Der Corona-Staat

Zuletzt aktualisiert am 13. Dezember 2022.

»Corona hat ans Tageslicht gebracht, wie fragil unser Rechtsstaat ist. Ein Virus genügt, um bei Politikern totalitäre Allmachtsphantasien freizusetzen.« Das sind zwei Sätze aus der Einleitung des brillanten und zutiefst erschütternden Buches »Corona-Staat« von Alexander Christ. Der Autor ist Rechtsanwalt in Berlin und setzt sich seit Jahrzehnten für Freiheit, Grundrechte und Demokratie ein. Ein Engagement, das für den Vater von vier Kindern und seine Ehefrau Mella im März 2020 eine ganz neue Bedeutung erhielt. Außerdem ist er Politikwissenschaftler, Philosoph und Germanist und Mitautor des Spiegel-Bestsellers »Die Intensiv-Mafia«. Zur Zeit der Abfassung des Buches war er Pressesprecher der Anwälte für Aufklärung und am Aufbau des »Zentrums zur Aufarbeitung, Aufklärung, juristischen Verfolgung und Verhinderung von Verbrechen gegen die Menschheit aufgrund der Corona-Maßnahmen« (ZAAVV) beteiligt.

Rogier van der Weyden, Erzengel Michael als Seelenwäger. Bildquelle: Wikipedia.

Wie fragil der Rechtsstaat tatsächlich ist, und wie sich die genannten Allmachtsphantasien im Lebensalltag der bundesdeutschen Bevölkerung ausgewirkt haben, das zeichnet Christ auf rund 420 Seiten in seinem Ende Juni 2022 erschienenen Buch »Corona-Staat«[1] akribisch nach. Es ist eine meisterhafte Geschichtserzählung und zugleich eine Analyse der totalitären Tendenzen eines Rechtssystems, das von der allgemeinen Angstpsychose gekapert wurde, in die das Gespenst eines pestilenzialischen Virus Anfang 2020 große Teile der Gesellschaft versetzte. Christ, der über »Bürgerliche Freiheit und Strafrecht bei Montesquieu« promovierte, setzt in präziser Sprache auseinander, wie die vom französischen Aufklärer und Freimaurer (»Esoteriker«) formulierte Idee der Gewaltenteilung in der Zeit des ohne Not proklamierten Notstands außer Kraft gesetzt wurde, um den einst zu Recht bewunderten Rechtsstaat in einen Willkürstaat überzuführen.

Der größte Teil des Buches ist der Analyse des Versagens der Institutionen gewidmet: dem Versagen der Legislative (Rechtsetzung), der Exekutive (Rechtsanwendung) und der Judikative (Rechtsprechung). Das Kapitel über die Erosion der Rechtsprechung, das rund hundert Seiten einnimmt, befasst sich der Reihe nach mit dem Verwaltungsrecht, dem Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht, dem Arbeitsrecht, dem Zivilrecht und dem Verfassungsrecht. Hier werden zahlreiche Unrechtsurteile benannt, die im Namen des Rechts, das keines war, gesprochen wurden, aber auch einzelne leuchtende Beispiele unabhängiger Entscheidungen von Amtsgerichten hervorgehoben.

Eingerahmt werden die Fallstudien zu den fallenden Säulen unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung von zwei Kapiteln, die sich mit rechtsphilosophischen Fragen befassen: »Recht und Gerechtigkeit« am Anfang und »Recht und Vergebung« am Ende des Buches. Erkennbar stehen die Fragestellungen der beiden Kapitel zueinander in Beziehung. Kodifiziertes Recht, das unseren zivilen Umgang regelt, geht – im Idealfall – von der Suche nach Gerechtigkeit aus, Vergebung kann als freiwillige Handlung folgen, wenn der Gerechtigkeit Genüge getan wurde. Aber nicht immer erfüllt das kodifizierte Recht den Anspruch, den unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit an es stellt; häufig genug diente die Praxis des Rechts in den letzten Jahren der Ungerechtigkeit und schuf so erst das Unrecht, das den Weg zu Versöhnung und Vergebung verbaut.

Recht und Gerechtigkeit

Das einleitende Kapitel des Buches über »Recht und Gerechtigkeit« beschäftigt sich mit den Quellen des Rechts und den kulturellen Landmarken, an welchen sich unser sittliches Empfinden orientiert, das dem Sinn für Gerechtigkeit zugrunde liegt.

Letzterer ist viel umfassender als das kodifizierte Recht. Unser sittliches Empfinden greift aus nach Gut und Böse, nach der gerechten Ordnung des sozialen Lebens, es liegt dem Streben nach menschenwürdiger Gestaltung der Gesellschaft zugrunde.

Corona-Staat

Alexander Christ, Corona-Staat. Wo Recht zu Unrecht wird, wird Menschlichkeit zur Pflicht

Das Kapitel beginnt autobiografisch, tagebuchartig, mit einem Selbstgespräch. Von Anfang an werden die geschilderten Geschehnisse von einer Stimme kommentiert, in der sich das Gewissen des Autors kundtut. Er registriert die Ausrufung der »globalen Pandemie« durch die WHO am 11. März 2020, das Erscheinen der Bilder aus Bergamo und die öffentlichen Reaktionen auf sie. Seine eigene Reaktion war folgende: »Nach drei Tagen der Recherche war mir klar: Das, was da aus China über die Welt gekommen war, konnte nicht diese Gefährlichkeit entwickeln, die Medienberichte suggerierten … Dass die Erkrankungsintensität in etwa der Gefährlichkeit einer starken Grippewelle entsprach, … auch das war aus den ersten Berichten herauszulesen … Mit welcher Sterbewahrscheinlichkeit man vermutlich würde zu rechnen haben, las ich auch bereits, nämlich 0,05 bis 1 Prozent.«

Statt sich von solchen nüchternen Feststellungen leiten zu lassen, reagierte die Welt jedoch auf spektakuläre Bilder und die Botschaften, die sie angeblich transportierten. Was folgte, war ein »ungeheuerlicher kultureller Bruch, ein zivilisatorisches Desaster«. Die sogenannte Corona-Krise, so Christ, hat »glasklar ans Tageslicht gebracht, dass es in einer Bevölkerung wie der deutschen offenbar kein Einvernehmen« mehr gibt, was »Recht und Unrecht« ist. Was wie eine Banalität klinge, sei in Wahrheit »eine zivilisatorische Katastrophe. … Um es auf den Punkt zu bringen: Dieses Land, seine Kultur und seine Zivilisation sind wohl auf dem Wege hin zu einer vollständigen Zerstörung.«

Worin besteht der Kulturbruch? In der »Liquidation des Rechts« und dem Verlust des persönlichen moralischen Kompasses bei einer großen Zahl von Menschen. Ersteres wurde nach Einschätzung des Autors im Lauf von zwei Jahren »systematisch zerstört«. Eine mehr oder weniger harmlose Virusinfektion führte zu einem »Dammbruch der Eingriffe« in unveräußerliche Rechte. Grundrechte wurden begründungslos auf unbestimmte Zeit ausgesetzt, Freiheitsrechte tagtäglich beschnitten, Menschenrechte mit Füßen getreten. Besonders in Deutschland, »in dem Land, das am ehesten aus seiner Geschichte hätte gelernt haben müssen.« Die Corona-Situation führte nicht nur zur Liquidation des Rechts, sondern auch zum Ende des wissenschaftlichen Streitgesprächs, des vernunftgesteuerten Erkenntnisprozesses.

Die Reaktionen der Staatsmacht auf die großen Grundrechts-Demonstrationen im Sommer und Herbst 2020 erlebte der Autor hautnah als Ende einer kulturellen Tradition. Nicht nur Recht und Gerechtigkeit, sondern auch die Sozialsphären wurden durch den amoklaufenden Maßnahmenstaat zerstört. Ab Januar 2021 nahm Christ an zahlreichen Demonstrationen, Aufzügen, Treffen und Gerichtsverhandlungen teil. Als Teilnehmer und Anwalt erlebte er eine »von Angst und Obrigkeitshörigkeit gespeiste behördliche Willkür, polizeiliche Gewalt, … massiv ungerechtfertigte Diskriminierungen, unerträgliche Grundrechteingriffe gegen Einzelne, die teilweise nur als ›Folter‹ im Sinne der Menschenrechtskonvention gewertet werden können, Amtsmissbrauch, Missachtung der Menschenwürde, Missachtung des Rechts auf Bildung, Verletzung des Demonstrationsrechts und der Versammlungsfreiheit nach dem Grundgesetz und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – mit einem Begriff: Verbrechen gegen die Menschheit.«

Damit ist die Motivationslage beschrieben, die den Autor als Angehörigen der Rechtspflege bewogen hat, seine große Abrechnung mit dem Corona-Staat zu schreiben und die Frage aufzuwerfen, wie das von ihm begangene Unrecht »aufgearbeitet, aufgeklärt, juristisch verfolgt und in der Zukunft verhindert werden kann.«

Die Suche nach den Quellen von Recht und Gerechtigkeit ist stets auch die nach den Quellen des Unrechts. Woraus entspringt das institutionalisierte Böse und warum stimmen die Vielen ihm zu? Antworten findet Christ u.a. in Hannah Arendts Vorlesung über das Böse.

