Kommission zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie

Zuletzt aktualisiert am 12. Januar 2024.

Rund fünfzig Wissenschaftler fordern in einem offenen Brief die Einsetzung einer Kommission zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie. Unterzeichnet haben den Brief unter anderem der Immunologe Prof. Andreas Radbruch, der Virologe Prof. Jonas Schmidt-Chanasit, der Infektiologe Prof. Matthias Schrappe und der Historiker Dr. René Schlott.

Kommission zur Aufarbeitung der Corona-PandemieDer Gesundheitsexperte der Grünen im Bundestag, Janosch Dahmen, teilt unterdessen mit, dass seine Partei nichts von der Einsetzung einer solchen Kommission halte. Es komme jetzt nicht auf »theoretische Erörterungen« zu »offensichtlichen Schwachstellen« im Gesundheitswesen an, sondern darauf, »die Jahre des Reformstaus« zu beenden. Das deutsche Gesundheitswesen leide nicht an einem »Erkenntnis-, sondern an einem Umsetzungsdefizit«. Im Bundestag wird heute (19.4.2023) über einen Antrag der AfD zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses beraten, der »das Verhalten der Bundesregierung und ihrer Geschäftsbereichsbehörden im Zusammenhang mit der Bewältigung der Maßnahmen gegen das Coronavirus« aufarbeiten soll. Er soll klären, »ob die Bundesregierung durch die Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht die medizinische Versorgung der Bürger sowie die Betreuung behinderter und pflegebedürftiger Bürger gefährdet hat und ob eine entsprechende Gefährdung als leichtfertig oder gar vorsätzlich zu beurteilen sei«.

Außerdem soll er die Verhältnismäßigkeit der Lockdowns für Kinder und Jugendliche in den Jahren 2020/21 sowie die gesundheitlichen Folgeschäden untersuchen, die durch die Corona-Maßnahmen entstanden sind. (Die Debatte wird ab 18 Uhr 45 live übertragen.) (Nachtrag: Der Bundestag hat die Forderung der AfD-Fraktion zur Einsetzung des 2. Untersuchungsausschusses der 20. Wahlperiode [Bekämpfung des Corona-Virus, 20/3706] erwartungsgemäß zurückgewiesen. Gegen den Antrag votierten am Mittwoch, 19. April 2023, in namentlicher Abstimmung 577 Abgeordnete, dafür waren 72 Parlamentarier.)

Der offene Brief versteht sich als Stellungnahme aus der Wissenschaft und den approbierten Heilberufen (einschließlich Tätigkeiten in Verwaltung und Management). Wer in diesen Bereichen tätig ist, kann ihn unterzeichnen.

Im Folgenden der offene Brief im Wortlaut.

Einsetzung einer Kommission zur Aufarbeitung der Corona Pandemie

Die Corona-Pandemie hat in unserem Land tiefe Spuren hinterlassen und eine unzureichende Krisenfestigkeit unserer Gesellschaft offenbart. Viele Menschen fühlen sich nach der Pandemie alleingelassen mit ihren Enttäuschungen, Ängsten und Verlusterfahrungen und haben Vertrauen in staatliche und wissenschaftliche Institutionen verloren. Es wurden Existenzen zerstört und Lebenspläne über den Haufen geworfen, Freundschaften und Familien sind an der Polarisierung der Gesellschaft zerbrochen. Zwar wächst die Einsicht, dass unsere Reaktion auf die Bedrohung durch das Virus in vielerlei Hinsicht nicht optimal war, dass beispielsweise die langen KiTa-, Schul- und Hochschulschließungen nicht verhältnismäßig waren und Familien, insbesondere Mütter, nachhaltig belastet haben. Ebenso werden psychische und soziale Vereinsamung der vulnerabelsten Gruppen (z.B. psychisch Kranke und hochbetagte Menschen) als Kollateralschäden nicht hinreichend austarierter Schutzmaßnahmen anerkannt. Doch bleibt die bisherige Reflexion über die Pandemie zu punktuell und zu sehr vom Streben nach politischer und medialer Meinungshoheit geprägt. Es bedarf einer geordneten und systematischen Aufarbeitung, um robuste Lehren für zukünftige Krisen zu ziehen und ähnliche Fehler zu vermeiden.

Wir schließen uns daher Forderungen nach Einsetzung einer Kommission zur Aufarbeitung der Pandemie an. Eine offene, kritische und konstruktive »Nachbesprechung« ist unverzichtbarer Teil eines jeden professionellen Krisenmanagements. Dabei ist neben dem objektiven Lernprozess auch die integrative Wirkung einer offenen Debatte auf die Zivilgesellschaft wesentlich. Hierzu gehört ein sachlicher Austausch unterschiedlicher Standpunkte als zentrales Merkmal einer demokratischen Diskussions- und Lösungskultur.

