Vom »kosmogenetischen Grundgesetz« – Neues aus Provo – (2)

Zuletzt aktualisiert am 19. April 2020.

Clements 191 Seiten umfassende Einleitung zu Steiners kosmanthropogonischen[1] Schriften ist zweigeteilt: der erste (allgemeine) Teil enthält den »Versuch« eines »neuartigen, kritisch-hermeneutischen Zugangs« zu diesen »Standardwerken anthroposophischer Literatur« (113 Seiten); der zweite eine »detaillierte Rekonstruktion der textuellen Entwicklungsgeschichte« der anthroposophischen Kosmogonie von 1883-1910 (78 Seiten). Letzterer referiert ausführlich die theosophischen Versuche, diese anspruchsvolle Aufgabenstellung zu bewältigen (Sinnett, Blavatsky, Scott-Elliot), und bemüht sich, im Einzelnen nachzuzeichnen, »auf welche Vorstellungen Steiner sich in den verschiedenen Phasen seiner Theosophie-Rezeption konkret bezog, welche er adaptierte, ablehnte, umdeutete und wie er in bestimmten Konflikten zwischen konkurrierenden theosophischen Positionen Stellung bezog«.

Es ist unmöglich, auf diese umfangreiche Untersuchung in ihrer Gänze detailliert einzugehen, dies würde zu einer ebenso voluminösen Abhandlung führen und die Geduld der Leser unzumutbar strapazieren. Daher seien einige spektakuläre Glanzlichter aus dem ersten Teil der Einleitung herausgegriffen.

Wie stets bei Clement, enthält auch der vorliegende Text Grandioses neben Fragwürdigem, glänzende Aperçus neben bedauerlichen Fehlurteilen (aus meiner Sicht natürlich). Trotz aller in den vergangenen Jahren vorgetragenen Kritik hält der Interpret an einem seiner grundlegenden Theoreme fest – eine beeindruckende Konsequenz im Abschreiten eines Holzweges. Wir werden darauf zu sprechen kommen.

Zu Beginn seiner Abhandlung lässt Clement Fanfarentöne erklingen. Sein neuartiger, kritisch-hermeneutischer Zugang soll zeigen, »dass die spirituelle Kosmogonie Steiners bzw. die anthroposophische Esoterik insgesamt nicht, wie in der bisherigen kritischen Rezeption überwiegend angenommen, primär oder gar ausschließlich von der um 1902 einsetzenden Theosophie-Rezeption ihres Verfassers her verstanden werden können, sondern dass sie ganz wesentlich auch von Steiners Verwurzelung in der Philosophie des deutschen Idealismus und der monistischen Naturphilosophie Goethes und Haeckels her zu begreifen sind.« Die Anthroposophie erscheine daher – in Abgrenzung zu Zanders abwegiger These – »nicht länger als Ergebnis einer durch die Begegnung mit den Schriften« Blavatskys und Besants »bedingten ›Konversion‹ Steiners«, durch die er sich von seinen philosophischen Überzeugungen verabschiedet hätte, sondern vielmehr als organische Weiterbildung seines philosophischen Frühwerks, die sich »freilich […] im Medium der Rezeption, Deutung und Umformung theosophischer Vorstellungen entfaltete« – und insofern sei Zanders These doch auch teilweise berechtigt.

Zugleich soll dieser neuartige Zugang die »allgemeine Skepsis und Ablehnung« verständlich machen, die Steiner trotz der vielfältigen positiven Früchte der anthroposophischen Lebenspraxis nach wie vor entgegengebracht werde. Allerdings ergibt sich dieses Verständnis nicht unbedingt aus dem »kritisch-hermeneutischen Ansatz«, sondern aus Hanegraaffs diskursanalytischer These vom »zurückgewiesenen« Wissen[2], die Clement zustimmend aufgreift, wonach das scheinbar »Fremde« oder »Deviante« der Esoterik, das ihrer Marginalisierung durch den wissenschaftlichen oder kulturellen Mainstream als Vorwand diente, in Wahrheit ein Ausweis ihrer uneinholbaren Modernität sei.