Hannah Arendt, Über das Böse

Hannah Arendt, Über das Böse

Unabdingbare Voraussetzung für ein totalitäres Unrechtssystem ist eine Bürokratie, die aus Menschen funktionierende Rädchen macht. Was auch immer die Legislative in einem Unrechtstaat vorgibt, wird von der Bürokratie exekutiert. So absurd oder unmenschlich die Regeln bei nüchterner Betrachtung auch erscheinen mögen, sie werden eisern umgesetzt, denn sie sind Gesetz – legal. Welche Regeln? Maskenzwang, Abstandsgebote, Testzwang, Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen, Versammlungs- und Demonstrationsverbote, Zensur, Zugangsbeschränkungen, Apartheid, Unterdrückung der Berufsfreiheit. Und die Vergehen gegen all diese Willkürsregeln werden automatenhaft sanktioniert, in einem Ausmaß, das häufig jenseits aller Verhältnismäßigkeit liegt. Selbst dann, wenn die Scheingründe für die Unrechtsverordnungen längst entfallen sind.

Ignoriert wird bei der blinden Anwendung von Regeln der Maßstab, an dem die angeblich legalen Eingriffe gemessen werden könnten: die Moralität. Arendt – und nicht nur ihr – zufolge steht letztere im Konfliktfall höher als die Legalität. Um so mehr erhebt sich die Frage, wie Menschen »wegen zum größten Teil geradezu lächerlich banaler Vorfälle derart unmenschlich handelten«. Polizisten, die auf Demonstranten oder Rentner einschlugen, nur weil sie keine Maske trugen, Schulleiter, die Kinder zwangen, sich demütigenden Testprozeduren zu unterziehen, Richter, die Verfahrensbeteiligte mangels Masken nicht in den Gerichtssaal ließen, Arbeitgeber, die ihren Angestellten den Zugang zum Arbeitsplatz verweigerten, Zugschaffner, die Fahrgäste nicht befördern wollten.

Offenbar hatten diejenigen, die der zur Regel erhobenen Unmenschlichkeit in ihrem Alltagshandeln als Exekutoren folgten, ihren moralischen Kompass verloren. Sie zogen Gehorsam dem moralischen Verhalten vor, das zuletzt im Gewissen des einzelnen Individuums gründet. Was den »Mitläufern« und »Mittätern« des Corona-Regimes fehlte, war die moralische Selbstreflexion. Zu ihr gehört unabdingbar, wie Christ betont, die Bereitschaft zum Selbstdenken, die Fähigkeit, sich in den Anderen hineinzuversetzen und die Treue gegenüber sich selbst. Un- oder amoralische Handlungen entstehen aus der Weigerung, sich zur Eigenverantwortung zu bekennen, die der widerspruchslosen Befolgung von Befehlen den Weg ebnet. Auf diese Weise, so Christ, »wird verständlich, warum Menschen in Abhängigkeit von sozialer Anerkennung und persönlicher Vorteilssuche den inneren Dialog aussetzen und sich einer Masse von Mitläufern und Mittätern anschließen.« »Darin liegt der Horror des Bösen und zugleich seine Banalität« (Arendt). Die Scheidung der Geister beginnt mit der Aufgabe der Selbstverantwortung bzw. dem Verzicht auf die Mündigkeit. »Während ein Teil der Menschen«, fährt Christ fort, »sich in die Gesellschaft einer skrupellosen Politmafia mit verdeckten Zielen begeben hat und entweder aus Mangel an Urteilskraft, aus Bequemlichkeit oder aus Verwirrung des eigenen Moral- und Wertekompasses oder aber aus Verweigerung des Selbstgesprächs die rechte Richtung, den Weg zu dem, was recht ist, was an sich von jedermann als das rechte Handeln erkannt werden müsste, verloren zu haben scheint, hat ein anderer Teil das Zwiegespräch mit sich selbst glücklicherweise nicht verlernt und praktiziert es nach wie vor.« Aus den ersteren rekrutierte sich die Mehrheit der Mitläufer, aus den letzteren der Widerstand. Ein Widerstand, der bis heute der Maxime folgt: »Wo Recht zu Unrecht wird, wird Menschlichkeit zur Pflicht.«

Sich vom Mitläufertum zu befreien, setzt die Fähigkeit voraus, ein Gespräch mit sich selbst zu führen, in dem man gleichsam neben sich steht, sich wie ein Außenstehender beobachtet und das, was man beobachtet, kritisch prüft, so Christ. Das kritische Bewusstsein – im Gegensatz zum naiven – beschrieb Rudolf Steiner 1891 als ein Bewusstsein, das aus der Beobachtung des eigenen Tuns und der Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit dieses Tuns hervorgeht.[2] Später bezeichnete er diesen Bewusstseinszustand als »Begegnung mit dem Doppelgänger« bzw. dem »Hüter der Schwelle«[3]. »Das Gespräch mit mir selbst, das Vermögen, mich außerhalb von mir selbst stehend beobachtend zu beurteilen, die rechte Gesellschaft, dazu der innere Kompass einer unverrückbaren Werteordnung, die mir selbst entspricht, die Beschränkung auf das eigene Ziel – dies sind die Grundlagen für eine wahre Befähigung, Recht von Unrecht zu unterscheiden«, fasst Christ seine diesbezüglichen Überlegungen zusammen.

Nun lebt der ethische Individualist, von dem der Autor hier offensichtlich redet, nicht allein auf einer Insel, sondern in einem sozialen Verband, er ist Teil einer größeren Gemeinschaft oder Gesellschaft. Und mit diesen muss er sich ins Verhältnis setzen oder sie setzen sich zu ihm ins Verhältnis – oft nicht gerade in das günstigste. Die Gesellschaft ist die Sphäre des kodifizierten Rechtes, der Gesetze und Verordnungen. Das Recht, das gesetzt wird, beruht auf vorgesetzlichen Voraussetzungen, die mehr oder minder in das positive Recht einfließen. Diese »außerjuristischen normativen Instanzen« sind die bereits erwähnten »Landmarken der sittlichen Orientierung«. Zu ihnen zählen Mitleid, Moral, Brauch und Sitte, gesellschaftliche Normen, die Natur, die Vernunft, göttliche Gebote und die Macht. Jede einzelne wird von Christ daraufhin untersucht, inwieweit sie den Menschen zu moralischem Handeln zu inspirieren vermag. Einige Sentenzen aus den jeweiligen Kapiteln mögen folgen.

Zum Mitleid: Von Rosseau als Moralprinzip eingeführt, der es aus dem Naturzustand des Menschen ableitet, umschließt das Mitleid die Selbst-Sorge und die Hemmung, anderen ohne Not Schaden zuzufügen. »Mitleid … verstehen wir als Anteilnahme an negativ erlebten Gefühlen wie Schmerz und Leid anderer Menschen«, schreibt Christ.» Indem wir mit anderen leiden, fühlen wir ihr Leid. … Mitleid ist ein Reflex, ein Affekt, der der Reflexion vorausgeht. So handelt es sich um ein rein natürliches Gefühl, um die einzige natürliche Tugend. Mitleid stiftet zugleich Identifikation …« Das Mitleid führt jedoch auch in Aporien: es ist manipulierbar und trägt kein objektives Maß in sich. »Warum haben etwa Lehrer Mitleid mit den Toten von Bergamo, empfinden jedoch scheinbar nichts Ähnliches, wenn Kinder vor ihren Augen gegen den Widerstand der Maske atmen müssen? Jedenfalls lösen Bilder, tatsächliche und die in unserem Kopf, Mitleid aus, das sich instrumentalisieren lässt, es formiert sich ein regelrechter Opferwettbewerb. Wer am lautesten schreit, der leidet vermutlich auch am meisten.«

