Ein Jahrhundert Anthroposophie – Band 1

Zuletzt aktualisiert am 19. Oktober 2020.

Gerade erschienen: der erste Band einer dreibändigen Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung. Das Werk »Selbsterkenntnis in der Geschichte« bietet ein Jahrhundert Anthroposophie in verdichteter Form. Worum es geht, beschreibt die Einleitung, von der hier ein Auszug folgt.

Ein Jahrhundert AnthroposophieDie vorliegende Studie unternimmt den Versuch, eines der aufregendsten spirituellen Experimente des 20. Jahrhunderts aus der Perspektive eines teilnehmenden und zugleich kritischen Beobachters im Kontext der zeitgenössischen Geschichte nachzuzeichnen und zu interpretieren. Der Standpunkt des Verfassers dieses Versuchs befindet sich aufgrund der von ihm angewandten Forschungsmethode, die nicht nur ihren Gegenstand, sondern auch die Hervorbringung ihres Gegenstandes beobachtet, zugleich innerhalb und außerhalb dieses Experiments.

Es handelt sich um einen unvollkommenen Versuch, der in vielerlei Hinsicht zu wünschen übriglässt. Die anthroposophische Bewegung ist eine Breitenbewegung, die viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ergriffen und beeinflusst hat. Sie ist vor allem eine internationale Bewegung, lässt sich also nicht lediglich als Geschichte ihrer Entwicklung in einem Land erzählen. Die anthroposophische Gesellschaft ist eine Gesellschaft von Mitgliedern, die ihrerseits in viele weitere Geschichten von Institutionen, Gruppen und Gemeinschaften verflochten sind, die sich nicht nur durch ihren Bezug auf diese Gesellschaft, sondern auch durch ihre Zugehörigkeit zu den jeweiligen Gemeinschaften und Organisationen definieren, die sich durch eine größere oder geringere Nähe zur Gesellschaft und ihrer Leitung auszeichnen. Sowohl die räumliche Breite als auch die zeitliche Tiefe von Bewegung und Gesellschaft werden durch den vorliegenden Versuch nicht annähernd ausgeschöpft, obwohl er schon lang genug ist. Der Fokus liegt auf dem geistigen und örtlichen Zentrum von Gesellschaft und Bewegung, das – wie umstritten und problematisiert auch immer – dies bis zum heutigen Tag geblieben ist: dem kleinen Ort Dornach im Baselbieter Jura, der mit seinem Goetheanum den Ankerpunkt der Weltbewegung beherbergt.

Andererseits spiegelt sich, wie in einem Brennpunkt, das Schicksal und Selbstverständnis dieser Weltbewegung gerade an diesem Ort und von einem gewissen Gesichtspunkt aus könnte man behaupten, was sich nicht in diesem Brennpunkt und den Diskursen und Debatten spiegle, die hier ausgetragen wurden, gehöre der Bewegung, die dort zentriert ist, nicht an. Von daher scheint es gerechtfertigt, sich der Geschichte des sozial-anthroposophischen Kosmos dadurch anzunähern, dass die vielfältigen Reflektionen dieses Kosmos in dessen Gravitationszentrum einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Dies erscheint auch dadurch legitimiert, dass die Angehörigen von Gesellschaft und Bewegung sowohl in Affirmation als auch Kritik sich bis zum heutigen Tag selbst auf dieses Zentrum beziehen, von dem seit der Errichtung des Ersten Goetheanum im zweiten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts seinen Ausgang nahm, was sich als »anthroposophisch« verstand. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei nicht auf Institutionen oder Organisationen, sondern auf den Debatten, die über das Selbstverständnis der Anthroposophen geführt wurden. Gesellschaft und Bewegung sind in hohem Grade selbstreflexiv; die permanente Diskussion über die anthroposophische Identität gehört damit zum Kern der Geschichte beider. Der anthroposophische Identitätsdiskurs durchdringt alle Arbeitsfelder und sozialen Netze, die sich auf die eine oder andere Art dem gemeinsamen Ursprung verbunden fühlen, auf den sie sich beziehen. Eine Geschichte der anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung muss daher als Geschichte ihrer Diskurse über das eigene Selbstverständnis geschrieben werden. Dass es sich bei einer solchen Diskursgeschichte um eine spezifisch anthroposophische Form von Historiographie handelt, ergibt sich auch aus einem weiteren Gesichtspunkt.

