Im Schatten der Pandemie

Zuletzt aktualisiert am 9. Dezember 2023.

Im Schatten der Pandemie hat sich unsere Seelenverfassung und unser Verständnis des sozialen Lebens grundlegend verändert. Emotionen, von denen wir glaubten, sie hätten dank unserer intellektuellen oder moralischen Reife ihre Bedeutung verloren, kehrten aus ihrem Exil zurück. Emotionen wie Angst, Wut und Zorn. Große Teile unseres alltäglichen Lebens, die wir früher für selbstverständlich hielten, standen plötzlich unter Generalverdacht. Deshalb mussten sie untersagt und sanktioniert werden.

Im Schatten der Pandemie

© Lorenzo Ravagli

Wer hätte sich jemals vorstellen können, dass die Weigerung, Chirurgenmasken im Supermarkt zu tragen, Geldbußen oder Freiheitsstrafen zur Folge haben könnte? Wer, dass er Angehörige im Krankenhaus gar nicht mehr oder nur noch einmal pro Woche für eine Stunde besuchen dürfte? Dass verboten werden könnte, auf Parkbänken zu sitzen? Dass es untersagt würde, in den eigenen vier Wänden Eltern, Kinder oder Großeltern zu treffen? Auch das Vertrauen mancher in den Staat, die Justiz und die Wissenschaft wurde erschüttert. Und unser Glaube daran, dass der Mensch ein vernunftbegabtes Lebewesen sei. Blicken wir ein wenig zurück, um das Ausmaß dieser Erschütterung einzuordnen.

1633 wurde Galilei für seine These, die Erde drehe sich um die Sonne, vor die Heilige Inquisition zitiert. Die Inquisition wachte mit der ganzen Autorität der Kirche über eine offizielle Wahrheit, gegen die kein Widerspruch geduldet wurde, mochte er sich noch so sehr auf Beobachtung und den gesunden Menschenverstand berufen. Abweichende Meinungen stellten die herrschende Weltsicht in Frage und mussten daher unterdrückt werden. Die Kirche sah ihre kulturelle Hegemonie gefährdet, wie man heute sagt. Das Instrumentarium, das der Inquisition zur Verfügung stand, reichte von Zensur bis zu Gefängnis und Folter, ja sogar dem Scheiterhaufen (Giordano Bruno). Diese Zwangsmittel hätte sie nicht anwenden können, wenn nicht der größte Teil der Gesellschaft die Hegemonie der Kirche weiterhin akzeptiert hätte.

Protestanten, die diese Hegemonie in Frage stellten, standen hinter der katholischen Kirche keineswegs zurück, fanden doch viele Hexenverbrennungen in reformierten Ländern statt. Michel Servet wurde nicht wegen seiner medizinischen Entdeckungen, sondern wegen seiner religiösen Überzeugungen durch Calvin dem Scheiterhaufen übergeben.

Als spezifisch religiöses Instrument stand der katholischen Kirche die Exkommunikation zur Verfügung – der Ausschluss aus der sozialen Gemeinschaft, der Teilhabe an Seelenheil und Auferstehung. Galilei hatte keine Lust, zum Märtyrer zu werden – vielleicht war er auch nur zu klug dazu – und widerrief seine These. Angeblich soll er gemurmelt haben »Eppur si muove« (»und sie bewegt sich doch«).

Mit dieser Erzählung – und vielen gleichartigen – wurde seit Jahrhunderten das Projekt der Aufklärung als Projekt des Widerstands gegen Dogmatismus, Irrationalität und Unterdrückung gefeiert, als Projekt, das Erfahrung, vernünftige Überlegung, kurz: die Rationalität gegen eine politisch-spirituelle Macht ins Spiel brachte, die sich allein auf Autorität und Zwang abstützte. Galilei stand in dieser Erzählung für jene Heroen des Geistes, die dem Projekt zum Durchbruch verhalfen, indem sie lediglich ihrem eigenen Verstand und der Beobachtung folgten und dadurch mit den Mythen aufräumten, auf welchen die Herrschaft der Religion gründete.

Aus ihrem Kampf, so lautet die Erzählung, resultierte die moderne säkulare Gesellschaft, die den Glauben zur Privatsache erklärte, und der Vernunft, der Wissenschaft, zur Herrschaft verhalf. Kant, der als Vollender der Aufklärung gilt, hielt den »Richterstuhl der Vernunft« für die höchste Instanz in Erkenntnisfragen. Der Fortschritt der Wissenschaft war das Verdienst großer Wissenschaftler, die sich für die von ihnen erkannten Wahrheiten einsetzten, auch gegen den Widerstand ihrer Fachkollegen oder fachfremder kultureller und politischer Mächte. Es gibt kaum eine Disziplin, die nicht solche Heroen der Aufklärung aufzuweisen hat, Semmelweis, Mendel oder Wegener gehören dazu.