Zur Moral: »Häufig werden Moralvorstellungen als ungeschriebene Regeln in einem gesellschaftlichen Kontext verankert, um ihnen so neben dem hohen moralisch-bedrängenden Impuls noch einen weiteren gesellschaftlich-erdrückenden Faktor hinzuzufügen.« Moralvorstellungen unterliegen Moden und schwanken mit der Zeit. »Als Moral bezeichnet man ein Handlungsmuster, das Handlungen in einem Abgleich mit bestimmten Kriterien als gut oder schlecht einstuft … In dem Maße, in dem sich die Moral im Lauf der Zeit wandeln mag, trägt sie auch die Gefahr in sich, sich zur Hypermoral zu verwandeln. Hypermoral bezeichnet dabei einen erheblich übersteigerten Moralismus, einen ›Moralismus mit totalitären Zügen‹ … Viele der moralisierenden Zurechtweisungen im Hinblick auf Hygieneregeln …, sind tatsächlich nur Ausdruck eines krankhaften Geltungsbedürfnisses, das den Zurechtgewiesenen braucht, um die eigene Bedeutungslosigkeit mit unzuständigem Autoritätsgebaren zu überspielen … Moral taugt aus meiner Sicht weder als Instanz für die Politik … noch als absolute Instanz für das Recht.«

Zu Brauch und Sitte: »Während man unter Sitte üblicherweise eine durch moralische Werte bedingte Verhaltensnorm versteht, die oft auf Tradition beruht, beschreibt ein Brauch eine wiederkehrende soziale Handlung und ist Ausdruck einer Gewohnheit … Bräuche kennen wir eine ganze Reihe. … Die Liste ist schier unendlich. Gewesen. Seit Jahren sind die Bräuche nach meiner Wahrnehmung stark im Rückzug begriffen. Das sieht wie eine Nebensächlichkeit aus, doch das ist es nicht. Denn an die Stelle der Bräuche, die den Jahreslauf in einer über die Jahrzehnte bewährten Weise mitgeregelt haben, tritt nun ein Tugendterror, der dem Menschen stattdessen vor allem vorschreiben will, was er nicht zu tun habe … Brauchtum ist tradierte und praktizierte Beheimatung. Die Auflösung von Bräuchen entwurzelt die Menschen und raubt ihnen Orientierung.«

Zu den Normen der Gesellschaft: Besonders schlecht ist Christ als ethischer Individualist auf die »Normen« der Gesellschaft zu sprechen. »Die sogenannten Normen der Gesellschaft sind meiner Meinung nach gegenwärtig die in höchstem Maße problematische Instanz für Recht und Gerechtigkeit. … Durch soziale Normen, die den Charakter ungeschriebener Gesetze haben, übt eine Gesellschaft Druck auf Individuen und eine soziale Kontrolle aus. Zentral geht es immer um das Herstellen von Konformität.« Wenn man, wie Luhmann, das Recht als »regulativen Mechanismus« versteht, der definiert, was man von der Gesellschaft »berechtigterweise« erwarten kann, reduziert man es auf »Erwartungssicherheit«, und dann überrascht es nicht, »wie klaglos eine Vielzahl von Menschen die unsinnigsten Hygienevorschriften unhinterfragt einfach befolgt.« »Normen der Gesellschaft markieren … auch die Grenzen des für die Gesellschaft Erträglichen. Toleranz spielt da, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle. … Die Gesellschaft, was auch immer das konkret bedeuten mag, ist als Gebilde nicht handlungsfähig. Dennoch wird sie als Bezugspunkt für Normen herangezogen, die doch tatsächlich nur propagandistisch erzeugt und medienwirksam in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gehievt sind. … Wenn Gesellschaft Normen erzeugt, wie vermittelt sich das eigentlich in legitimer Form? Und wie wird erkennbar, ob manipulative Kräfte im Spiel sind, wenn von gesellschaftlichen Normen gesprochen wird?«

Zur Natur als normengebender Instanz: »Wird die Natur als Gottes Schöpfung angesehen, sind die ihr immanenten Normen der Ausdruck des göttlichen Willens, und folglich besitzt das sich hieraus ergebende Recht, das Naturrecht, einen metaphysischen Charakter … Unter den Bedingungen von Aufklärung und Säkularisierung ist der Schöpfungsgedanke einer evolutionsbiologischen Sicht gewichen. Ausgehend von der Natur des Menschen als ein mit Vernunft begabtes Wesen, hat das Prinzip der Gerechtigkeit seinen Ursprung in der menschlichen Vernunft. Aus dem [so verstandenen] Naturrecht folgen dementsprechend naturgegebene, unverbrüchliche und unaufhebbare Rechte des Individuums. … In der Natur zeigen sich nach der Auffassung der Naturrechtstheorie Gesetzmäßigkeiten, die so einleuchtend und unabweislich sind [»self evident« heißt es in der amerikanischen Verfassung], dass sie gleichsam als unumgänglich angesehen werden müssen. … Gleichzeitig zeigen sich in der Natur des Menschen … auch wahre Bedürfnisse und Handlungsprinzipien … die in natürliche Gesetzmäßigkeiten übersetzt werden. In der Natur des Menschen wird somit auch ein Richtmaß des Rechts gesehen.« Samuel Pufendorf leitete aus der naturgegebenen Geselligkeit (socialitas) Gleichheit und Würde (dignitas) des Menschen ab und stellte sie über das positive Recht. Entsprechend räumte er für den Fall, dass ein positiver Rechtssatz eklatant gegen das Naturrecht (das mit dem Menschen geborene Recht) verstieß, ein Recht auf Widerstand ein. Die außermenschliche Natur hingegen kann kein Maßstab oder Vorbild für das menschliche Handeln sein, die letzte »Entscheidung über Gut und Böse müssen wir als Menschen treffen«.

Zur normsetzenden Vernunft: »Unter der Vernunft versteht man die Fähigkeit des Menschen, durch Denken zu einer Erkenntnis zu gelangen. … Die Aufklärung ist von der Idee getragen, dass die Vernunft imstande ist, die Wahrheit ans Licht zu bringen … Keine Instanz wurde während der Corona-Monate so sehr in Zweifel gezogen wie die der Vernunft.« Beispiel: RKI-Chef Lothar Wieler postulierte auf einer Bundespressekonferenz am 28. Juli 2020, man müsse sich den (vom RKI) verkündeten Regeln unterwerfen, ohne sie zu hinterfragen. »Damit«, so Christ, »sprach er dem mündigen Bürger die Fähigkeit, durch eigenes Denken zu einer Erkenntnis zu gelangen, grundlegend ab.«

Die Widerstandsbewegung setzte dagegen auf die Kraft der Aufklärung: »Alle Energie der ersten Monate galt dem Sammeln, Verwerten und Verteilen von Fakten. Man glaubte damals ernsthaft an die Möglichkeit, durch das Zusammentragen von Nachweisen das Narrativ des Hygieneregimes erschüttern zu können. Und ich vermute, manche glauben nach wie vor daran … Was in der Folge dann allerdings geschah, war eine Entwertung der Vernunft, der keine Berechtigung zugesprochen wurde. Was fortan zählte, war nur noch das positive, entmaterialisierte, inhaltsleere, rein formale Ordnungsrecht des Maßnahmenstaates: Fristen wie 90 Tage oder 180 Tage beim Genesenenstatus, willkürliche Obergrenzen von 500 Menschen bei Demonstrationen, unerklärte Richtwerte wie Inzidenz oder Hospitalisierungsrate.«

Göttliche Gebote als Quellen von Normen: In der aufgeklärten westlichen Gesellschaft gelten die Normen des Dekalogs nicht mehr als gottgegeben und unhinterfragbar. Ihr ethischer Gehalt wird höchstens noch akzeptiert, insofern er vor dem Urteil der Vernunft standhält. Da aber selbst die Vernunft mittlerweile entthront ist, entscheiden letztlich politische Interessen über moralische Normen. »Du sollst Vater und Mutter ehren«, mag zwar noch vereinzelt als moralisches Gebot akzeptiert werden, die Politik ist aber gerade dabei, Vater und Mutter abzuschaffen. Ähnliches ließe sich über das Verbot des Ehebruchs in Zeiten der Abschaffung der Ehe und andere Gebote sagen. Ganz anders die islamische Gemeinschaft. Die Scharia gilt in ihr nach wie vor als höchste, von Gott gegebene Instanz des Rechts und der Gerechtigkeit. Alexander Christ weist auf die Kairoer Erklärung aus dem Jahr 1990 hin, nach der die universellen Menschenrechte durch die Scharia eingeschränkt werden. Die christlichen Kirchen haben seiner Wahrnehmung nach in der Pandemie »vollkommen versagt«. Statt die Türen der Gotteshäuser für Hilfesuchende zu öffnen, wurden sie geschlossen und Ungeimpfte ausgeschlossen. »Man fragt sich, hätte Jesus sich bei seinen Ansprachen nur mit Mund-Nasen-Bedeckung unter die Menschen gewagt? Wie hätten die Priester und Nonnen während der Pestepidemie den Kranken beigestanden, nur nach vorherigem Test?«