In seinem Buch Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten[1] begründet Rudolf Steiner die Notwendigkeit sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen aus einer spirituellen Perspektive. Dabei geht es nicht nur um die persönliche Lebensgeschichte, also um die eigene Biografie, sondern auch um die Geschichte der Menschengemeinschaften, mit denen diese persönliche Biografie verflochten ist. Denn kein Mensch ist eine Insel und die persönliche Lebensgeschichte ist immer auch die Geschichte anderer Menschen, zu denen man in sozialen Beziehungen steht. Mein Selbstbewusstsein wächst aus dem Bewusstsein anderer hervor und ist zu einem hohen Grad eine Spiegelung dieser anderen. Bei der Selbsterkenntnis geht es immer auch um die Erkenntnis der anderen, um die Bedeutung, die diese anderen für die eigene Geschichte haben.

In Wie erlangt man ... stellt Steiner dar, dass der Geistesschüler die »Schwelle zur geistigen Welt« nicht überschreiten kann, wenn er nicht zuvor dem »Hüter dieser Schwelle« begegnet; und dieser Hüter besteht zu einem wesentlichen Teil aus der Summe der Lebensgeschichte oder Lebensgeschichten des Geistesschülers.

Dass diese Beschäftigung mit der eigenen Geschichte eine zentrale Bedeutung für die Gemeinschaft jener Menschen hat, die sich im Namen der Anthroposophie zusammenfinden, zeigt sich auch daran, dass Steiner 1924, bei der Begründung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft dieses Motiv der Begegnung mit dem Hüter der Schwelle aufgreift und zum zentralen Inhalt der »Klassenstunden«, jener Vortragsreihen macht, die der spirituellen Fundierung der genannten Hochschule dienen.

In Wie erlangt man … findet sich ein Kapitel über die Spaltung der Persönlichkeit während der Geistesschulung: die Seelenkräfte, die im Alltagsbewusstsein mehr oder weniger harmonisch oder automatisch zusammenwirken (wie beim gemischten König in Goethes Märchen), treten auseinander und müssen vom Menschen bewusst kontrolliert werden. Gelingt dies nicht, besteht die Gefahr, dass der Geistesschüler entweder durch die Verselbstständigung der Willenskräfte zum Gewaltmenschen, durch die Entgleisung des Gefühlslebens zum Religionsschwelger, oder durch die Loslösung des Denkens von Fühlen und Wollen zu einem kalten, teilnahmslosen Subjekt wird, das alle Empathie, alles Mitgefühl verliert. In einem solchen Fall ist die Initiation gescheitert. Dies hat nicht nur Folgen für den Initianden, sondern auch für die soziale Gemeinschaft, der er angehört.

In der ersten Klassenstunde[2] spricht Steiner von drei »gähnenden Abgründen«, die zwischen dem »Sinnesfeld« und dem »Geistesfeld klaffen«. An diesen Abgründen lauern drei Tiere, die der Geistesschüler überwinden muss: das erste Tier schafft der Mensch durch seine »Furcht vor Geistes-Schöpfer-Sein« in seinem Willen, das zweite durch seinen »Hass auf Geistesoffenbarung« in seinem Fühlen und das dritte durch seinen »Zweifel an Geistes Licht-Gewalt« in seinem Denken.

Für die Überwindung des ersten Tieres benötigt er »Erkenntnismut«, für die Überwindung des zweiten »Erkenntnisfeuer« und für die Überwindung des dritten »Erkenntnisschaffen«.