Denkkollektive und die Freiheit der Wissenschaft

Die Corona-Pandemie hat erneut gezeigt, wie falsch dieses idealisierte Bild des wissenschaftlichen Fortschritts ist. Kenner der Wissenschaftsgeschichte, die mit den Untersuchungen Ludwig Flecks über Denkstile und Denkkollektive, den Publikationen Thomas Kuhns über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen oder den Werken Ludwig Feyerabends vertraut sind, betrachteten die Legitimationserzählungen der Moderne schon lange als Teil einer säkularen Mythologie, die jene des religiösen Zeitalters zu beerben versuchte, um die Autorität der Wissenschaft an die Stelle der kirchlichen zu setzen.

1935 schrieb Fleck über wissenschaftliche Denkkollektive:

Wenn eine Auffassung genug stark ein Denkkollektiv durchtränkt, wenn sie bis ins alltägliche Leben und bis in sprachliche Wendungen dringt, wenn sie im Sinne des Wortes zur Anschauung geworden ist, dann erscheint ein Widerspruch undenkbar, unvorstellbar … Die Beharrungstendenz der Meinungssysteme beweist uns, dass sie gewissermaßen als Einheiten, als selbständige, stilvolle Gebilde zu betrachten sind … Die Geschlossenheit der Systeme, die Wechselwirkungen zwischen dem Erkannten, dem zu Erkennenden und dem Erkennenden verbürgen die Harmonie innerhalb des Systems, gleichzeitig auch die Harmonie der Täuschungen, die dann im Bereiche eines bestimmten Denkstils auf keine Weise aufzulösen sind.[1]

Beharrungstendenz, Geschlossenheit und die Harmonie der Täuschungen sorgen dafür, dass solche Meinungssysteme von innen her kaum mehr aufzulösen sind, es bedarf der »Außenseiter« oder »Querdenker«, um deren Defizite zu erkennen.

Die von Fleck beschriebenen Merkmale des Gruppendenkens tauchten bei Kuhn wieder auf. Dieser zeigte, dass sich neue wissenschaftliche Paradigmen und damit Wandlungen des Weltbildes nicht aufgrund rationaler Kriterien und Prozeduren durchsetzen, sondern dadurch, dass die Anhänger der alten schlicht aussterben. »Menschen«, so schrieb er 1962, »deren Forschung auf gemeinsamen Paradigmata beruht, sind denselben Regeln und Normen für die wissenschaftliche Praxis verbunden. Diese Bindung und die offenbare Übereinstimmung, die sie hervorruft, sind Voraussetzungen für eine normale Wissenschaft, d.h. für die Entstehung und Fortdauer einer bestimmten Forschungstradition.«[2] Kuhn beschrieb dieselben Phänomene wie Fleck, lediglich mit anderen Worten. »Gemeinsame Paradigmata« sind die beharrenden Meinungssysteme Flecks. Kuhn schrieb über die Initiation von Nachwuchswissenschaftlern in das jeweilige fachwissenschaftliche Denkkollektiv:

Die Erwerbung eines Paradigmas und der damit möglichen esoterischen Art der Forschung ist ein Zeichen der Reife in der Entwicklung jedes besonderen wissenschaftlichen Fachgebiets.[3]

Bei näherer Untersuchung erscheint jedoch das Unternehmen der »normalen Wissenschaft« »als Versuch, die Natur in die vorgeformte und relativ starre Schublade, welche das Paradigma darstellt, hineinzuzwängen.«[4] Die Konsequenz ist das Fachidiotentum der Spezialisten:

Durch Konzentration der Aufmerksamkeit auf einen kleinen Bereich relativ esoterischer Probleme zwingt das Paradigma die Wissenschaftler, ein Teilgebiet der Natur mit einer Genauigkeit und bis zu einer Tiefe zu untersuchen, die sonst unvorstellbar wären.[5]

Das Bessere setzt sich gegenüber dem Schlechteren nicht durch Einsicht durch, sondern durch einen Vorgang, für den Kuhn bezeichnenderweise einen Begriff aus der Religionsgeschichte verwendete: die Konversion.

Die Übertragung der Bindung von einem Paradigma auf ein anderes ist eine Konversion, die nicht erzwungen werden kann … Außerdem geschehen diese Konversionen nicht trotz der Tatsache, dass Wissenschaftler Menschen sind, sondern gerade weil sie es sind … Konversionen geschehen eine um die andere, bis dann, nachdem die letzten Widerstandleistenden gestorben sind, die gesamte Fachwissenschaft wieder unter einem einzigen, allerdings nunmehr anderen Paradigma arbeitet.[6]

Aus der Wahrnehmung der déformation professionelle seiner Kollegen zog Feyerabend den Schluss, es sei notwendig, die Wissenschaft vom Staat radikal zu trennen und sie der Kontrolle der Bürger zu unterwerfen. Diese Trennung betrachtete er als unabdingbare Voraussetzung einer freien Gesellschaft.