Zur Macht als Rechtsinstanz: »Macht … ist die Fähigkeit, auf andere so einzuwirken, dass diese sich unterordnen. … Macht sucht … stets einen Bezugspunkt in der Kontrollierbarkeit von Zuständen. Gelingt diese nicht, so offenbart sich schnell Machtlosigkeit, die zu Chaos führen kann. … Je größer die Gefahr der vollständigen Machterosion, desto drastischer die Versuche, genau dies zu verhindern. … Gleich zu Beginn der Corona-Krise wurde durch die staatliche Verordnung von Masken meines Erachtens gezielt ein Über-/Unterordnungsverhältnis geschaffen, das bis heute [Juni 2022] aufrecht erhalten wird. … Das faktische Recht des Stärkeren vermag … kein legitimes Recht entstehen zu lassen, so wie die tatsächlich ausgeübte Macht zu keinem Zeitpunkt eine legitime Quelle für berechtigte Rechtsauffassungen sein kann. Das Recht des Stärkeren, das Recht der Mehrheit ist Ausdruck einer nur quantitativen Überlegenheit. Hinter der Fassade der Macht steht aber keine qualitative Überlegenheit, schon gar nicht in moralischer Hinsicht.«

Die Grenzen der Gesetze und der Ausnahmezustand

An die historisch-philosophischen Erörterungen über die Landmarken der Sittlichkeit schließen sich vier weitere grundsätzliche Betrachtungen an, auf die ich kursorisch eingehen möchte. Im Zusammenhang mit Corona kommt es laut Christ zu einer »Perversion des Rechtsgeltungsgedankens«. Die im Namen des Gesundheitsschutzes erlassenen Regeln sollten, wie Wiehler verkündete, niemals hinterfragt werden. Der Ersteller der Regeln, das Robert Koch Institut, entzog sich mit diesem Postulat einer Debatte über die Legitimität seines Verfahrens der Regelerstellung. Die Regeln selbst wurden ebenfalls vor der Legitimitätsdebatte abgeschirmt, das Vorgehen des Instituts erschien als Willkür eines entfesselten Willens zur Macht. Das RKI, so Christ, habe auf ganzer Linie versagt. Seit Anfang 2020 habe es nichts zum »Erkenntnisgewinn der Deutschen« beigetragen. Es habe seither versäumt, die Bürger mit Belegen zu versorgen, die auch nur eine der grundrechtseinschränkenden Maßnahmen gerechtfertigt hätten. Auch Richter argumentierten gegenüber Beschuldigten damit, Regeln müssten »einfach mal befolgt werden«. Die Ansicht solcher Richter offenbart nach Auffassung des Autors eine so »eklatant aufklärungsfeindliche Geisteshaltung«, dass sie sofort ihres Amtes enthoben werden müssten. Das Gegenteil sei richtig: Regeln müssten unbedingt und stets hinterfragt werden, gerade von professionellen Regelanwendern (Polizisten, Richtern, anderen Beamten), bevor sie sich als freie, selbstbestimmte, aufgeklärte Individuen »in voller Ausübung der ihnen eigenen Entscheidungsfreiheit« für eine Befolgung oder Nichtbefolgung entschieden. Im Akt der freien Entscheidung, ihr zu folgen, liege die Legitimität der Rechtsregel begründet. Im fortwährenden Prozess des Hinterfragens müsse sich eine Regel als legitim erweisen. Diesem Anspruch müsse jede Rechtsetzung genügen. Indem Gesetze ihre Stimmigkeit und Vernünftigkeit fortwährend von neuem erwiesen, stärkten sie das Recht und das Vertrauen in den Rechtsstaat. Wer das Recht nicht mehr hinterfragen dürfe, könne es durch seine Zustimmung auch nicht mehr legitimieren.

Tendenzen des Totalitären zeigten sich im Corona-Staat Christ zufolge in der Verabsolutierung einzelner Instanzen und in der rapiden Geschwindigkeit, mit der ständig alte Regeln durch neue ersetzt wurden. »Das Absolutsetzen einer Instanz bedeutet, dass diese totalitär wird und alle Gegenkonzepte unterwirft.« Ausgewogene Urteilsbildung und Ausgleich von Interessen in der Gesetzgebung benötigen Zeit. Kurzatmige Rechtsetzung zeigt sich in Phasen der Totalisierung. Die Herrschenden glauben, in immer rascherer Folge agieren und reagieren zu müssen, die Eingriffe in die bürgerlichen Freiheiten werden immer totaler. Dynamisierung der Regelungen und Kurzatmigkeit sind typische Merkmale eines »Maßnahmenstaates«.

Der Begriff des Maßnahmenstaats geht auf den Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel zurück, der ihn im Hinblick auf das faschistische Herrschaftssystem Deutschlands entwickelte.[4] Ein »Maßnahmenstaat« ist nach Fraenkel ein Herrschaftssystem der unbeschränkten Willkür und Gewalt, das durch keinerlei rechtliche Garantien eingeschränkt ist. Ihm steht der »Normenstaat« gegenüber, ein Regierungssystem, das mit Herrschaftsbefugnissen zur Aufrechterhaltung der Ordnung versehen ist, die in Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakten zum Ausdruck kommen. Der Ausgangspunkt für die Entstehung des Maßnahmenstaates ist der Belagerungs- oder Ausnahmezustand. Ebenso wie die Verfassung des Dritten Reichs Ausdruck eines Notverordnungszustandes war (»Notverordnung zum Schutz von Volk und Reich« vom 28. Februar 1933), liegt auch dem Corona-Staat ein erklärter Notzustand, die »epidemische Notlage von nationaler Tragweite« zugrunde. In einem Staatswesen im Ausnahmezustand existieren zwei Sektoren unverbunden nebeneinander: der rechtlich normierte Bereich und der politische Sektor, der das Recht dazu benutzt, seine politischen Ziele zu erreichen. Im politischen Sektor herrscht nicht das Recht, sondern die Maßnahme. Im Maßnahmenstaat sind die Machtbefugnisse für Außenstehende verschleiert, Verlautbarungen werden je nach politischem Erfordernis geändert. Im Ausnahmezustand wird den Gerichten die richtungsetzende Kompetenz entzogen, vor allem in verfassungsrechtlichen Fragen. Sie werden zu Organen, die dem politischen Sektor nicht widersprechen dürfen, sondern dessen Handlungen absichern. Genau dieses Verhalten zeigt sich laut Christ an den Gerichten, vor allem den Verwaltungsgerichten. Auch die Organe der Exekutive werden zunehmend in den Dienst des politischen Sektors gestellt, was zu einer Beseitigung der Schranken der Polizeigewalt und zur Aufgabe des Prinzips der Verhältnismäßigkeit führt. Im Versammlungsrecht wurde der Gefahrenbegriff aufgeweicht, tatsächliche Gefahren mussten nicht mehr nachgewiesen werden. Laut Fraenkel koexistieren die Rechtlosigkeit des Maßnahmen- und die Rechtsordnung des Normenstaats im »Doppelstaat« nebeneinander, der erstere konterkariert fortwährend den letzteren. Der Maßnahmenstaat beruht nicht auf einem Ausnahmerecht, sondern auf einer Ausnahmeherrschaft. Laut Carl Schmitt gehört zum Ausnahmezustand eine »prinzipiell unbegrenzte Befugnis«, die »Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung«. Der Ausnahmezustand ist nicht Anarchie oder Chaos, denn in ihm besteht immer noch Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung. Die Entscheidungen im Ausnahmezustand machen sich von jeder normativen Gebundenheit frei und werden im eigentlichen Sinn absolut. Im Ausnahmezustand suspendiert der Staat unter Berufung auf seine Selbsterhaltung das Recht. Der Ausnahmezustand offenbart die Natur des Staates laut Schmitt in seiner reinsten Form. Die Entscheidung des »Souveräns« sondert sich von der Rechtsnorm und die staatliche Autorität beweist, dass sie kein Recht benötigt, um Recht zu schaffen. Konsequenterweise findet im Maßnahmenstaat keine Kontrolle des staatlichen Handelns durch Gerichte statt. Im Normenstaat kontrollieren die Gerichte, ob die Verwaltung die Gesetze einhält, im Maßnahmenstaat werden sie durch die Polizei kontrolliert, ob sie den vom Staat angestrebten Zweck erfüllen. Der Weimarer Richter Dettmer wurde zu Hause von der Polizei aufgesucht, weil er aus der Sicht des Staates ein »unerhörtes Urteil« gesprochen hatte. Ihm wurde »Rechtsbeugung« vorgeworfen. In Wahrheit verhielt sich jedoch die Exekutive unerhört, indem sie sich über die Judikative hinwegsetzte. Der Maßnahmenstaat herrscht grenzenlos, er setzt die Grenzen. In allen totalitären Systemen werden schließlich alle Tätigkeiten dem übergeordneten Staatszweck unterworfen. Alles wird staatlich überwacht. Es gibt keine privaten Räume mehr. Zusammenkünfte in der eigenen Wohnung wurden dem Hygieneregime unterworfen. Politische Versammlungen zu den Staat delegitimierenden Ereignissen erklärt, Arbeit je nach Systemrelevanz erlaubt oder verboten. Das gesamte private Leben, das im Normenstaat durch die Verfassung vor dem Staat geschützt ist, wird ihm preisgegeben.

