Paradoxien der Nachhaltigkeit

Zuletzt aktualisiert am 9. Dezember 2023.

Die Idee der Nachhaltigkeit stammt aus dem Barock, dem Absolutismus, dem Zeitalter des Merkantilismus, der auf die Mehrung des Reichtums der Territorialfürsten abzielte. Sie ist Ausdruck einer frühen Form der Planwirtschaft. Die Paradoxien der Nachhaltigkeit sind jüngeren Datums.

Paradoxien der Nachhaltigkeit

Historische Darstellung des Bergbaus im Erzgebirge auf dem Annaberger Bergaltar (1522) Ausschnitt.

Formuliert hat das Prinzip wohl erstmals ein Forst- und Bergbauminister, der im Dienst August des Starken stand, der Sachsen und Polen-Litauen in Personalunion regierte, in ganz Europa für seine ebenso rauschenden wie verschwenderischen Feste bekannt war und seine Residenzstadt Dresden zu einer führenden Kulturmetropole der Barockzeit erhob. Hans Carl von Carlowitz, der dem alten sächsischen Adel entstammte, trug im »augusteischen Zeitalter« die Verantwortung für einen Großteil des kurfürstlich-königlichen Privatbesitzes und machte sich Gedanken, wie in Zeiten einer Energiekrise, die damals »Holzknappheit« hieß, genügend Nachschub an Brennmaterial für die Hütten im Erzgebirge gesichert werden konnte, das zu dieser Zeit eine der größten Montanregionen Europas war. Der Bergbau im Erzgebirge hatte Tradition: Bereits im 12. Jahrhundert waren am Nordfuß des Gebirges Silber und Zinnerz abgebaut worden, im 13. Jahrhundert kamen Glashütten hinzu, sowie die Förderung von Kupfer und Wismut. Auch nach einem Niedergang des Erzbergbaus im 17. Jahrhundert und den Zerstörungen durch den 30jährigen Krieg wurde er im sächsischen Teil des Erzgebirges fortgeführt, mit dem Zentrum in Freiberg, wo auch das kurfürstliche Oberbergbauamt seinen Sitz hatte. An die Stelle des erschöpften Silbers trat Kobalt, aus dem Kobaltblau gewonnen wurde. Daneben wurde Kaolin für die Porzellanherstellung in Meißen gefördert. Carlowitz verwaltete als Oberberghauptmann des Erzgebirges die ganze Region, in der Kohle hergestellt und Erz verhüttet wurde. In Freiberg rauchten nicht erst zu DDR-Zeiten die Schornsteine oder Meiler. An der Bergakademie Freiberg studierte unter dem verehrten Abraham Gottlob Werner ab 1797 Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, Montanwissenschaften, um später als Salinenassessor Braunkohlelagerstätten für den Landesherrn zu erschließen.

Carlowitz kam rund 80 Jahre vorher am selben Ort auf die Idee einer nachhaltigen Fortwirtschaft, weil er die Herstellung von Kohle garantieren musste, mit der die Brennöfen im Erzgebirge betrieben wurden. Dabei verfolgte er auch ein Familieninteresse, war doch das Amt des Oberforstmeisters schon seit Generationen in seiner Familie vererbt worden. Auch in dieser Hinsicht, nicht nur aus Rücksicht auf die Schatulle des Kurfürsten, dachte er nachhaltig. Daneben war in Zeiten der Holzknappheit auch der Nachschub von Brennholz für Privathaushalte, die im Winter nicht frieren wollten, ein Problem. Aus dem angedeuteten Kontext wurde die Idee der Nachhaltigkeit geboren: als Projekt der Sicherung des Energienachschubs.

Carlowitz hielt diese Sicherung für so bedeutsam, dass er von ihr die Existenz der Gesellschaft, für die er Mitverantwortung trug, abhängig sah. In seiner 1713 erschienenen Silvicultura oeconomica schrieb er:

Wird derhalben die größte Kunst/Wissenschaft/Fleiß und Einrichtung hiesiger Lande darinnen beruhen wie eine sothane [solche] Conservation und Anbau des Holzes anzustellen / daß es eine continuirliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe / weiln es eine unentbehrliche Sache ist / ohne welche das Land in seinem Esse nicht bleiben mag.