»In einer freien Gesellschaft«, schrieb er 1977,

hat ein Individuum das Recht zu lesen, zu schreiben, zu verteidigen, was immer es für gut hält. Erkrankt ein Mensch, dann sollte er das Recht haben, nach seinen eigenen Wünschen behandelt zu werden [Hervorh. L.R.], von Handauflegern, wenn er an das Handauflegen glaubt, von wissenschaftlichen Ärzten, wenn er der Wissenschaft größeres Vertrauen schenkt. Und er hat nicht nur das Recht, als Individuum Ideen zu akzeptieren, zu verbreiten, nach ihnen zu leben, er kann auch Verbände gründen, die seinen Standpunkt unterstützen … Dieses Recht kommt dem Bürger aus zwei Gründen zu: erstens, weil jeder Mensch die Möglichkeiten haben muss, das zu verfolgen, was er für die Wahrheit oder das richtige Verfahren hält; und zweitens, weil allein die Untersuchung und der Betrieb von Alternativen die Grenzen dessen ermitteln können, was man allgemein für die Wahrheit hält.

Erhält der Bürger das Recht, seiner Tradition gemäß zu leben, dann hängt auch der Betrieb der Institutionen, zu denen er entweder als Steuerzahler oder als Privatmann einen Beitrag leistet, von seinem Urteil ab: Oberschulen, Volksschulen, Landesuniversitäten, Institutionen wie die National Science Foundation, die von Steuergeldern finanziert werden, unterliegen alle dem Urteil der Steuerzahler. Wenn die Steuerzahler in Kalifornien wünschen, dass ihre Landesuniversität Woodoo lehrt, dann müssen diese Gegenstände eben in den Lehrplan eingegliedert werden … Das letzte Wort ist die Entscheidung demokratisch eingerichteter Komitees – und in diesen haben die Laien die Oberhand. …

Eine freie Gesellschaft ist eine Versammlung reifer Menschen und nicht eine Herde von Schafen, geleitet von einer kleinen Gruppe von Besserwissern.[7]

Eine freie Gesellschaft trennt Staat und Wissenschaft (und sie trennt auch den Staat von jeder anderen Tradition),

schrieb er an anderer Stelle.[8]

Oder, auf eine Formel gebracht: Bürgerinitiativen statt Erkenntnistheorie.[9]

Die Korruption der Wissenschaft

Das Diktat der Virologen und Gesundheitspolitiker in der Coronazeit hat gezeigt, wozu der Anspruch der Wissenschaft auf Autorität führt: zu einer kollektiven Psychose, die aus der Verabsolutierung fachwissenschaftlicher Paradigmen erwächst. Dass Bürger weltweit mit den fatalen Auswirkungen dieser Psychose zu kämpfen haben, unter anderem auch mit dem Druck, sich experimentellen Gentherapien zu unterziehen, deren Risiken in bestimmten Altersklassen weit höher sind, als jene der Krankheit, gegen die sie Schutz versprechen, hängt mit der Art zusammen, wie Wissenschaft heute organisiert ist.

Sie ist in hohem Grade vom Staat abhängig und dient wiederum der Legitimation seines Handelns. Es geht nicht mehr um Forschung, die an der Erkenntnis realer Sachverhalte oder am Wohl des Menschen ausgerichtet ist, obwohl das unablässig beteuert wird, sondern um politisierte und ökonomisierte Wissenschaft. Denn die Abhängigkeit der Wissenschaft von der Wirtschaft ist die andere Seite der Pervertierung der Erkenntnis. Die Wissenschaft ist längst nicht mehr interesselos, falls sie es je war.[10] Sie stellt sich willfährig in den Dienst ökonomischer und politischer Logiken, so wie einst »die Vernunft« – von der Luther sagte, sie sei eine »Hure« – sich in den Dienst der Kirche stellte.[11]

Aber nach wie vor trägt »die Wissenschaft« das Phantasma der Objektivität wie eine Monstranz vor sich her und beruft sich darauf, »unparteiisch« zu sein. Mit diesem hehren Anspruch hüllt sie sich in den Mantel einer Autorität, die sie längst verloren hat. Man denke nur an das Gefälligkeitsgutachten der Leopoldina zur Rechtfertigung der Fortsetzung einer historisch beispiellosen Unterdrückung in einer angeblich freiheitlichen Gesellschaft. Dass die Wissenschaft, die vom Staat finanziert wird, von seinen Weisungen abhängt, ist nicht zu übersehen. Ebensowenig, wie zu übersehen ist, dass sie von mächtigen Unternehmen abhängt, die ihre gesundheitsschädlichen Produkte und den von ihnen angestrebten Umbau des Menschen in eine dem Überwachungskapitalismus genehme Form des Transhomo durch die Ergebnisse der »wissenschaftlichen Forschung« zu legitimieren versuchen.