Eine wesentliche Rolle des Rechtes ist seine Abwehrfunktion gegen Übergriffe des Staates auf die Individuen. »Recht begrenzt Macht. … Recht sagt mir, was ich dürfen darf, ohne vorher irgendeine Instanz um Erlaubnis bitten zu müssen. … Recht sagt mir nicht, was ich sollen soll. … Im staatlichen Raum des Rechts ist Gerechtigkeit Pflicht.« In der Corona-Zeit wurde die Gerechtigkeit mit der Solidarität gleichgesetzt. Von Ungeimpften wurde »Solidarität« eingefordert. Solidarität besagt jedoch »gemeinschaftliche Haftung«, »einer für alle, alle für einen«. »So verstanden, würde Solidarität in einer Gruppe das Einstehen füreinander in Notlagen oder bei Gefahren bedeuten, eine wechselseitige Verpflichtung, eine Hilfe auf Gegenseitigkeit innerhalb einer Schicksalsgemeinschaft.« Solidarität ist keine Einbahnstraße, sondern ein wechselseitiger Akt. Sie bedeutet nicht, dass die eine Seite berechtigt ist, ihre solidarischen Handlungen einzustellen, wenn die andere Seite nicht mitmacht, sondern, »wer helfen kann, der helfe dem anderen«. Solidarität ist ein Akt der Menschenliebe. Bei ihr geht es »nicht um Gerechtigkeit, sondern um Geschwisterlichkeit, die aus der natürlichen Bindung entspringt.« Anerkennt aber ein beträchtlicher Teil einer Gesellschaft die Voraussetzung einer Notlage nicht und fühlt sich außerdem durch den anderen Teil in seinen höchstpersönlichen Rechten bedrängt, kann von ihm nicht Solidarität mit dem bedrängenden Teil eingefordert werden. Solidarität kann nur freiwillig sein. Es gibt keine Solidarität unter Zwang. Erzwungene Solidarität ist in Wahrheit Konformismus. Das Problem der Corona-Gesellschaft (unserer Gesellschaft) besteht laut Christ darin, dass sich »ständig Bürger um Dinge bekümmern, die sie nichts angehen, sodass ihr aktives Einschreiten zum Eindringen in den Bereich der persönlichen Freiheiten des anderen wird. Kein Wunder, dass das ›Gutbürgertum‹ in der uns von der Gesellschaft vermittelten Form scheinbar auferlegt, andauernd danach Ausschau zu halten, was der andere im Alltag so alles falsch macht … Wenn sich jeder um sich selbst kümmern würde, wäre für alle gesorgt.« Man muss sich fragen, fährt er fort, »wohin uns ein solches Handlungsmuster gesellschaftskonformer Verhaltensweisen … gebracht hat. Diese Form der ungehemmten Fremdbeschau anstelle von Selbstreflexion hat das Tor zu einem Denunziantentum, zu einem Diffamierungsimpetus und zu einer Perzeption des Gutbürgertums eröffnet. Nur wer ein Gutbürger ist, kann ein wertvoller Teil der Gesellschaft sein, so die reine Lehre des rot-grünen Neosozialismus. Letztlich geht es um den Ausschluss der ›Wutbürger‹ aus der Gesellschaft« – auch unabhängig von Corona. Der erzieherische Staat ist ein vormundschaftlicher Staat, ein Staat der die »Schlechten« aussortiert und aussondert, damit die »Guten« unter sich sind. Ein Staat, der moralisiert, wird notgedrungen totalitär.

»Die Corona-Krise«, so Christs Fazit, »hat uns den Zustand unserer gegenwärtigen Rechtsgemeinschaft in deutlichen Bildern vor Augen geführt. Wir befinden uns als Wertegemeinschaft in Auflösung und als Rechtsgemeinschaft in Agonie[5], weil die Instanzen und kulturellen Landmarken ihrer Orientierungskraft beraubt und durch Ideologien korrumpiert sind. Zivilisatorisch ist der Umgang mit Corona ein Desaster. Die Bilder zeigen uns traurige Augen maskierter Kinder, prügelnde Polizisten im Willkürwahn, enthemmte Richter, erstarrt in Virusangst und voller voreigenommener Abscheu gegen selbstbestimmt auftretende Bürger. Dabei werden Vertreter der Exekutive oder der Judikative in ihrem Tun begleitet und angeleitet von einer Politikerkaste ohne Skrupel und ohne Grenzlinien.«

Zerfallende Gewalten

Legislative

Im Hauptteil seines Buches analysiert Christ, wie bereits erwähnt, das Versagen der drei Hauptsäulen des Staates: der Legislative, der Exekutive und der Judikative. Betroffen sind das Parlament, die Regierung, die Sicherheitsbehörden und andere hoheitliche Organe, schließlich die Judikative, deren Aufgabe darin bestanden hätte, die Exzesse von Legislative und Exekutive auf der Grundlage der Verfassung einzudämmen. Es geht um den »verordneten Ausnahmezustand«, der mit der Beratung des »Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite« am 25. März 2020 eingeleitet wurde. In Kraft gesetzt wurde das Gesetz bereits zwei Tage später, am 27. März. Das Gesetz wurde von manchen Kritikern auch als »Ermächtigungsgesetz« bezeichnet, weil es, wie Christ schreibt, in einem noch nie dagewesenen Umfang weitreichende Befugnisse an das Bundesministerium für Gesundheit übertrug. Das Gesetz wurde in der juristischen Fachliteratur massiv kritisiert. Mit ihm, so hieß es, habe der Gesetzgeber die verfassungsrechtlichen Grenzen überschritten. Der Ausnahmezustand wurde durch es zum Dauerzustand. »Seit dem ersten gesetzgeberischen Schritt«, kommentiert Christ, »gilt das Ausnahmerecht, und es ist zum Dauerausnahmerecht geworden. Es ist also das eingetreten, was niemals hätte geschehen dürfen. Der Notstand wurde … zum dauerhaften Normalfall, der den Zweck hat, die volle Geltung des Grundgesetzes und der Grundrechte … auszuschließen. … Wir sehen hierin den Fraenkelschen Maßnahmenstaat in beispielhafter Form in seinen Anfängen … Kompetenzen werden verschleiert oder einzelnen Personen (Gesundheitsminister) oder Institutionen wie dem RKI übertragen, das noch dazu als Bundesbehörde dem BMG direkt untergeordnet ist. Dadurch werden Parlamente (Bundestag, Landesparlamente) und Gesetzgebungsorgane (Bundesrat) ausgehebelt und somit der Rechtsstaat systematisch ausgehöhlt.« Manche Kritiker sprachen im März 2020 im Hinblick auf das Gesetz von einer »unbegrenzten Ermächtigung«[6], andere von einer »parlamentarischen Selbstentmächtigung im Zeichen des Virus«[7].