Ohne welche das Land in seinem »Esse« – seiner Essenz oder Existenz – nicht zu bestehen vermag.

Auch wenn der Begriff der Nachhaltigkeit erstmals von Carlowitz formuliert wurde, ist die dahinterstehende Idee der Vorsorge erheblich älter. Kulturgeschichtlich entfaltete ihre erste Wirkung mit dem Übergang vom Jagen und Sammeln zum Ackerbau, der auf dem Prinzip beruht, einen Teil der Ernte zurückzuhalten, um damit die Ernte des künftigen Jahres zu ermöglichen. Die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung (alles Gesammelte aufzuessen) wurde also kulturell gehemmt, um die künftige zu ermöglichen. Der Ackerbau war mythisch gesprochen ein Geschenk der Götter oder von Kulturheroen, ging also auf den Eingriff des Geistes in die Natur zurück. Der Streit zwischen Kain und Abel hielt die neolithische Revolution, den Übergang von der umherschweifenden, den Wandelsternen verbundenen, zur sesshaften, den Fixsternen zugewandten Lebensweise mythologisch fest. Schon damals standen Konsum (luxuria) und Verzicht (castitas) miteinander im Konflikt.

Die heutige Konjunktur des Nachhaltigkeitsbegriffs begann mit einem Bericht der Brundlandt-Kommission, die 1987 im Auftrag der Vereinten Nationen versuchte, langfristige Perspektiven für die Entwicklungspolitik aufzuzeigen, die zugleich umweltschonend sein sollten. Eine Rolle bei seiner Popularisierung spielten auch die Berichte des Club of Rome, dessen auf Ressourcenschwund fixierte Einschätzungen sich ein ums andere Mal als falsch erwiesen und der dem IPCC als »schlechteste prophetische Institution aller Zeiten« den ersten Rang streitig macht. 2017 verabschiedete die Vollversammlung der UNO 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung. In der totalitären UN-Konzeption von Nachhaltigkeit geht es nicht nur um die Umwelt, sondern auch um ökonomische und soziale Entwicklung, die mit dem ökologischen Ziel gleichrangig sind. Nachhaltigkeit wird als Voraussetzung für weltweit dauerhaft stabile Gesellschaften gesehen. In ihrer synchronen Bedeutung schließt sie »globale Gerechtigkeit« ein, da sie für alle gleichzeitig existierenden Länder gilt und in ihrer diachronen Bedeutung »Generationengerechtigkeit«, da sie auch für die Nachkommen die gleichen oder sogar bessere Lebensbedingungen sicherstellen soll. Die 17 Ziele der UNO sind ein Sammelsurium all dessen, was eine Weltbehörde, die den Anspruch erhebt, für das Wohlergehen der gesamten Menschheit verantwortlich zu sein, für wünschenswert hält: angefangen mit der Abschaffung der Armut, des Hungers, der Verwirklichung eines gesunden Lebens und einer hochwertigen Bildung für alle, über die Gleichstellung der Geschlechter, die Verringerung der Ungleichheit, die Sicherung von Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand, den Kampf gegen den Klimawandel, die Bewahrung der Ozeane und Landökosysteme, die Herstellung einer verfügbaren Wasser- und Sanitärversorgung, bis hin zu spezifisch nachhaltigen Zielen im Bereich der Energie, des Wirtschaftswachstums und der Industrialisierung. Es ist offensichtlich, dass einige dieser Ziele zueinander im Konflikt stehen.