In Wie erlangt man … führt Steiner aus, dass es nicht nur ein persönliches Unbewusstes gibt, sondern auch ein unbewusstes Seelenleben von Kollektiven wie Familien, Völkern oder anderen Menschengemeinschaften. So, wie das persönliche Unbewusste für den Geistesschüler sich als etwas Wesenhaftes darstellt, zeigen sich für den Geistesblick auch die wirklichen Kollektivseelen – die Familienseelen, Volksseelen und Gruppengeister.

In einem gewissen Sinn sind die einzelnen Menschen die »ausführenden Organe« dieser Kollektivseelen, d.h. sie werden von ihnen bestimmt, ohne es zu bemerken, sie schwimmen in kollektiven Meinungen, Gefühlen und Gewohnheiten mit, ohne sich Rechenschaft über die Herkunft dieser Bestandteile ihrer Persönlichkeit abzulegen. Insofern erscheinen sie als fremdbestimmt, so sehr sie sich auch einbilden mögen, frei zu sein. Der Einzelne arbeitet – soweit er sich diese unbewussten Anteile seiner Persönlichkeit nicht zum Bewusstsein bringt – unbewusst mit »an den Zielen« der Kollektivseelen, des kollektiven Unbewussten. Von dem Zeitpunkt an, wo der Geistesschüler dem Hüter der Schwelle gegenüberzutreten beginnt, muss er jedoch nicht nur seine eigenen Aufgaben als Persönlichkeit kennen, sondern er muss auch wissentlich an den Aufgaben dieser Kollektivseelen mitarbeiten, d.h. er muss diese Kollektivseelen, in die er zuvor unbewusst eingebettet war, erkennen, um sich von ihrem Wollen zu emanzipieren bzw. ihr Wollen in sein Wollen aufzunehmen. Genauer gesagt: er muss das nicht, sondern er kann sich aus Erkenntnis frei entscheiden, ob und wie er sich mit diesem Wollen verbindet.

In Wie erlangt man … erklärt Steiner die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte zu einer Vorbedingung der Selbsterkenntnis. Dieses Schulungsbuch ist für den einzelnen Menschen geschrieben, der seine Fähigkeiten zu höherer Erkenntnis ausbilden will. Die »Klassenstunden« richten sich an eine ganze Gemeinschaft von Geistesschülern, die vor derselben Aufgabe steht.

Die anthroposophische Gesellschaft soll, zumindest in ihrem Kern, eine Gemeinschaft von solchen Geistesschülern sein, deshalb gehört es zu ihren Aufgaben, sich mit ihrer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, wenn sie die Schwelle überschreiten will. Ihr ist als Avantgarde die Aufgabe eingeschrieben, die Schwelle zur geistigen Welt zu überschreiten und der Menschheit bei diesem Gang voranzugehen. So wie der einzelne Mensch ein persönliches Unbewusstes besitzt, besitzt eine Gemeinschaft oder Gesellschaft ein kollektives Unbewusstes, einen kollektiven Doppelgänger, der nicht nur aus den Doppelgängern der einzelnen Menschen besteht, die diese Gemeinschaft bilden, sondern eine »eigenständige Wesenheit« darstellt. Eine Gesellschaft, die die Schwelle zur geistigen Welt überschreiten – also das »Initiationsprinzip zum Zivilisationsprinzip« erheben will –, wird also nicht umhinkönnen, sich ihrem eigenen Doppelgänger erkennend gegenüberzustellen.

Denn nur, wenn man diesen Doppelgänger erkennt und ihn durch Liebe verwandelt, kann man die Schwelle überschreiten. Der kleine Hüter der Schwelle, schreibt Steiner in Wie erlangt man …, ist »unser eigenes Geschöpf«, die Summe unserer Geschichte. Wer ihm gegenübersteht, wird mit seinen eigenen Handlungen, Gefühlen und Gedanken konfrontiert. Steiner spricht auch vom Leib dieses Doppelgängers, bei dem es sich selbstredend um einen Geistleib handelt. Wie erscheint dieser Doppelgänger dem Geistesschüler?