Die Folgen waren fatal. Der eingeschlagene Weg jenseits der Verfassung wurde immer weiter beschritten. »Mit dem völlig verunglückten Start in das erste ›Pandemiejahr‹ schlug der Bundesgesetzgeber eine Richtung ein, die in der Folge von den Landesgesetzgebern und nachgeordneten Behörden übernommen wurde. Auf Ebene der Länder ergingen Regelungen, bei denen fortan nur sehr beiläufig auf die Einhaltung verfassungsrechtlicher Schranken geachtet wurde – einfach deshalb, weil es der Bund vorgemacht hatte.« Zwischen März und Juni 2020 ergoss sich eine unübersichtliche Flut von Rechtsakten des Bundes, der Länder, der Landkreise und Gemeinden über die Bevölkerung: 57 Rechtsakte des Bundes, 351 Rechtsakte der Bundesländer und 626 Rechtsakte von Landkreisen und Gemeinden – einen Überblick zu bewahren, vermochten nicht einmal mehr Juristen. Zudem wurden die Verordnungen in immer rascherer Folge verändert, angepasst und verschärft: vom 13. auf den 14. März, vom 14. auf den 16., vom 16. auf den 17. März usw. Am 26. Mai war man bereits bei der »36. Verordnung zur Anpassung der Verordnungen zur Bekämpfung des Corona Virus« angelangt. Die unbeschreibliche Flut von Verordnungen unterminierte die Rechtssicherheit. Christ kommentiert: »Zu den Strategien unserer aktuellen Gesetzgeber in Bund und Land gehört es offenbar, einerseits die Verständlichkeit von Regeln durch eine Steigerung der Komplexität zu reduzieren und zudem durch extrem kurzlebige und wechselseitig aufeinander verweisende Regelungswerke größtmögliche Unübersichtlichkeit und Rechtsunsicherheiten zu schaffen. Eine andere Erklärung habe ich für dieses Verordnungschaos nicht.« Die angedeutete Inflation der Rechtsetzung führt zu einem »Wegwerfrecht«, einem Recht das nach einmaligem Gebrauch entwertet ist und durch seine Unbrauchbarkeit zur weiteren Entwertung des Rechts führt. Die epidemische Notlage wurde in der Folgezeit verlängert, am 18. November 2020 und am 4. März 2021, verlängert wurde damit auch der Ausnahmezustand, der nach dem Grundgesetz nur als Ausnahme von kurzer Dauer in Kraft treten darf, um den Bestand des Staates und der Verfassung nach einer tiefgehenden Erschütterung der Gesellschaftsordnung wie z.B. einer Naturkatastrophe oder einem gewaltsamen Umsturzversuch wieder in Kraft zu setzen. Am 24. November 2021 endete die epidemische Notlage »mehr oder weniger sang- und klanglos«, aber »sämtliche freiheitseinschränkenden Maßnahmen«, die einst mit ihr gerechtfertigt worden waren, »liefen einfach weiter«. Ihre Grundlage war nun das neugefasste Infektionsschutzgesetz. Am 18. November 2020 wurde »in einem beispiellosen Eilverfahren« das Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite von Bundestag und Bundesrat beschlossen, das erstmals die Voraussetzungen für die Feststellung einer solchen Lage definierte. An diesem Tag demonstrierten rund 10.000 Menschen friedlich rund um den Bundestag für den Erhalt der Grundrechte und das Grundgesetz. Mehr als 2.500 Polizisten misshandelten mit Pfefferspray und Wasserwerfern die Demonstranten, »Szenen wie in einem Polizeistaat spielten sich ab«. Christ notierte zum 18. November: »CDU/CSU und Grüne beschließen die Aufgabe der deutschen Demokratie und setzen das Grundgesetz außer Kraft. Ein schwarzer Tag.«

Besonders lesenswert in diesem Teil des Buches ist das Kapitel »von falschen Gesundheitszeugnissen und dem Strafgesetzbuch«. Die Einführung des Maskenzwangs und der Apartheid aufgrund des Impf- oder Genesenenstatus führte zu ganz neuen Delikten. Menschen, die sich ihre Freiheit nicht nehmen lassen wollten oder medizinische Gründe hatten, suchten bei Ärzten um Hilfe. Maskenatteste und Impfunfähigkeitsbescheinigungen wurden ausgestellt. Was geschah? »Die Regierung stellt zuerst fest, dass Menschen die verordneten Masken nicht tragen, weil sie behaupten, ein Arzt habe sie davon befreit. Und dann stellt die Regierung fest, es entsteht kein Rennen um den ebenso sicheren wie sehr wirksamen Impfstoff, sondern stattdessen so etwas wie ein ›Schwarzmarkt‹ für Impfausweise. Beide Feststellungen lösen bei der Regierung nicht etwa den Gedanken aus, möglicherweise seien die Masken Blödsinn und eventuell bringe der Impfstoff so wenig, dass einige Menschen diesen nicht wollen, nein, die Überlegung, die dieser Gesetzgeber anstellt, lautet: Wie kriminalisiere ich am besten Bürger und Ärzte?«

Obwohl die epidemische Notlage Ende 2021 nicht verlängert wurde, kam es danach noch schlimmer: durch den (gescheiterten) Versuch, eine allgemeine Impfpflicht einzuführen und deren tatsächliche Einführung für bestimmte Berufsgruppen. Tückisch wurde sie als »Nachweispflicht« deklariert: Impf- und Genesenennachweise wurden für bereits Beschäftigte bis zum 15. März 2022 Pflicht, für neue Beschäftigungsverhältnisse waren sie ab dem 16. März Anstellungsbedingung. Die Regelung »kam einem Einstellungsverbot für Ungeimpfte und Ungenesene gleich«, so Christ. Nachweise, die nach dem 16. März ihre Gültigkeit verloren, mussten innerhalb eines Monats nach Ablauf der Gültigkeit erneuert werden. »Wie absurd ist das?«, frägt der Autor. »Zuerst habe ich mich also infiziert, bin dann genesen, aber da dieser Genesenenstatus zeitlich abläuft, soll ich mich dann impfen lassen? Obwohl ich die ›Krankheit‹ [gegen die ich geimpft werden muss] bereits hatte?« Insgesamt, so Christ, kam die Regelung einem Berufsverbot für Teile der Beschäftigten gleich und einem Zugangshindernis für bestimmte Bewerber, verstieß also gegen das Diskriminierungsverbot. »Wo bisher galt, dass der Bereich des Erhalts der Lebensgrundlagen, zu denen der Arbeitsplatz durch die Unverletzlichkeit des Rechts auf Arbeit unzweifelhaft gehört, von Grundrechtseingriffen auszunehmen sei, wird durch die bereichsbezogene Nachweispflicht ein Weiterarbeiten für Ungeimpfte und Ungenesene … faktisch unmöglich. … Argumente der Verfechter dieser Gesetzgebung, diejenigen könnten sich doch impfen lassen, dann wäre doch alles gut, kann ich nach wie vor nur als zynisch und menschenverachtend bezeichnen. Hier wird die freie Entscheidung, einer Körperverletzung mit ungeahnten Folgen nicht zustimmen zu wollen, gegen die banale Notwendigkeit, den Lebensunterhalt für die Familie und für sich selbst aufrechterhalten zu müssen, in moralisch verwerflicher Weise aufgewogen. Wer Geld verdienen will, muss sich eben impfen lassen, so die dreckige Wahl, vor die sich die Betroffenen gestellt sehen.«

Der Versuch, eine allgemeine Impfpflicht einzuführen, scheiterte am 7. April 2022 – zum Glück! Das eigentliche Problem wurde in den diesbezüglichen Debatten jedoch nicht einmal deutlich benannt. Christ bringt es unübertrefflich auf den Punkt: »Ich kann mir eine Impfpflicht, die mit dem Grundgesetz vereinbar ist, nicht vorstellen. Eine Impfung ist eine Körperverletzung. In diese muss man einwilligen, ohne Einwilligung bleibt es eine strafbare Körperverletzung. Eine Einwilligung aber setzt Freiwilligkeit voraus. Ist diese nicht gegeben, darf die Impfung nicht gegen den Willen des Betroffenen durchgesetzt werden. Eine Androhung von Nachteilen wie beispielsweise Bußgeldern oder Arbeitsplatzverlust ist eine Nötigung, und auch diese ist strafbar. Damit ist eine Impfpflicht, egal wie diese inhaltlich im Detail ausgestaltet wird, in jedem Fall verfassungswidrig. Dass diese zudem völkerrechtswidrig und vor allem natürlich menschenrechtswidrig ist, bedarf keiner weiteren Erörterung, sondern ergibt sich aus dem Wortlaut des Völkerrechts, hier aus Artikel 7[8] des römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes und aus der Allgemeinen Erklärung über Bioethik und Menschenrechte … Eine Impfung gegen den individuellen Willen ist und bleibt ein Verbrechen gegen die Menschheit.«

Doch genug der Fallbeispiele. Was ist das Fazit der Corona-Rechtsetzung? »Während die inhaltliche Politik und mit ihr die Charakterisierung des politischen Raumes durch eine Kultur der ergebnisoffenen Debatte sich mehr und mehr auflösen, erleben die Menschen ein weitgehend illegitimes Recht, illegitime Machtstrukturen [Beispiel: das »juristische Nullum« der Ministerpräsidentenkonferenz], den Verfall von Gerechtigkeit schaffenden und Gerechtigkeit erhaltenden Strukturen und werden in diesem Prozess selbst in eine soziale Gruppe von Entrechteten hineingedrängt. Kommt jemand aus dieser Gruppe dann auch noch in Konflikt mit der als totalitär wahrgenommenen Staatsmacht, so ereignet sich zumeist eine Abstrafung, bevor überhaupt ein Delikt begangen wurde. Der Täter ist bereits als schuldig ausgemacht, wenn ihn die Anklage trifft, denn dies ergibt sich schon allein aus der Zughörigkeit zu einer Fraktion sogenannter Coronaleugner. Kurz gesagt, wer gegen Hygieneauflagen verstößt, der ist ein aussätziger Gesetzesbrecher und egoistischer Gefährder. … Gutes Recht unterstreicht den Wert des Rechtssubjektes. Es ist geprägt von Achtung vor dem Einzelnen und seinen unverbrüchlichen Grundrechten. Grundrechte sind keine Privilegien … Das Gesetz wird durch den guten Gesetzgeber legitimiert. Der Gesetzgeber wird durch das gute Gesetz rückbestätigt … Umgekehrt delegitimiert ein schlechtes Gesetz den Gesetzgeber. Während der Corona-Zeit fand ich nur schlechte Gesetze.«