»Das ›Gespenst‹ der Anthroposophie«, so Clement, »das nunmehr seit gut einem Jahrhundert durch die wissenschaftlich-aufgeklärte Moderne geistert und diese zugleich verschreckt und fasziniert, erweist sich so als zu dieser Modernität wesenhaft dazugehörig, als ihr eigener, sie verfolgender Schatten gewissermaßen.« Die idiosynkratischen Abwehrreaktionen gegen das angeblich Deviante sind als komplementäre Reaktionen auf die Verdrängung des eigenen Schattens zu verstehen – daher auch der irrationale, geradezu religiöse Eifer, mit dem Esoterikgegner diese verfolgen. Nicht ihre »Fremdheit« oder »Divergenz« führen zur Ablehnung der Anthroposophie, sondern ihre »unheimliche Familiarität«, ihre bisher »nicht voll zu Bewusstsein gekommene Herkunft aus der westlichen, nach Aufklärung, Rationalität, Selbstbestimmung und Individualismus strebenden Bewusstseinsgeschichte«. Sätze, die wie Nektar munden.

Eine erste Annäherung an das »komplexe und anspruchsvolle Gedankengewebe« der anthroposophischen Kosmogonie versucht Clement, indem er eine Passage aus Das Christentum als mystische Tatsache über Philos Auslegung der Genesis zitiert. Dieser findet im mosaischen Schöpfungsbericht laut Steiner ein »Vorbild für die Wege, welche die Seele nehmen muss, um zum Göttlichen zu gelangen«. Sie muss »in sich die Wege Gottes mikrokosmisch wiederholen«; wie bei Plato heißt auch bei Philo Gotteserkenntnis: »den Schöpfungswerdegang als eigenes seelisches Schicksal erleben. Geschichte der Schöpfung und Geschichte der sich vergöttlichenden Seele fließen dadurch in Eins zusammen«. Wer Gott erkennen will, kann auf dem Wege mystischer Erkenntnis den Werdegang der Welt, der bis zur erkennenden Seele geführt hat, rekapitulieren, den emanierten Kosmos gleichsam spirituell resorbieren, um am Ende zu dessen Anfang, zum Urakt der Schöpfung und zum Schöpfer selbst zu gelangen. Auf diesem Weg vergöttlicht sich zugleich die Seele, denn nur, wer wie Gott wird, kann Gott erkennen.

Steiner postuliere also, so Clement, dass der »›draußen‹ ablaufende natürlich-materielle Entwicklungsprozess« ein Bild jener Bewusstseinsgeschichte sei, die sich »im Innern des Menschen« vollziehe. In der Selbsterkenntnis ereigne sich zugleich die Erkenntnis »des Göttlichen«, insofern Gott als die innere Einheit des zuvor getrennt Erscheinenden, der Dualität von Seele und Welt, Subjekt und Objekt verstanden werde. In nichts anderem als in dieser »Selbsterkenntnis Gottes im und durch den Menschen« habe laut Steiner die Initiation bestanden.

Diese philonische Idee bilde auch die Grundkonzeption der Kosmogonie Steiners. Die Geschichte der physischen Welt erscheine in dieser als Entwicklungsgeschichte des Bewusstseins. Und ihre didaktische Absicht bestehe darin, den Leser durch den innerlichen Nachvollzug der Welt- und Menschheitsentwicklung zur Erkenntnis zu führen, dass diese ein in die Dimensionen von Raum und Zeit ausgebreitetes Bild seines eigenen Wesens sei. »Naturgeschichte« werde dadurch zu einer »Phänomenologie des Geistes«, durch die der Mensch zur »transpersonalen und überzeitlichen Natur seines Selbstes« erwache.

Die anthroposophische Kosmogonie knüpft aber laut Clement nicht nur an die »platonisch-spätantike Weltentstehungsspekulation« an, sondern auch an den deutschen Idealismus (der seinerseits in der platonischen Tradition stand), insbesondere an das »Weltalter-Projekt« Schellings.