Verglichen mit heute hat der Begriff der Nachhaltigkeit im Bereich der Umwelt und Energiepolitik einen Bedeutungswandel von 180 Grad erfahren. Heute wird unter Berufung auf die Nachhaltigkeit der möglichst schnelle Ausstieg aus der fossilen Energiewirtschaft gefordert und insbesondere in Deutschland mit fanatischem Eifer umgesetzt. Mit der Nachhaltigkeit wird die Verteufelung der Kohle propagiert, so wie im augusteischen Zeitalter und später die Kohle als eine der Quellen des gesellschaftlichen Wohlstandes glorifiziert wurde. Auch heute geht es um Energiesicherung, nur dass sie von sogenannten erneuerbaren, alternativen Energien erhofft und die Kohle und ihre Verwandten für den bevorstehenden Untergang der Menschheit verantwortlich gemacht werden. »Erneuerbar« ist an der Energie von Wind und Sonne nichts, da, wer sie erneuern wollte, Herrschaft über die Quelle von Sonnen- oder Windenergie ausüben müsste. Wie »nachhaltig« eine Energiewende ist, die durch die drohende Klimaapokalypse gerechtfertigt wird, lässt sich derzeit in Deutschland beobachten: der gleichzeitige Ausstieg aus Atom und Kohle führt zu größerem Einsatz fossiler Energien, massiven Preissteigerungen, zur Deindustrialisierung des Landes und zur Verarmung großer Teile der Bevölkerung.

Das ist aber nicht das einzige Paradoxon der Nachhaltigkeit, es gibt noch viele weitere, grundlegendere.

So setzt die Idee der Nachhaltigkeit, obwohl sie mit der Vorstellung von Entwicklung verknüpft wird (»nachhaltige Entwicklung«), ein statisches Weltbild, einen bleibenden Zustand von Umwelten und Gesellschaften voraus, was allen Erfahrungen der Geschichte widerspricht. Der Widerspruch, der übrigens dem Naturschutzgedanken insgesamt innewohnt, zeigt sich daran, dass die Nachhaltigkeit mit der Annahme begründet wird, sie könne »dauerhaft stabile Gesellschaften« schaffen. Weder die Natur noch die Geschichte sind jemals geblieben, was sie zu einem bestimmten Zeitpunkt waren, sie unterlagen vielmehr kontinuierlicher Veränderung. Wenn etwas progressiv ist, dann die Natur, die sich ständig wandelt und die Geschichte, die uns ebenfalls über die Vergänglichkeit aller sozialen Systeme und Staatsformen belehrt. Die Idee der Nachhaltigkeit ist hingegen eine erzkonservative Idee. Sie will, dass alles so bleibt, wie es ist und dass Eingriffe des Menschen in den status quo der Natur praktisch keine Spuren hinterlassen. Würde man das Prinzip der Nachhaltigkeit, das heute als universelles Prinzip angebetet wird, tatsächlich universell anwenden, müsste man beispielsweise in demografisch schrumpfenden Gesellschaften keine Stellen für Gleichstellungsbeauftragte schaffen, sondern Stellen für Mütterbeauftragte, die dafür sorgen, dass die Populationen genügend Nachkommen zeugen, um ihren Bestand zu erhalten. Eine Reproduktionsrate von unter 2.1 Kindern pro Mutter ist nicht nachhaltig, da sie zu Überalterung, Schwächung, Schrumpfung und kultureller sowie wirtschaftlicher Stagnation von Gesellschaften führt. Eine solche Anwendung der Nachhaltigkeit ist aber heute aufgrund ihrer historischen Assoziationen tabu. In Gesellschaften mit einem beträchtlichen Geburtenüberschuss hingegen würde nachhaltige Entwicklung bedeuten, Programme zur Geburtenkontrolle einzuführen, wie z.B. das Einkindprogramm Chinas, zusammen mit einer Verbesserung der medizinischen Versorgung und einer Verbesserung der Ernährung, um die Kindersterblichkeit zu reduzieren. Die Einführung solcher demografischer Programme wäre jedoch mit erheblichen Eingriffen in die Rechte der betroffenen Bevölkerungen verbunden und vermutlich kaum zu realisieren.