Exekutive

Ebenso gründlich wie mit der Legislative setzt sich Christ auch mit der Exekutive auseinander. Den abschreckenden Beispielen allen Bürgerrechten hohnsprechenden Verwaltungshandelns im Einzelnen nachzugehen, würde hier zu weit führen. Wenigstens einige Kapitelüberschriften seien zitiert: »Maskenterror und Vermummungspflicht«, »Kontaktnachverfolgung«, »Ausgangssperren kontra Bewegungsfreiheit«, »Schule – Ort der Kindesmisshandlung«, »Arbeit – Hausarrest oder Hygienediktat«, »Impfungen und Nebenwirkungen«, »Soziale Kontrolle und Ausgrenzung«, »Maskiertes Demonstrationsrecht«, »Willkürliche Polizeigewalt«.

Judikative

Im dritten Teil, der sich mit der Judikative beschäftigt, konstatiert Christ ein »verwaltungsgerichtliches Totalversagen« in nahezu allen Feldern, die von Gerichten zu beurteilen waren. Von einigen löblichen Ausnahmen abgesehen, entschieden die unterschiedlichen Instanzen in Sachen Grundrechtseinschränkungen stets zu Ungunsten der Grundrechte und der sie einfordernden Bürger. Sie folgten in der Regel der eigenen Virusangst und den Vorgaben des Hygieneregimes. »Am Ende bleibt nur festzustellen«, so Christ in seinem Fazit, »dass die Justiz offenkundig ihre Kraft, einen rechtlichen Streitfall schlichtend zu entscheiden und für Klarheit und Befriedung zu sorgen, vollkommen verloren hat. Einen Gang zum Verwaltungsgericht kann man einem Mandanten heutzutage [Juni 2022] kaum empfehlen. Die Gerichte betätigen sich als Rechtfertigungsinstanz für unklares oder unzureichendes Verwaltungshandeln, nicht als Kontrollinstanz der Exekutive. Das ist für die Grundlagen des Gewaltenteilungsprinzips ein bestürzender Befund … Ohne wirksame Kontrolle geriert sich die Exekutive außer Rand und Band, gerät in einen Machtrausch und kann praktisch jeden Grundrechtsentzug mit beliebiger Begründung an die Menschen durchreichen.«

Nicht besser sah es im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht aus, im Arbeitsrecht oder im Zivilrecht. Den krönenden Abschluss des Versagens stellen aber laut Christ die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Kontaktbeschränkungen (Bundesnotbremse I), zu den Schulschließungen (Bundesnotbremse II) und zur einrichtungsbezogenen (Impf)nachweispflicht dar. In der Verhältnismäßigkeitsprüfung seiner Entscheidung zu den Kontaktbeschränkungen (Bundesnotbremse I) vollzog das Gericht laut Christ eine »Umwertung der Werte«, die unsere Gesellschaft bisher bestimmt haben. Ja, das Gericht führte seiner Auffassung nach sogar einen »Staatsstreich« durch. »Entsprechend der neuen Hygienedoktrin wird der Gesundheitsschutz zur zentralen, alle übrigen Grundrechte überragenden Staatsaufgabe.« Die Berufung auf Artikel 2, Abs 2, Satz 1[9]: »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit«, gehe jedoch fehl. Aus ihm folge nicht der Gesundheitsschutz als oberstes Staatsziel, vielmehr garantiere er das Abwehrrecht des Einzelnen gegen Übergriffe des Staates auf seinen Körper und seine Gesundheit. Weder aus dem Wortlaut des Gesetzes noch aus dessen Systematik lasse sich die Verpflichtung des Staates ableiten, Leben und Gesundheit jedes Einzelnen sogar gegen dessen erklärten Willen zu schützen. Das Verfassungsgericht setze den wahrhaft obersten Wert des Grundgesetzes, die unantastbare Menschenwürde herab und ordne sie dem Schutz der Gesundheit und des Lebens unter, das es auch noch zu einem kollektiven Gut umdeute. Die Würde des Menschen, die das Grundgesetz bedingungslos anerkenne, gründe aber in seiner Freiheit. Christ sieht in diesem »Austausch von Grundwerten« »ein untrügliches Zeichen für den Beginn eines Totalitarismus«. Das Bundesverfassungsgericht verteidige nicht die Grundrechte, sondern halte dem staatlichen Hygieneregime den Steigbügel.

Zur einrichtungsbezogenen Nachweispflicht stellten 46 betroffene Kläger einen Antrag auf einstweilige Anordnung, um die verlangte Vorlage eines Nachweises abzuwenden, da ihnen ein Beschäftigungsverbot oder die Kündigung drohte. Das Bundesverfassungsgericht wies am 10. Februar 2022 sämtliche Anträge zurück. Als Hauptargument führte es an, das Gesetz zwinge die Antragsteller ja nicht, sich impfen zu lassen. Die Begründung hält Christ für »unfassbar zynisch und menschenverachtend«. Sie lautete: »Für jene, die eine Impfung vermeiden wollen, kann dies zwar vorübergehend mit einem Wechsel der bislang ausgeübten Tätigkeit oder des Arbeitsplatzes oder sogar mit der Aufgabe des Berufs verbunden sein. Dass die in der begrenzten Zeit bis zur Entscheidung in der Hautsache möglicherweise eintretenden beruflichen Nachteile irreversibel oder auch nur sehr schwer revidierbar sind oder sonst schwer wiegen, haben die Beschwerdeführenden jedoch nicht dargelegt; dies ist auch sonst – jedenfalls für den genannten Zeitraum – nicht ersichtlich.« »Ein nur vorübergehender Nachteil soll es sein, wenn man aufgrund der eigenen Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, den Beruf aufgeben muss?«, frägt Christ zurecht und verweist auf Mandanten, die als Physiotherapeuten oder Ärzte gerade unter hoher Verschuldung eine eigene Praxis aufgebaut hatten und nun vor dem Ruin standen, weil sie sie mit ungeimpftem Personal nicht weiterführen durften bzw. auf Pflegekräfte, die »völlig ratlos vor der Frage standen«, ob sie ihren Job aufgeben oder ausharren sollten, mit dem Risiko eines drohenden Betretungsverbots und den sich daraus ergebenden Folgen Abmahnung, Freistellung oder Kündigung. Er erinnert an den Fall einer alleinverdienenden Mandantin, von der das Schicksal einer fünfköpfigen Familie abhing, die laut Verfassungsgericht diesen »nicht schwerwiegenden Nachteil« einfach hinnehmen sollte. »Wirtschaftliche Nachteile, die Einzelnen durch den Vollzug eines Gesetzes entstehen, sind daneben grundsätzlich nicht geeignet, die Aussetzung der Anwendung von Normen zu begründen«, fügten die wohlsituierten Verfassungsrichter hinzu.

Christ hat die Mühe auf sich genommen, 380 Urteile deutscher Gerichte innerhalb von 10 Tagen durchzulesen, einen Stapel von rund 1.200 Seiten Papier. Sein Urteil gründet auf dieser Lektüre. Er kommt nicht umhin, der deutschen Justiz während der Corona-Krise ein Totalversagen zu bescheinigen. Die Gerichte schrieben voneinander ab, gaben ungeprüft immer wieder dieselben Begründungen an und kamen ihrer »ureigensten Aufgabe«, das staatliche Handeln zu überprüfen, nicht mehr nach, sondern rechtfertigten es sogar.