Noch einmal kommt der Interpret auf die Vorzüge seiner historisch-kritischen (empathischen) Hermeneutik im Unterschied zur negativ-kritischen Steinerrezeption und zur »binnenanthroposophischen« Exegese zu sprechen, bevor er ans Werk schreitet. Die antiapologetische Steinerkritik habe stets Maßstäbe an diesen angelegt, die nicht aus ihm selbst entnommen worden seien und daher zum voraussehbaren Resultat geführt, dass er solchen Maßstäben (naturwissenschaftlichen, historistischen, theologischen) nicht entspreche. Diese Kritik treffe ebenso zu, wie sie ins Leere laufe, da sie an Steiners Selbstverständnis vorbeigehe, der keine Naturwissenschaft, Historiographie oder Theologie im herkömmlichen Sinn habe schaffen und daher auch nicht in Konkurrenz zu diesen habe treten wollen. Die guten Anthroposophen hingegen hätten sich zwar an Steiners Selbstverständnis orientiert, seien dabei aber allzuoft der »Totalidentifikation« verfallen, mit dem Ergebnis einer klebrigen Nähe, die sie für die »historisch-philologischen Bedingtheiten seines Werkes« habe erblinden lassen. Daher sei diese »anthroposophische Hermeneutik« in »den allermeisten Fällen« von »apologetischen, scholastischen oder hagiographischen Tendenzen« durchsetzt. Steiner habe sowohl seinen Kritikern als auch seinen Befürwortern als »Projektionsfläche« gedient, in dem die einen sahen, was sie verabscheuten, die anderen, was sie ersehnten.

»Als bedauerlichen Zustand und akademisches Armutszeugnis« betrachtet es Clement, dass »trotz der unübersehbaren Präsenz anthroposophischer Praxisfelder im gegenwärtigen Kulturleben« die »zentralen philosophischen Begründungsargumente« und damit »der geistige Kern des steinerschen Kulturbeitrags« hundert Jahre nach seinem Tod noch immer nicht »öffentlich zur Kenntnis genommen, geschweige denn kritisch diskutiert« würden. »Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt. Es ist die gewöhnlichste Selbsttäuschung wie Täuschung anderer, beim Erkennen etwas als bekannt vorauszusetzen, und es sich ebenso gefallen zu lassen; mit allem Hin- und Herreden kommt solches Wissen, ohne zu wissen, wie ihm geschieht, nicht von der Stelle«, könnte man mit Hegel sagen –diesem Motto fühlt sich offenbar auch Clement als Interpret der Anthroposophie verpflichtet.

Soweit die Einleitung der Einleitung. In den folgenden Unterkapiteln wendet sich der Interpret der »Kontextualisierung« zu. Diese führt vom »ideengeschichtlichen Hintergrund« über »naturwissenschaftliche« und »philosophische« zu »theosophischen« Kontexten.

Worin bestand laut Clement der ideengeschichtliche Hintergrund der Anthroposophie? Steiner betrat die Bühne der Ideengeschichte als Identitätsphilosoph. Die Entwicklungsreihen der Natur und des Geistes waren für ihn Erscheinungsformen ein- und derselben formativen Urkräfte. Der »schöpferische Ur-Akt, der die Naturerscheinungen hervorbringt«, »derselbe, aus dem auch die ideellen Gestaltungen hervorgehen.« Daher fand er im Verständnis des Verstehens den Schlüssel zu allem Erkennen, sei es Natur- oder Geisterkennen. Wie er an den deutschen Idealismus (die Identitätsphilosophie) anknüpfte, so auch an die Naturwissenschaft in Gestalt Haeckels. Dessen biogenetisches Grundgesetz von der Wiederholung der Stammes- in der Individualentwicklung wandte Steiner auf die Bewusstseinsentwicklung an: die Entwicklung des Individuums rekapituliert die Entwicklung der menschlichen Gattung.

»In jedem Akt des Geistes«, so Clement, »ist die gesamte ›Wesenheit‹ des Geistes, d.h. die vergangene, gegenwärtige und künftige Geschichte desselben eingefaltet«. Ebenso vermochte Steiner seinen Grundgedanken auch in Anknüpfung an Goethes Metamorphosenidee zu formulieren: Wie bei diesem aus der Erscheinungsreihe organischer Bildungen die Gesetze dieser Bildung erkannt werden könnten, so vermöge bei jenem die Betrachtung einer Reihe auseinander hervorgegangener geistiger Akte ein »mentales Organ« (= Geist-Organ) hervorzubringen, das imstande sei, »den diesen Einzelakten zugrundeliegenden Ur-Akt der Wirklichkeitshervorbringung« zu erfassen. Das auf diese Weise entstandene mentale Organ vermittle eine »geistige Anschauung der aller Schöpfung innewohnenden Grundgesetzlichkeit«. Einer ganzen Reihe von Schriften, von der Mystik im Aufgang bis zu den Menschenrätseln, liege dieser Gedanke zugrunde. Sie wollten den Leser dazu anregen, sich durch den Mitvollzug der geschilderten Einzelgedanken zu einer Erfahrung der Natur des Geistes zu erheben, die darin bestehe, sich in jedem seiner Akte in etwas Äußeres zu projizieren und in der Rückspiegelung dieser Entäußerung zu einem immer umfassenderen Bewusstsein seiner selbst zu gelangen. Steiner habe die in den genannten Schriften entwickelten Gedankenreihen als Materialien eines Schulungsweges betrachtet, der zur Bewusstwerdung dieses »universellen Uraktes« führen könne.