Die Idee des Schutzes oder der Erhaltung, die wie gesagt, eine konservative Idee ist, kollidiert auch mit der Idee des Fortschritts, die Veränderung bedeutet. In Gegenden der Erde, die den Wohlstand der Bevölkerungen auf das Niveau der westlichen Gesellschaften zu heben versuchen, ist die nachholende Entwicklung mit beträchtlichen Eingriffen in die Umwelt verbunden, während für Länder, deren wirtschaftliche Existenz auf Abbau und Export fossiler Rohstoffe beruht, ein radikales Umschwenken auf CO2-Vermeidung katastrophale Folgen zeitigen würde. Aus diesen Gründen handeln Länder wie Indien, China oder Brasilien auch nicht den Bekenntnissen gemäß, die sie in bezug auf die Klimaziele der UN abgelegt haben.

Der Nachhaltigkeitsideologie liegt eine Sicht auf den Menschen zugrunde, die ihn vor allem als Schädling im Ökosystem der Erde betrachtet, der verantwortlich für alles Schlechte ist: die Verschmutzung und Zerstörung der Umwelt, ein einzigartiges Artensterben und die Abnahme von Diversität, das Schmelzen der Gletscher und der Eiskappen der Pole usw. Das Verhältnis des Menschen zur Erde ist das eines Parasiten, der nicht die Klugheit besitzt, im eigenen Interesse für das Überleben des Wirtsorganismus zu sorgen. Ihr wohnt dieselbe prometheische Hybris inne, wie der entgegengesetzten Vorstellung, er hätte die Macht, die Veränderung der Natur und des Klimas in geologischen Zeiträumen zu verhindern oder aufzuhalten. Ebensowenig, wie wir die Kontinentaldrift oder die Sonnenzyklen beeinflussen können, vermögen wir auch die globalen Windströmungen oder den globalen Wärmehaushalt der Erde zu beherrschen. Wendebefürworter sind derselben technokratischen Denkweise verhaftet wie die, die sie kritisieren, sie sehen im Menschen einen Ingenieur der Erde und einen Manager ihrer Ressourcen. Ressourcen für wen? Betrachten sich etwa andere Biosysteme als Ressourcen für etwas? Oder leben nicht alle, indem sie andere verzehren und durch ihre Vermehrung die Grundlage für das Leben anderer schaffen? Instinktiv und wie von einer »unsichtbaren Hand« geleitet?

Die Umwelt – die damals allerdings noch nicht »Umwelt« des Menschen war – wurde auch schon verschmutzt und zerstört, als der Mensch noch gar nicht existierte: davon zeugen die großen Katastrophen der Erdgeschichte, die in der Regel mit einem Massensterben von Arten einhergingen, aber gleichzeitig die explosionsartige Entstehung neuer Arten und damit die Evolution ermöglichten. Die Paläoontologie spricht von den »großen Fünf«, katastrophischen Ereignissen der Erdgeschichte, bei welchen jeweils 75% aller Arten oder sogar mehr von der Erdoberfläche verschwanden. Gletscher und Polkappen schmolzen und wuchsen im regelmäßigen Wechsel geologischer Kalt- und Warmzeiten, ihre gegenwärtige Ausdehnung ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass wir uns immer noch in einer geologischen Eiszeit, dem Känozoischen Eiszeitalter befinden und innerhalb desselben in einem Interglazial, dem Holozän. Hätten zur Zeit der Saurier beispielweise Vertreter der Nachhaltigkeit gelebt, hätten sie alles tun müssen, um deren Aussterben zu verhindern. Ob die Umwelt für die Existenz der Menschheit dadurch angenehmer geworden wäre als die heutige, darf bezweifelt werden. Im Gegenteil: den Menschen würde es gar nicht geben, wenn die Saurier nicht ausgestorben wären.