Recht und Vergebung

Wie verhält es sich mit »Recht und Vergebung«, dem Thema des letzten Buchteiles? Durch die Corona-Politik wurde die Gesellschaft in bisher nie dagewesenem Ausmaß durch vorsätzliches staatliches Handeln gespalten. Den Akteuren in Politik, Verwaltung und Verbänden sekundierten willfährige Massenmedien. Die pausenlose Angstpropaganda und der behördliche Druck trieben die Bevölkerung in einen pathologischen Zustand. »Ein Großteil der Gesellschaft steckt in einer Angstpsychose fest und findet keinen Weg heraus … Die Übrigen, die nie in der Psychose waren oder aus ihr herausgefunden haben, bilden die andere Gruppe in der Gesellschaft. Zwischen beiden Lagern scheint es keine Brücke zu geben.« Christ erinnert an all die Menschen, die durch die Unrechtsgesetzgebung zu Opfern gemacht wurden. An erster Stelle die Kinder und Jugendlichen, die überhaupt keine Schule besuchen durften, dann jene, die vom Lehrpersonal quälenden Testprozeduren unterworfen oder gezwungen wurden, stundenlang Masken zu tragen. Er erinnert an die Katastrophe des Distanzunterrichts. Aber auch an all die Arbeitnehmer, die unter den Testzwängen zu leiden hatten, an jene, die in Zeiten des Lockdowns irgendwie versuchen mussten, ihren Lebensunterhalt aufrechtzuerhalten, an jene, die gleichzeitig auch noch ihre Kinder zu Hause betreuen mussten, an jene, die aufgrund des Hygienediktats ihre Arbeit verloren. Schließlich die Gruppe jener, die standhaft ihre Meinung äußerten und sich nicht beugen ließen, die für den Erhalt der Grundrechte demonstrierten und mit Bußgeldern oder Schlimmerem bestraft wurden. Daneben, so Christ, stehe die »schweigende Masse« jener, die in den letzten zwei Jahren »nichts zum Erhalt des Staatswesens« beigetragen hätten, die sich aber seit 24 Monaten «selbst beweihräucherten«, weil sie so »ungemein solidarisch« seien, Masken trügen und sich impfen ließen.

Der Zustand der Gesellschaft bereitet ihm Sorge. Die Bereitschaft, »sich aufzulehnen, zu kämpfen, einzusetzen«, auch für Werte, die man gerade in diesem Augenblick nicht für sich selbst brauche, nehme rapide ab. Wer keine Meinung habe, könne mit der Meinungsfreiheit nichts anfangen; wer verbeamtet sei, schere sich wenig um den freien Zugang zur Arbeit; wer längst an nichts mehr glaube, halte die Religionsfreiheit für überflüssig. Ein großer Teil der Bevölkerung, ist er sich sicher, würde nichts vermissen, wenn zwei Drittel der Artikel 1 bis 20 aus dem Grundgesetz gestrichen würden. Es scheine, als hätten die Menschen kein Verständnis mehr für die existentielle Bedeutung der darin verbrieften Grund- und Menschenrechte. Christ hält das für eine Katastrophe. »Dies ist nicht weniger als die Umwertung unserer bedeutungsvollsten Werte, die Zerstörung unserer bisherigen Kultur und ein Tabubruch sondergleichen.« Aber das Desaster hat sich seiner Auffassung nach schon lange angedeutet. Nur hat sich niemand dafür interessiert. Stattdessen ließ sich die Mehrheit der Menschen durch die Lügen manipulieren, die ihnen von gleichgeschalteten Medien vorgesetzt wurden. Das Desinteresse für die vitalen Grundlagen der Demokratie ist seiner Auffassung nach Ausdruck einer zunehmenden Orientierungslosigkeit, einer »atemberaubenden« Verflachung von allem, was vor Jahrzehnten noch mit Bedeutung aufgeladen war: »Glaube, Hoffnung, Liebe, Spiritualität, Körperbewusstsein, Aufrichtigkeit, Selbstlosigkeit, Standhaftigkeit, Mut, Solidarität, Selbstvertrauen.« Hinzu trat nun die »Destruktion der Gewaltenteilung«; durch sie wurde der Staat zu einem »Selbstbedienungsladen für eine elitäre Machtkaste kultur- und grundsatzloser Politagitatoren«, die sich für Freiheits-, Grund- und Menschenrechte ebenfalls nicht interessieren. Rückblickend betrachtet, war die Virusgefahr ein willkommenes Mittel, um den Menschen »auf seinen Körper zu reduzieren«; »möglichst lange zu leben, ohne zu wissen, wozu«, sei das neue Ziel aller. Das Recht wurde in der Corona-Zeit nur dazu benutzt, um die Position des Hygienestaats zu festigen. Wer der Delegitimierung des Staates durch den Staat nicht tatenlos zusehen wollte, wurde in die rechte Ecke gestellt und mundtot gemacht.

Für den Autor besteht kein Zweifel: Es muss gründlich aufgeklärt und aufgearbeitet werden, was geschehen ist. Ohne eine solche Aufarbeitung wird Deutschland nicht mehr zur Gemeinsamkeit zurückfinden.[10] Zur Aufarbeitung wird gehören, das Recht wieder in seinen Stand zu setzen. »Eine Justiz, die nur das staatliche Handeln rechtfertigt und der Staatsräson folgt, ist absolut nichts wert.« Von einer Regierung … dürfen wir erwarten, dass sie gute Gesetze macht …«. »Von der Exekutive erwarte ich …: Zurückhaltung und Demut.«

»Wie weit die drei Grundpfeiler der Gewaltenteilung, Legislative, Exekutive und Judikative, bereits auf dem Weg in den Totalitarismus fortgeschritten sind, das habe ich in diesem Buch aufzuzeigen versucht. Das Resümee ist jedes Mal gleich: Wir sind noch nicht in einem Stadium des Totalitarismus, aber bewegen uns darauf zu.«

Alexander Christs Buch ist zwar bereits im Juni 2022 erschienen; seine Stunde scheint aber erst jetzt gekommen. Ob die von ihm erhoffte Aufarbeitung ausgerechnet von den Instanzen durchgeführt werden kann, deren Niedergang er so beredt beschrieben hat, ist eine offene Frage.


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Anmerkungen:


  1. Alexander Christ, Corona-Staat. Wo Recht zu Unrecht wird, wird Menschlichkeit zur Pflicht, München 2022, 428 S., 20 Euro.
  2. »… [E]s gibt eine Art von Selbstbeobachtung, die sich um die Gesetzlichkeit des eigenen Tuns fragt, und welche für die soeben geschilderte Naivität das Bewusstsein eintauscht, dass sie genau die Tragweite und Berechtigung dessen kennt, was sie vollführt. Diese wollen wir kritisch nennen. Wir glauben damit am besten den Sinn dieses Begriffes zu treffen, wie er sich seit Kant mit mehr oder minder klarem Bewusstsein in der Philosophie eingebürgert hat. Kritische Besonnenheit ist demnach das Gegenteil von Naivität. Wir nennen ein Verhalten kritisch, das sich der Gesetze der eigenen Tätigkeit bemächtigt, um deren Sicherheit und Grenzen kennen zu lernen.« Wahrheit und Wissenschaft, Dornach 2009, S. 47 f.
  3. Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? Dornach 1992, S. 193 f., Kapitel Der Hüter der Schwelle.
  4. In seinem Buch Der Doppelstaat.
  5. In einer Anmerkung hierzu erläutert Christ: »Die Agonie, also der Todeskampf der Rechtsgemeinschaft mag manchen als ein zu harter Begriff erscheinen. Ich meine jedoch, dass das gegenwärtige System tatsächlich keine Überlebenschance mehr hat. Es geht gerade nicht um die Herstellung von Konformität, sondern vielmehr um das Anwenden weniger einfacher Regeln, der Rest folgt aus der Anwendung des inneren Kompasses. Recht ist in erster Linie dazu da, um den Staat vor Übergriffen gegen Einzelne abzuhalten. Die Rechtsfindung muss auf eine individuelle Streitschlichtung zurückgeführt werden und vollständig von formalen Prozesshürden befreit werden. All dies scheint mir innerhalb des gegenwärtigen Systems kaum möglich.
  6. Klaus Ferdinand Gärditz und Florian Meinel in der FAZ am 26. März 2020.
  7. Christoph Möllers im Verfassungsblog am 26. März 2020.
  8. Artikel 7 definiert Verbrechen gegen die Menschlichkeit (crimes against humanity, nicht against mankind oder the human race). In der amtlichen Übersetzung wird der Ausdruck »Menschlichkeit«, nicht »Menschheit« verwendet. Allerdings ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit des Menschen immer auch ein Verbrechen gegen die gesamte Menschheit.
  9. »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.« Es folgen die Sätze: »Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.«
  10. Christ weist dem ZAAVV, an dessen Gründung im November 2021 er beteiligt war, bei der Aufarbeitung eine bedeutende Rolle zu. Es soll ein »Archiv des Unrechts« aufbauen, »das die Unrechtshandlungen und die erlittenen Schädigungen in sicherer Form dokumentiert und sie so vor dem kollektiven Vergessen bewahrt«. Ob das ZAAVV der ihm gestellten Aufgabe gerecht wird (oder werden kann), ist eine andere Frage. Siehe ZAAVV.

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