Damit ist laut Clement das »grundlegende Legitimationstheorem« der Esoterik Steiners benannt, das »ideogenetische Grundgesetz«. Dieses bedürfe jedoch angesichts des Gegenstandes von Kosmo- und Anthropogonie einer Abwandlung oder Erweiterung zu einem »kosmogenetischen Grundgesetz«. Denn auch in der Geschichte des Kosmos bzw. der Natur gebe es einen Ur-Vorgang, der sich in unendlichen Abwandlungen stets von neuem vollziehe und durch jeden einzelnen Bildevorgang repräsentiert werde. Dieses kosmogenetische Grundgesetz lautet: »In jedem Einzelvorgang und jeder Formbildung innerhalb der Naturgeschichte spielt sich im Prinzip das Urgeschehen aller natürlichen Bildung ab. Jeder Naturvorgang und jede natürlich gebildete Form ist somit Bild und potentielle Offenbarung der Grundgesetzlichkeit von Weltschöpfung ingesamt, und umgekehrt.«

Seiner identitätsphilosophischen Grundüberzeugung gemäß liefen jedoch bei Steiner Natur- und Geistesgeschichte nicht isoliert nebeneinander her, vielmehr bildeten sie sich ineinander ab. Die Evolution des Kosmos und des menschlichen Bewusstseins stellten demnach zwei »Modalitäten oder Metamorphosen ein- und desselben Wirklichkeitsprozesses« dar. Das eine sei durch das andere verstehbar, der Naturprozess vermöge den des Geistes zu veranschaulichen und umgekehrt. »Ideogenese und Kosmogenese sind […] aus dieser Doppelperspektive ein und derselbe Prozess, nur in je verschiedener Weise aufgefasst. Oder in der Sprache der abendländischen Hermetik: ›Makrokosmos‹ und ›Mikrokosmos‹ entsprechen einander in vielfachen wechselseitigen Spiegelungen, ja sind beide vollgültiger Ausdruck des je anderen.«

Aus diesem Grundgedanken lässt sich laut Clement verstehen, was Steiner mit seinen Texten zur Kosmanthropogonie eigentlich beabsichtigte. Sie erzählen die Geschichte des Kosmos »im Bild der Entwicklung des Menschen«, dieser ist von Anfang an anwesend [richtig – er ist das »Götterziel«] und was sich nacheinander in der Geschichte der Natur an Geschöpfen und Reichen auseinanderlegt, ist sein Wesen. Der Mensch und seine Kultur wiederum bildet die innere Struktur des Kosmos in seiner Geschichte ab. Einerseits steht der Mensch – als Makroanthropos – am Anfang, andererseits aber – als Mikroanthropos – am Ende. Nicht nur geht der Kosmos aus ihm hervor, sondern auch er aus dem Kosmos. In Clements Worten: die Anthroposophie erzählt eigentlich »zwei Schöpfungsgeschichten: eine, die mit dem Menschen beginnt und eine, die mit ihm endet.« In den verschiedenen Entwicklungsreihen von Kosmos und Bewusstsein, Natur und Geist, drückt sich dieselbe »Urprozessualität«, der eine, »urschöpferische Akt der Wirklichkeitshervorbringung« aus.