Die mit der Nachhaltigkeit verbundene Vorstellung der Sparsamkeit, des sorgsamen Umgangs mit Ressourcen, ist ebenfalls kein Prinzip der Natur, sondern eine kulturelle Innovation. Das in der Natur vorherrschende Prinzip ist der Überfluss und die Verschwendung (Abundanz). In einem Goethe zugeschriebenen Aufsatz über die Natur heißt es, »Leben« sei »ihre schönste Erfindung«, der Tod ihr »Kunstgriff«, »viel Leben zu haben«. Die Sorge um das Überleben ist der Pflanzen- oder Tierwelt fremd. Sie ist auf die Angst des Menschen vor dem Tod zurückzuführen, eine irrationale Angst, da sie an der Tatsache, dass er sterben muss, nichts zu ändern vermag. Wäre das Bewusstsein der Neuzeit aufgrund der Ausblendung aller metaphysischen Horizonte nicht so sehr auf das Diesseits fixiert, gäbe es keine Todesangst, erst recht nicht, wenn die Tatsache der Reinkarnation zum allgemeinen Bildungsgut gehörte.

Mit der Angst vor dem Tod hängt auch die Sorge um die künftigen Generationen zusammen, die Idee der »Generationengerechtigkeit«, für die der Begriff der »Enkeltauglichkeit« geprägt wurde. Nachhaltigkeit soll auch dafür sorgen, dass unsere Nachfahren ihre Bedürfnisse im gleichen Umfang, zu denselben Bedingungen wie wir befriedigen können. Aber wer kennt die Bedürfnisse der nachfolgenden Generationen? Wer weiß, in welchen Umwelten sie leben, wonach sie begehren oder nicht begehren werden? Man blicke nur einige Jahrhunderte zurück: Welche Sehnsüchte und Daseinsgewissheiten drücken die für die Ewigkeit gebauten gotischen Kathedralen aus? Wie radikal hat sich die Lebensumwelt und der ideelle Ausblick der gesamten Menschheit in wenigen Jahrhunderten verändert! Können wir uns tatsächlich vermessen, die Lebensumstände und spirituellen Bedürfnisse der Menschheit, die in fünf Jahrhunderten auf der Erde existieren wird, zu antizipieren?

Hätten unsere Vorfahren so gedacht, hätten sie sich gegen alle technischen und gesellschaftlichen Neuerungen zur Wehr setzen müssen, denen wir unser heutiges langes und (mehr oder weniger) gesundes Leben verdanken: Neuerungen in der Medizin, wie der Hygiene oder der Einführung von Antibiotika, in der Wirtschaft, wie der Industrialisierung und der Einführung von Verbrennungsmotoren (!), in den politischen Systemen, wie der Demokratisierung und Liberalisierung und so weiter und so fort. Es hätte keine Modernisierung und keine Säkularisierung, keine Aufklärung und keine empirischen Wissenschaften gegeben. Wir würden immer noch Hexen verbrennen, an der Pest sterben, Priestern gehorchen und Verbrecher vierteilen oder häuten. Wir hätten niemals den Landbau entdeckt und würden noch immer jagen und sammeln wie die kleinen, umherziehenden Horden vor der neolithischen Revolution. Jene »große Transformation« die den Vertretern der Nachhaltigkeit vorschwebt und gegenwärtig atemlos von der herrschenden Koalition in Deutschland umgesetzt wird, endet mit ziemlicher Sicherheit in einer Gesellschaft, in der es den künftigen Generationen nicht eben so gut geht wie uns, erst recht nicht besser, sondern schlechter.

