentlich doch korrumpierbar, ob wir unsere Ideale – etwa demokratische, humanistische – hier hochhalten, aber dort über Bord werfen.

In der aktuellen Situation – dieser Text entstand Mitte April – kann man hinsichtlich der geistigen Urteilsbildung Zweifel haben, ob in der Schicht der Selbst- und Welterkenntnis sich die demokratische Gesellschaft erwachsener und mündiger Bürger im Augenblick selber gerecht wird – oder ob wir nicht mehrheitlich im Begriff sind, zu regredieren. Wir werden wohl nicht in einem Jahr oder in zwei, aber vielleicht in fünf oder zehn Jahren erst verstehen, welchem Bakterium wir im Frühjahr 2020 tatsächlich Einlass in unseren sozialen Organismus verschafft haben.

Andreas Laudert studierte Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin und arbeitet als Oberstufenlehrer an einer Waldorfschule. Er veröffentlichte Essays, Drehbücher, Theaterstücke und Prosatexte u.a. im Merlin Verlag und im Futurum Verlag Basel.

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Ein Kommentar

  1. Schichtenurteile, wichtig, sehr guter Beitrag, herzlichen Dank!

    (Was bleibt uns, wenn wir das Vertrauen in die (den)Mitmenschen verlieren? Vom Prinzip her ist in jedem Menschen Fortschritt veranlagt pro Einsicht gegen degenerierende Gesundheit, Sprache, Bildung, Milieu usw. … .- Trotz allem … .- Gegenwärtig mit „Sand im Getriebe“ … .- (Reflexionen überall …).- Es wird sich gedrängt in diesem Jahrzehnt viel ändern, das ist meine Meinung. … .- Und ich habe Vertrauen in das weltweite Bildungspotential überall. Wir Menschen werden Wege (Reformen) aussuchen, die langfristig sinnvoll unsere Existenz sichern. Dazu gehört wachsende Selbstverantwortung mit Blick auf die umfassende Sozialität (alles ist miteinander verknüpft, ineinander gewoben), in der wir integriert sind und zusätzlich mit den Idealen Würde und Freiheit).

    Anthroposophie bleibt freilassendes Angebot für praktizierende Selbst- und Welterkenntnis jenseits jeglicher Ideologie und Abstraktion. (Ich schreibe hier im ANTHROBLOG, deshalb dieser Satz).

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