Clement sieht durch diese – zugegeben philosophischen – Überlegungen die These hinreichend erwiesen, dass nicht nur der Philosoph, sondern auch der Esoteriker Steiner im Denken Fichtes, Schellings und Hegels verwurzelt war. Da jedoch dieser Umstand in der bisherigen Forschung, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, so gut wie gar nicht berücksichtigt worden sei, habe sich eine »einseitige Wahrnehmung der internen Legitimationsstruktur des steinerschen Unternehmens« entwickelt. »Außeranthroposophische« Steinerforschung habe sich auf das Eintauchen Steiners in die theosophische Ideenwelt ab 1902 fokussiert und den philosophischen Theosophen, der Steiner vor 1900 war, ausgeblendet. Anthroposophische Autoren hätten die seherische Originalität Steiners überbetont und seine vollständige Unabhängigkeit von historischen oder literarischen Quellen behauptet. Beiden sei dadurch das philosophische Fundament der Anthroposophie entgangen, das zwischen 1883 und 1900 gelegt worden sei. »Das theosophische Welt- und Menschenbild trat [bei Steiner] nicht an die Stelle der philosophischen Überzeugungen seiner Frühzeit, wie akademischerseits oft vermutet worden ist, aber es war aber [sic!] auch nicht bedeutungslos oder bloße ›Einkleidung‹, wie Anthroposophen oft argumentiert haben[3]; vielmehr bot es ihm ein Material, in das er mit seinem objektiven Idealismus eintauchte, um es von innen her umzugestalten und systematisch zu begründen. Anthroposophie lässt sich nur als Ergebnis dieses Verwandlungsprozesses verstehen.«

Mag sein, dass es möglich ist, Anthroposophie als »Ergebnis« eines solchen Verwandlungsprozesses zu verstehen – allerdings nur insofern, als man sie als rein irdisches Produkt auffasst, als Amalgam aus philosophischen und theosophischen Traditionen, die ihrerseits aus anderen Traditionen entsprungen sein müssen, die ihrerseits irgendwo entsprungen sein müssen, ad infinitum.

Ausgeblendet wird dabei die präexistente anthroposophia, jene Anthroposophie, die laut Steiner schon seit Anbruch der Neuzeit in einer »übersinnlichen Lehrschule« gelehrt wurde, deren irdisches Abbild die mit ihm auftretende Anthroposophie lediglich war: »Da entstand unter der Führung des Michael etwas – wir müssen ja irdische Ausdrücke gebrauchen –, was man nennen könnte eine übersinnliche Schule. Was einstmals Michael-Mysterium war, dasjenige, was in den alten Michael-Mysterien verkündet worden war den Eingeweihten, was jetzt anders werden musste, weil die Intelligenz vom Kosmos ihren Weg auf die Erde gefunden hatte, das fasste in ungeheuer bedeutsamen Zügen Michael selber für diejenigen zusammen, die er jetzt sammelte in dieser übersinnlichen Michael-Schule im Beginne des 15. Jahrhunderts. Da wurde alles das wieder lebendig in übersinnlichen Welten, was einstmals in den Sonnenmysterien als Michael-Weisheit gelebt hat. Da wurde dann in einer grandiosen Weise zusammengefasst, was in aristotelischer Fortsetzung Platonismus war und durch Alexander den Großen hinübergebracht war nach Asien, hinuntergebracht war nach Ägypten. Es wurde auseinandergesetzt, wie da drinnen noch die alte Spiritualität lebte. Da nahmen alle die Seelen, die immer mit jener Strömung verbunden waren, von der ich jetzt schon durch einzelne Stunden spreche, jene Seelen, die eben prädestiniert sind, der anthroposophischen Bewegung anzugehören, ihr Karma für die anthroposophische Bewegung zu gestalten, an jener übersinnlichen Lehrschule teil. Denn alles, was da gelehrt wurde, wurde unter dem Gesichtspunkte gelehrt, dass nun auf andere Art in der Menschheitsentwickelung unten, durch Eigenintelligenz der menschlichen Seele, das Michaelsmäßige ausgebildet werden müsse.

Hingewiesen wurde darauf, wie am Ende des 19. Jahrhunderts, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, Michael selber auf der Erde seine Herrschaft wieder antreten werde, wie ein neues Michael-Zeitalter, nachdem die sechs anderen Archangeloi in der Zwischenzeit, seit der Alexanderzeit, ihre verschiedenen Herrschaften ausgeübt hatten, beginnen werde, aber ein Michael-Zeitalter, das anders werden müsse wie die anderen. Denn diese anderen Michael-Zeitalter waren eben so, dass da die kosmische Intelligenz immer sich in dem Allgemein-Menschlichen ausgelebt hat. Jetzt aber – das sagte dazumal Michael im Übersinnlichen zu seinen Schülern – wird es sich im Michael-Zeitalter um etwas ganz anderes handeln. Dasjenige, was Michael durch Äonen verwaltet hat für die Menschen, was er ins irdische Dasein inspirierte, das ist ihm entsunken. Er wird es wiederfinden, wenn er Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts seine Erdenherrschaft antreten wird. Er wird es wiederfinden, indem eine zunächst von der Spiritualität entblößte Intelligenz unter den Menschen unten Platz gegriffen haben wird; aber er wird es wiederfinden in einem besonderen Zustande; er wird es wiederfinden so, dass es ausgesetzt ist im stärksten Maße den ahrimanischen Kräften. Denn in derselben Zeit, in der die Intelligenz vom Kosmos auf die Erde sank, wuchs immer mehr und mehr die Aspiration der ahrimanischen Mächte, diese kosmische Intelligenz, indem sie irdisch wurde, dem Michael zu entreißen, sie auf der Erde allein, Michael-frei, geltend zu machen.