In welche Wüste die Paradoxien der Nachhaltigkeit führen, hat der leider zu früh verstorbene Historiker der Zeitenwende, Rolf Peter Sieferle, bereits 1998 beschrieben:

»Der Ökosozialismus der Zukunft«, heißt es in seinem Buch Epochenwechsel, würde mit dem Projekt einer totalen Herrschaft von Vernunft und Tugend ernst machen wollen – ernster jedenfalls, als es dies dem älteren, sozial-ökonomischen Sozialismus gelungen war. Nachdem die Umweltschädlinge in der kapitalistischen ›Industrie‹ beiseite geschoben (oder beiseite geschafft) worden sind, soll der gesamte Stoffwechsel der Menschheit mit der Natur unter rationale Kontrolle gebracht werden, was weitgehend mit einer technischen Neukonstruktion von Naturzuständen verbunden sein müsste. In einer eher asketischen Variante würde eine solche Ökodiktatur auf eine effiziente und gerechte Verwaltung des Mangels setzen, nachdem alle Hoffnungen auf eine Zukunft, in der die Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums sprudeln, gescheitert sind. Nichts setzt allerdings einer Phantasie Schranken, die weiterhin auf eine so totale Naturbeherrschung setzt, dass nicht nur Gleichgewicht und Bewahrung, sondern auch Wohlstand und Überfluss für alle versprochen werden können.

Solche Programme der Ökodiktatur implizieren jedoch nicht nur eine totale Herrschaft der Vernunft, sondern auch eine Vernünftigkeit totaler Herrschaft. Die umfassende Regelung und Kontrolle von Produktion und Konsum, von Versorgung und Entsorgung, von Wachstum und Reproduktion würde jedenfalls den Bereich des ›staatlichen‹ oder administrativen Handelns enorm ausweiten. Es wäre kaum noch denkbar, dass dies alles ohne Zwang vonstatten gehen könnte. So sehr auf die Entfaltung einer die natürliche ›Mitwelt‹ liebenden Tugend gesetzt werden könnte, so bald würde sich die Komplementarität von Tugend und Terror wieder zeigen. Das dionysische Individuum [das in der Tradition des Liberalismus auf persönliche Freiheit und Selbstbestimmung pocht] würde sich am Ende wieder die Augen darüber reiben können, mit was für einem gefährlichen Bettgenossen es sich da eingelassen hat.«[1]

Die heutigen Apokalyptiker der unmittelbar bevorstehenden Klimakatastrophe, die Mitglieder von Extinction Rebellion oder der Letzten Generation, die sich an Gebäuden und auf Straßen festkleben, ebenso wie ihre leicht gemäßigten Brüder und Schwestern von Fridays for Future, sind Wiedergänger mittelalterlicher Sekten, die singend und tanzend durch die Lande zogen und die Menschheit zur moralischen Umkehr aufforderten. Damals wurde zu Kreuzzügen aufgerufen, um die Muslime aus dem Heiligen Land zu vertreiben. Die Teilnehmer waren überzeugt, den Willen Gottes zu erfüllen, also im höchsten Sinne moralisch zu handeln, und außerdem durch ihre Teilnahme am gerechten Krieg gegen die Heiden ihr eigenes Seelenheil zu sichern. Damals machten sich tausende von Kindern, angeführt von Knaben, die von Visionen heimgesucht wurden, zu einem Kreuzzug auf, von welchen die meisten den Marsch nicht überlebten, die wenigen Überlebenden jedoch in die Sklaverei verkauft wurden. Auch damals gab es eine Bewegung der freiwilligen Armut, die die Auffassung vertrat, der heilige Gral, das Grab Christi in Jerusalem, könne nur von Armen und Unschuldigen zurückerobert werden. Die Rückeroberung des Grabes Christi war nach damaligen Begriffen ein Nachhaltigkeitsziel, da von der Herrschaft der Christen in Jerusalem das Schicksal und Seelenheil der gesamten Christenheit abhing. Auch damals gab es Ketzer und Leugner, unumstößliche Dogmen der führenden »Wissenschaft« (die Theologie hieß), Ablasshandel und Bekenntniszwang, Geißlerumzüge und Veitstänzer. Der Ablasshandel kehrte als Handel mit CO2-Zertifikaten zurück, der genau denselben Zweck erfüllt: sich von etwas freizukaufen, das zur Sünde erklärt wird; der Bekenntniszwang in der Meinungskonformität der Medien und der Verfolgung von Abweichlern, die aus der Gesellschaft ausgestoßen werden, weil sie sich der mittlerweile staatlich verordneten Wahrheit nicht unterwerfen wollen.