»Der Leib dieses Wesens ist zusammengesetzt aus den ihm vorher unsichtbaren Folgen seiner eigenen Handlungen, Gefühle und Gedanken. Aber diese unsichtbaren Kräfte sind die Ursachen geworden seines Schicksals und seines Charakters [kursiv L.R.].

Es wird nunmehr dem Menschen klar, wie er in der Vergangenheit selbst die Grundlagen für seine Gegenwart gelegt hat [kursiv L.R.]. Sein Wesen steht dadurch bis zu einem gewissen Grade offenbar vor ihm. Es sind zum Beispiel bestimmte Neigungen und Gewohnheiten in ihm. Jetzt kann er sich klarmachen, warum er diese hat. Gewisse Schicksalsschläge haben ihn getroffen; nun erkennt er, woher diese kommen. Er wird gewahr, weshalb er das eine liebt, das andere hasst, warum er durch dies oder jenes glücklich oder unglücklich ist.

Das sichtbare Leben wird ihm durch die unsichtbaren Ursachen verständlich. Auch die wesentlichen Lebenstatsachen, Krankheit und Gesundheit, Tod und Geburt, entschleiern sich vor seinen Blicken«.[3]

Was vom einzelnen Menschen gilt, gilt auch von Menschengemeinschaften: In der Gemeinschaft der Geistesschüler begegnen sich nicht nur Menschen, sondern auch ihre Doppelgänger, und so wie die Gesellschaft ein höheres Ich besitzt, ein geistiges Wesen – zum Beispiel den Erzengel Michael –, dem sie in ihren Zielen und in ihrem Handeln verpflichtet ist, so besitzt sie auch ihren eigenen Doppelgänger.

Der spirituelle Leib des Hüters der anthroposophischen Gesellschaft, darf man also sagen, ist zusammengesetzt aus ihrer Geschichte, aus den Folgen ihrer Handlungen, Gefühle und Gedanken. Diese sind zu Ursachen des Schicksals und des Charakters dieser Gesellschaft geworden. Durch die Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte, kann der Gesellschaft klar werden, wie sie in der Vergangenheit selbst die Grundlagen für ihre Gegenwart gelegt hat. Und wenn sie diese Auseinandersetzung erst einmal in Angriff nimmt, kann sie sich nicht nur von ihrem Doppelgänger befreien, sie kann möglicherweise erst ihre eigentliche Aufgabe erfüllen. Dass sie dieser Auseinandersetzung bisher als Gesellschaft ausgewichen ist, kann als einer der Gründe dafür gelten, dass sie diese Aufgabe bis heute nicht realisiert hat.

Das ist aus meiner Sicht der spirituelle Grund dafür, warum es eine Geschichte der anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung geben muss und dass diese Geschichte nicht etwa 1925, mit dem Tod Rudolf Steiners enden kann.

Eine Gesamtdarstellung der Geschichte der anthroposophischen Bewegung im 20. Jahrhundert von diesem Gesichtspunkt aus ist bis heute nicht vorhanden. Das ist umso erstaunlicher, als es sich bei dieser Bewegung um die bedeutendste abendländische esoterische Bewegung des 20. Jahrhunderts handelt – nicht etwa wegen ihrer äußeren Wirksamkeit, z.B. bei der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, – da haben andere esoterische Bruderschaften weit stärkere Wirkungen entfaltet; sondern weil sie wie keine andere esoterische Bewegung den Lebensbedingungen und der Bewusstseinsverfassung des modernen Menschen mit seiner individuellen Autonomie Rechnung trägt. Nicht zufällig hat Steiner davon gesprochen, die anthroposophische Gesellschaft könne »die modernste« sein, »die es geben kann«.

Bestellt werden kann das Buch hier – oder in jeder Buchhandlung.


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Anmerkungen:


  1. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10, Dornach 1992.
  2. Rudolf Steiner, Esoterische Unterweisungen für die Erste Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum, GA 270/1, Dornach 2008, S. 1-21.
  3. GA 10, Dornach 1993, S. 204-205.

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