Das war die große Krisis vom Beginne des 15. Jahrhunderts bis heute, die Krisis, in der wir noch drinnenstehen, die Krisis, die sich ausdrückt als der Kampf Ahrimans gegen Michael: Ahriman, der alles aufwendet, um streitig zu machen dem Michael die Herrschaft über die Intelligenz, die jetzt irdisch geworden war – Michael, der sich bemüht, mit allen Impulsen, die er hat, nun, nachdem ihm die Herrschaft über die Intelligenz entfallen war, sie wiederum beim Beginne seiner irdischen Herrschaft vom Jahre 1879 an auf der Erde zu ergreifen. In dieser Entscheidung stand ja die Entwickelung der Menschheit im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Da war irdisch geworden die frühere kosmische Intelligenz, da war Ahriman, der diese Intelligenz ganz irdisch machen wollte, so dass sie fortlaufend wird in der Art, wie sie in dem Gabrielischen Zeitalter eingeleitet worden war. Ganz irdisch werden sollte diese Intelligenz, nur eine Angelegenheit der menschlichen Blutsgemeinschaft sollte sie sein, eine Angelegenheit der Generationenfolge, eine Angelegenheit der Fortpflanzungskräfte. Das alles wollte Ahriman.

Michael stieg herunter auf die Erde. Er konnte dasjenige, was nun einmal seinen Gang in der Zwischenzeit hat machen müssen, damit die Menschen zur Intelligenz und zur Freiheit kommen, nur auf der Erde wiederfinden, so dass er es jetzt auf der Erde ergreifen muss, so dass er innerhalb der Erde wiederum Herrscher wird über die Intelligenz, die aber jetzt innerhalb der Menschheit wirkt. Ahriman gegenüber Michael, Michael in die Notwendigkeit versetzt, gegen Ahriman zu verteidigen, was er durch Äonen hindurch zugunsten der Menschheit verwaltete – in diesem Kampfe steht die Menschheit drinnen. Anthroposoph sein, heißt unter manchem anderen: diesen Kampf wenigstens bis zu einem gewissen Grade zu verstehen. Und überall zeigt er sich. Seine eigentliche Gestalt steht hinter den Kulissen des geschichtlichen Werdens, aber überall zeigt er sich in den Tatsachen, die im Offenbaren liegen.«[4]

Doch dies nur nebenbei.

Immerhin bettet Clement selbst Steiners Denken auch in ältere philosophische Traditionen ein – die ihrerseits auf jenen Inspirationshintergrund zurückverweisen, von dem in der zitierten Passage aus den Vorträgen über die »karmischen Zusammenhänge der anthroposophischen Bewegung« die Rede war –, zum Beispiel die Theosophie »des Görlitzer Schusters Jacob Boehme«. Schon Hegel bezeichnete Boehme als den ersten, »echt deutschen Philosophen«, weil er »die Intellektual-Welt in das eigene Gemüt« hineingelegt und den Versuch unternommen habe, in seinem Selbstbewusstsein alles anzuschauen und zu wissen und zu fühlen, was sonst jenseits war«.[5] Schelling knüpfte noch weitaus tiefgründiger an Boehmes Selbstverständnis an, das in den Worten zum Ausdruck kommt: »Darum ob wir gleich reden von der Schöpfung der Welt, als wären wird darbey gewesen und hätten solches gesehen, des darf kein Mensch wundern, und für unmöglich halten: denn der Geist, so in uns ist, […] der hat alles gesehen, und siehet es alles im Lichte Gottes, und ist gar nichts fernes, oder unerforschliches: denn die ewige Geburt, so im menschlichen Centro verborgen stehet, thut nichts Neues, sie erkennet, wircket und thut eben, was sie von Ewigkeit gethan hat […].«[6]