Sektiererischer Wahnsinn hat etwas ungemein ansteckendes, er befällt Menschen quer durch alle Gesellschaftsschichten, unabhängig von ihrem Bildungshintergrund oder Einkommen, ja er wird sogar häufig von den Gebildeteren und Begüterten propagiert, während das Prekariat sich um wichtigere Dinge kümmern muss. Wenn Politiker Greta Thunberg mit den Propheten des Alten Testamentes oder Vertreter christlicher Religionsgemeinschaften sie mit Jesus vergleichen, wollen manche Anthroposophen ihnen nicht nachstehen, und glauben, durch sie spreche die Stimme des Erzengels Michael, wie einst durch Jeanne d’Arc. Wer das von Furcht und Hass verzerrte Gesicht der schwedischen Jungfrau bei ihrer Rede vor dem UN-Klimagipfel in New York 2019 gesehen und nüchtern zur Kenntnis genommen hat, was sie sagte, kann ob solcher Assoziationen nur den Kopf schütteln.

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Trotz allem trägt die Idee der Nachhaltigkeit etwas Positives in sich. Es ist ihr konservativer Kern, der in der Haltung besteht, zu bewahren, was gut ist und sich bewährt hat und Rücksicht auf die Mitlebenden und Nachkommen sowie die Mitgeschöpfe auf Erden zu nehmen. Wird er in der gebührenden Demut befolgt, immunisiert er zugleich gegen die technokratische Hybris, die im Namen einer ungewissen Zukunft die Gegenwart verspielt und die bewahrenswerten Errungenschaften der Vergangenheit zugunsten eines kurzsichtigen Aktionismus verteufelt.

Goethes »Hymnus an die Natur«

Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hinein zu kommen.

Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arm entfallen.

Sie schafft ewig neue Gestalten; alles ist neu und doch immer das Alte.

Sie baut immer und zerstört immer.

Sie lebt in lauter Kindern; und die Mutter, wo ist sie? Sie ist die einzige Künstlerin; sie spielt ein Schauspiel; es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr. Sie verwandelt sich ewig, und ist kein Moment Stillstehen in ihr.

Ihr Tritt ist gemessen, ihre Ausnahmen selten, ihre Gesetze unwandelbar.

Gedacht hat sie und sinnt beständig.

Die Menschen sind alle in ihr, und sie in allen. Auch das Unnatürlichste ist Natur, auch die plumpste Philisterei hat etwas von ihrem Genie.

Sie liebt sich selber; sie freut sich an der Illusion. Ihre Kinder sind ohne Zahl.

Sie spritzt ihre Geschöpfe aus dem Nichts hervor. Leben ist ihre schönste Erfindung, der Tod – ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben.

Sie hüllt den Menschen in Dumpfheit ein und spornt ihn ewig zum Lichte. Man gehorcht ihren Gesetzen, auch wenn man ihnen widerstrebt; man wirkt mit ihr, auch wenn man gegen sie wirken will.

Sie macht alles, was sie gibt, zur Wohltat.

Sie hat keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht.

Ihre Krone ist die Liebe.

Sie macht Klüfte zwischen allen Wesen und alles will sie verschlingen.

Sie hat alles isoliert, um alles zusammenzuziehen.

Sie ist alles. Sie belohnt sich selbst und bestraft sich selbst, erfreut und quält sich selbst. Vergangenheit und Zukunft kennt sie nicht. Gegenwart ist ihr Ewigkeit.

Sie ist gütig, sie ist weise und still.

Sie ist ganz und doch immer unvollendet.

Jedem erscheint sie in einer eigenen Gestalt. Sie verbirgt sich in tausend Namen und ist immer dieselbe.

Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst!


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Anmerkungen:

  1. Rolf Peter Sieferle, Epochenwechsel. Die Deutschen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Berlin 2017, S. 362 f.

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