Wir wollen hier Themen und geeignete methodische Grundlagen für den Aufarbeitungsprozess identifizieren, ohne Antworten zu strittigen Sachfragen vorwegzunehmen.

Die Kommission sollte erstens die unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie und Kollateralschäden umfassend untersuchen und Strategien für ihre Bewältigung und zukünftige Vermeidung erarbeiten. Im Lichte der Pandemieerfahrungen sollte die Kommission insbesondere beleuchten:

  • das Gesundheitssystem mit Blick auf die gesamte Versorgungspyramide – von der hausärztlichen Versorgung bis zur Spitzenmedizin, einschließlich der ambulanten und stationären Pflege sowie des öffentlichen Gesundheitswesens
  • das Bildungssystem von der Kita bis zur Hochschule, auch unter Berücksichtigung sozialer und psychologischer Faktoren für erfolgreiche Bildung und Entwicklung;
  • soziale Spannungen und psychische Belastungen der Menschen in unserem Land und die Verschärfung sozialer Ungleichheiten;
  • die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie(maßnahmen);
  • Kollateralschäden für das kulturelle und soziale Leben.

Die Kommission sollte zweitens das Pandemiemanagement kritisch überprüfen. Dabei gilt es einerseits, Rückschaufehler zu vermeiden, andererseits aber auch ex ante übersehenes Wissen und Handlungsalternativen zu benennen, die Lernfortschritte der letzten drei Jahre zu integrieren und Vergleiche mit anderen Ländern heranzuziehen. Auch Beispiele guter Krisenbewältigung auf nationaler und internationaler Ebene gilt es herauszuarbeiten. Zu erörtern sind insbesondere:

  • Transparenz, Evidenzbasiertheit und Effizienz von Entscheidungs- und Fehlerkorrekturprozessen;
  • das Zusammenspiel von Exekutive, Legislative und Judikative sowie Wissenschaft und Medien;
  • Qualität wissenschaftlicher Politikberatung (Breite der Expertise, Mechanismen der Beraterauswahl, fachliche Verlässlichkeit, Interessenkonflikte, etc.);
  • Organisation und Balance wissenschaftlicher Forschung, von sorgfältiger Datenerhebung und Modellierung über klinische Studien und nicht-medizinische Begleitforschung bis zu Impfmanagement und Pharmakovigilanz;
  • Kommunikation von staatlichen Behörden, wissenschaftlichen Institutionen und Medien, auch im Hinblick auf eine systematische Einordnung der Belastbarkeit wissenschaftlicher Evidenz.

Für sachlich solide Ergebnisse und die angestrebte befriedende Wirkung braucht es dabei tragfähige organisatorische und methodische Arbeitsgrundlagen:

  • Die Aufarbeitung sollte möglichst entpersonalisiert und unabhängig von politischen Interessen aus einer systemischen Perspektive erfolgen.
  • Bei der Auswahl der Kommissionsmitglieder und der Anhörung weiterer Sachverständiger ist eine breite Repräsentation relevanter nationaler und internationaler Expertise anzustreben.
  • Fachlich fundierte Kritik am Pandemiemanagement der letzten drei Jahre muss eingebunden werden.
  • Interessenkonflikte aufgrund von Beratertätigkeiten und anderer relevanter Funktionen sollten minimiert werden.
  • Zur Vertrauensbildung ist ein hohes Maß an Transparenz und Öffentlichkeit des Verfahrens erforderlich.
  • Erfahrungen der Menschen in unserem Land müssen in angemessener Weise in die Arbeit der Kommission einfließen, etwa in Anlehnung an das »listening exercise« des COVID-19 Inquiry im Vereinigten Königreich.

Wir wünschen uns im Sinne des gesellschaftlichen Friedens und im Interesse einer konstruktiven Nachbereitung der Pandemie breite, überparteiliche Unterstützung für die Einrichtung einer solchen Kommission. Die Nachbereitung der Pandemie erfordert ebenfalls ein erhebliches, auch selbstkritisches Engagement der deutschen Wissenschaftsgemeinschaft. Zu guter Letzt muss die Aufarbeitung der Pandemie als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden. Die Menschen in unserem Land müssen als Subjekte mit eigener Stimme beteiligt werden. Eine vom Bundestag eingesetzte Kommission ist hierzu nur ein erster Schritt. Sie muss flankiert werden durch partizipative, von der Politik unabhängige Foren, für die eine geeignete Infrastruktur zu schaffen ist. Wir laden alle Menschen in unserem Land mit ihren vielfältigen Perspektiven auf die Pandemie ein, unser Anliegen zu unterstützen und mit ihren eigenen Erfahrungen am Prozess der Aufarbeitung auf ihre Weise selbst mitzuwirken – mutig, reflektiert, fair und im Bemühen, unser Bestes zu geben.