Ebenso wie für Boehme oder Schelling – im Grunde für das gesamte Schöpfungsdenken – ist der Mensch nicht (nur) ein Endprodukt der Evolution, sondern auch deren Anfang. Er war schon am Anfang dabei – in Gestalt Adams oder eines Gedankens Gottes oder in welcher Form auch immer. Da für Steiner »die Vorgänge der Weltschöpfung jenseits dessen liegen, was wir gewöhnlich als Zeit ansehen«, lasse sich auch sagen: »Der Mensch ist bei der Weltschöpfung, insofern diese sich in einem überzeitlichen Bereich vollzieht, jederzeit ›darbey‹.« Und aus diesem Grund sei auch die Hoffnung berechtigt, der Mensch könne durch Selbsterkenntnis zur Anschauung jener Vorgänge gelangen, die der Konstitution des »raum-zeitlichen Kosmos« zugrunde lägen.

Aber die »ontologische und epistemologische Legitimationsstruktur« der Kosmogonie Steiners darf sich noch auf einen weiteren Vorläufer berufen: auf niemand anderen als Plato, den Urvater der abendländischen Philosophie. Der Vergleich zwischen dessen Timaios und Steiners Geheimwissenschaft im Umriss liegt nahe. Seine Theorie der Anamnesis, der Erkenntnis als Wiedererinnerung des Vergessenen – des vor der Geburt geschauten, durch den Lethetrank verschleierten und durch die Hebammenkunst der Philosophie wieder ins Bewusstsein gerufenen Wissens – begegnet uns in Boehmes Anspruch, bei der Schöpfung dabeigewesen zu sein, in Schellings »Mitwissenschaft« der Kosmogonie und Theogonie, und schließlich in Steiners anthroposophischer Epistemologie und Kosmogonie wieder. Dabei ist das Erinnerte zugleich das stets Gegenwärtige und dieses birgt ebenso das Zukünftige in sich, denn, wie Steiner in der Geheimwissenschaft im Umriss schreibt: » […] was dem Menschen gegenwärtig innerhalb der Erdenwelt entgegentritt, darin stecken in gewisser Beziehung die Tatsachen der Monden-, Sonnen- und Saturnentwickelung. Die Wesen und Dinge, welche an der Mondenentwickelung beteiligt waren, haben sich weiter fortgebildet. Aus ihnen ist alles dasjenige geworden, was gegenwärtig zur Erde gehört. Aber es ist für das physisch-sinnliche Bewusstsein nicht alles wahrnehmbar, was sich vom Monde herüber zur Erde entwickelt hat. Ein Teil dessen, was sich von diesem Monde herüber entwickelt hat, wird erst auf einer gewissen Stufe des übersinnlichen Bewusstseins offenbar. Wenn diese Erkenntnis erlangt ist, dann ist für dieselbe unsere Erdenwelt verbunden mit einer übersinnlichen Welt. Diese enthält den Teil des Mondendaseins, welcher sich nicht bis zur physisch-sinnlichen Wahrnehmung verdichtet hat. Sie enthält ihn zunächst so, wie er gegenwärtig ist, nicht wie er zur Zeit der uralten Mondenentwickelung war. Das übersinnliche Bewusstsein kann aber ein Bild von dem damaligen Zustande erhalten. Wenn nämlich dieses übersinnliche Bewusstsein sich in die Wahrnehmung vertieft, welche es gegenwärtig haben kann, so zeigt sich, dass diese durch sich selbst sich in zwei Bilder allmählich zerlegt. Das eine Bild stellt sich dar als diejenige Gestalt, welche die Erde gehabt hat während ihrer Mondenentwickelung. Das andere Bild aber zeigt sich so, dass man daran erkennt: dieses enthält eine Gestalt, welche noch im Keimzustande ist und welche erst in der Zukunft in dem Sinne wirklich werden wird, wie die Erde jetzt wirklich ist. Bei weiterer Beobachtung zeigt sich, dass in diese Zukunftsform fortwährend dasjenige einströmt, was sich in einem gewissen Sinne als Wirkung dessen ergibt, was auf der Erde geschieht. In dieser Zukunftsform hat man deshalb dasjenige vor sich, was aus unserer Erde werden soll. Die Wirkungen des Erdendaseins werden sich mit dem, was in der charakterisierten Welt geschieht, vereinigen, und daraus wird das neue Weltenwesen entstehen, in welches sich die Erde so verwandeln wird, wie sich der Mond in die Erde verwandelt hat.«[7]

Plato, so Clement, habe mit seinem Timaios die erste philosophisch begründete Weltentstehungslehre der abendländischen Geschichte geschaffen. Dieser stehe am Ausgangspunkt jener »idealistischen Weltentstehungsspekulationen«, deren Tradition Boehme, Schelling, aber auch die theosophischen und anthroposophischen Kosmogonien angehörten.

So viel zu einigen Aspekten der »Grundlagen« und des »ideengeschichtlichen Hintergrunds« anthroposophischer Kosmogonie, soweit sie in Clements Text in Erscheinung treten.

Teil 1, »Bey der Weltschöpfung darbey gewesen«

Fortsetzung folgt

Rudolf Steiner, Band 8,1-2: Schriften zur Anthropogenese und Kosmogonie. Fragment einer theosophischen Kosmogonie – Aus der Akasha-Chronik – Die Geheimwissenschaft im Umriss. Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Christian Clement. Vorwort von Wouter J. Hanegraaff. Stuttgart-Bad Cannstatt 2018, 2 Bände, CCXXIV, 787 S., ISBN 978-3-7728-2638-2


Rezensionen früher erschienener Bände der SKA:

Dynamit, das dogmatische Bastionen sprengt

Die Anthroposophie: ein »Rückfall« in den Mythos?

Vom Gott, der im Denken gegeben ist und anderen Dingen

Notwendig ein Torso

Nichts weniger als irrational

Reduktionen und Versteifungen

Projektive Ausstülpungen


Anmerkungen:


  1. Da Mensch und Kosmos einander vollständig entsprechen und sich ineinander abbilden, ist die Geschichte des einen stets auch die Geschichte des anderen. Beide zusammen bilden den Kosmanthropos, den Kosmosmenschen oder Menschenkosmos.
  2. Wouter Hanegraaff, Esotericism and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture, Cambridge 2012.
  3. Welche »Anthroposophen« Clement damit meint, ist mir schleierhaft. Mit ist nur Clement selbst als Vertreter solcher Thesen bekannt. »Muss man nicht, gerade im Sinne seines philosophischen Frühwerks, die von Steiner beschriebenen ›Lotusblumen‹ oder ›Schwellenhüter‹ als Gestalten ansehen, die er selbst, wie Faust seine Helena, aus dem ›Weihrauchnebel‹ seiner eigenen Imagination hervorzauberte?«, frug Clement in seiner Einleitung zu SKA 7, S. XXVIII, um etwas später zu behaupten, »die anthroposophische Esoterik« sei eine »Verbildlichung philosophischer Konzeptionen«, ebd. S. LX.
  4. Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge, Band 3, 28. Juli 1924, GA 237, Dornach 1991, S. 112.
  5. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke Bd. 15, Berlin 1836, S. 300.
  6. Jacob Boehme, De tribus principiis, 7:6. Zu Jacob Boehme siehe: https://anthroblog.anthroweb.info/?s=Jacob+Boehme
  7. Geheimwissenschaft im Umriss, GA 13, Dornach 1989, S. 397 f.

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2 Kommentare

  1. ronald wüthrich

    “3. Welche »Anthroposophen« Clement damit meint, ist mir schleierhaft.”
    führst Du aus, nur um im folgenden gleich das gegenteil zu beweisen und clement damit recht zu geben.
    “Ausgeblendet wird dabei die präexistente anthroposophia, jene Anthroposophie, die laut Steiner schon seit Anbruch der Neuzeit in einer »übersinnlichen Lehrschule« gelehrt wurde, deren irdisches Abbild die mit ihm auftretende Anthroposophie lediglich war: ….” etc. pp.

    darauf rechnend, dass Du aus angeführtem, meinen gedankengang nachvollziehen kannst
    lg
    ronald

  2. Die beiden Einleitungen zu Band 8 sind auf der SKA-Website zu finden:
    https://web.archive.org/web/20201124063332/https://www.steinerkritischeausgabe.com/leseproben-einleitung-band-8
    https://www.steinerkritischeausgabe.com/leseproben-einleitung-ii-band-8

    Band 8.1: z.B. über Michael CIX-CX, die beiden Hüter CXIV-CXVI, Aristotelische Dreigliederung CIII, Doppelstrom der Zeit LXX-LXXVII

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