Erstunterzeichner

Prof. Gerd Antes (Mathematik, Medizinstatisik)
Dr. Sonja Bastin (Soziologie)
Dr. Pascal Berger (Soziologie)
Prof. Astrid von Blumenthal (Rechtswissenschaften)
Prof. Volker Boehme-Neßler (Rechtswissenschaften)
Prof. Ralph Brinks (Epidemiologie, Medizinische Biometrie)
PD Hans-Peter Dürr (Infektionsepidemiologie)
Prof. Martin Eichner (Math. Modellierung, Infektionsepidemiologie, Biometrie)
Prof. Oliver Faude (Sportwissenschaften)
Prof. Dr. Katrin Gierhake, LL.M. (Rechtswissenschaft)
Dr. Wolfgang Glitscher (Projektmanagement)
Prof. Martin Haspelmath (Sprachwissenschaft)
Dipl.-Psych. Ulrike Hauffe (Mitglied im G-BA – Versichertenvertreterin, stellv. Verwaltungsratsvorsitzende der BARMER)
Prof. Ursel Heudorf (öffentl. Gesundheitswesen und Kinderheilkunde, ehem. Stellvertretende Leiterin des Gesundheitsamtes Frankfurt)
Prof. Johannes Hübner (pädiatrische Infektiologie)
Prof. Reinhard Kienberger (Physik)
Prof. Klaus Kraemer (Soziologie)
Prof. Detlev Krüger (Virologie)
Prof. Josef Franz Lindner (Rechtswissenschaften)
Dr. Thomas Maibaum (Allgemeinmedizin)
Prof. Markus Maier (Psychologie)
Prof. Dr.phil. Gabriele Meyer (Pflegewissenschaft, Präsidentin der European Academy of Nursing Science)
Prof. Ingrid Mühlhauser (Gesundheitswissenschaften, ehem. Vorsitzende EbM-Netzwerk)
A/Prof Bernhard Müller (Physik & Simulation)
Prof. Peter Oestmann (Rechtswissenschaften)
Dr. Inken Padberg (Biologie/Medizin)
Prof. Johannes Pantel (Altersmedizin)
Prof. Andreas Radbruch (Immunologie)
Prof. Martin Scherer (Allgemeinmedizin)
Dr. René Schlott (Geschichtswissenschaften)
Prof. Jonas Schmidt-Chanasit (Virologie)
Prof. Matthias Schrappe (Infektiologie, Patientensicherheit, Versorgungsforschung, Qualitätsmanagement)
Dr. Dirk Schuricht (A/Prof Physik)
Prof. Joachim Steffen (Sprachwissenschaft/Romanistik)
Prof. Klaus Stöhr (Public Health, Epidemiologie, Virologie, Vakzinologie)
Pro.f. Wolfang Streeck (Soziologie)
Prof. Jürgen Windeler (Klinische Epidemiologie; ehem. Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen IQWiG)

Weitere Unterzeichnerinnen und Unterzeichner

Hanna Bonnyai, MA (Orthopädie/Unfallchirurgie)
Anna Zischow, M.Sc.(Psychologie)
Prof. Dr. Kirsten Thommes (Wirtschaftswissenschaften)
Andrea Grimstad (Allgemeinmedizin)
Dr. med. Christian Haffner (Allgemeinmedizin)
Daniela Pischel (Fachärztin fü Gynäkologie und Geburtshilfe)
Dr. Robert Bernsee (Wirtschaftsgeschichte)
Dr.Dr. Alexander Wess (Facharzt für MKG-Chirurgie)
Dr. med. Peter Klare (Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe; Gynäkologische Onkologie)
Dr. med. Michael Kirsch (Facharzt für Neurologie und Psychiatrie)
Dr. med. Hans-Otto Wagner (Facharzt für Allgemeinmedizin)
Jochen Walz (Facharzt für Allgemeinmedizin)
Prof. Hendrik Jürges (Volkswirtschaftslehre, Gesundheitsökonomik
Dr. David Gomez Serrano (Kieferorthopädie)
Dr. med. Christian Wolf MPPM FBCPM (Arzt und Pharmakologie)
Dr. med. Katharina Husmann (Assistenzärztin Allgemeinmedizin)

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