Das wachsende Bewusstsein von den Auswirkungen dieses korrupten Systems, das angeblich dem allgemeinen Wohlstand und dem Wohlergehen des Einzelnen dient, führt zu einem Phänomen, das als »Wissenschaftsfeindlichkeit« bezeichnet und dem sogenannten »Populismus« (oder den »Rechten«) zugeschrieben wird. Berechtigte Kritik an der ideologischen oder kommerziellen Verformung von Wissenschaft wird von den Kritisierten und ihren Agenten zu einer »Verschwörungstheorie« umdefiniert, während dieselbe Art von Kritik noch vor wenigen Jahrzehnten völlig legitim war. Zugleich wird mit zweierlei Maß gemessen: Nicht Kritik schlechthin ist verpönt, sondern nur jene, die sich an die falschen Adressaten richtet oder von den Falschen geäußert wird.

Manche behaupten, der Sinn der Autorität, die die Wissenschaft weiterhin für sich beansprucht, bestehe darin, die Realität verbindlich zu erklären und durch diese verbindliche Erklärung sozialen Zusammenhalt zu stiften, die Gesellschaft zu befrieden.[12] Um diese Funktion zu erfüllen, muss sich die Wissenschaft jedoch in das Gewand der Religion kleiden, was unweigerlich dazu führt, dass jene gruppendynamischen Prozesse wieder in sie einwandern, durch deren Kritik sie einst groß geworden ist.

Wissenschaft als Religion bedarf der Dogmen, des Gruppenzwangs und der Häretiker. Durch die soziale Ächtung und Bestrafung von Häretikern festigt sie den Zusammenhalt der Fachdisziplinen und härtet die Paradigmen aus, die aus dem Konsens der Gleichdenkenden hervorgehen. Nicht mehr, was sich vor der Kritik bewährt, gilt als Wahrheit, sondern was nach der Aussonderung aller Kritiker übrigbleibt.

Je mehr die Autorität der Wissenschaft betont wird, umso illegitimer erscheint der Dissens, von dem die Demokratie lebt. Eine Demokratie, in der alle der gleichen Meinung sind, ist keine Demokratie, sondern eine Diktatur – entweder des Proletariats oder der Partei oder einer Priesterkaste. Im demokratischen Diskurs geht es nicht um Wahrheit, sondern um halbwegs akzeptable, pragmatische Kompromisse und die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen sowie die Toleranz gegenüber Minderheiten. Der Versuch, absolut gültige Kategorien – seien sie wissenschaftlich oder moralisch – in die Realität des sozialen Lebens einzuführen, unterminiert das Recht und endet in Tyrannei und Bürgerkrieg.

Es wird gerne behauptet, das Bildungswesen habe die Aufgabe, Wissenschaft und Demokratie miteinander auszusöhnen. Aber auch Bildung unterliegt dem Pluralitätsgebot. Bildung, deren Ziel die Uniformierung, die Reproduktion einer politisch oder wissenschaftlich verordneten Wahrheit ist, spricht sich selbst Hohn. Sie kann zwar Zugangsberechtigungen für Anstalten erteilen, die den von Schulen begonnenen Prozess der mentalen Konditionierung perfektionieren, verfehlt aber ihren eigentlichen Auftrag: die Individuen in jene Mündigkeit zu führen, die Voraussetzung jeder freien Gesellschaft ist.

Wissenschaft, die sich in den Dienst der sozialen oder politischen Kohäsion stellt, denaturiert zu einem Zerrbild ihrer selbst, zum Szientismus. Szientismus ist der Glaube an die Wissenschaft als Religion. Er ist ebenso unduldsam wie diese in ihren schlechtesten Zeiten und erzeugt ihre eigenen Fanatiker, die mit dem Eifer von Bilderstürmern alles bekämpfen, was ihrem bornierten Weltbild nicht entspricht. Wie im puritanischen England oder im calvinistischen Genf droht Ketzern das Schlimmste: die Ausstoßung aus der Gemeinschaft der Guten, die wirtschaftliche Vernichtung, möglicherweise sogar der Tod. Die Übergänge von der Quarantänisierung von Meinungen und Worten zur Quarantänisierung von Menschen und umgekehrt sind fließend; das haben die Ereignisse der letzten 15 Monate in manchen Ländern gezeigt.

Die Forderung, der Wissenschaft zu folgen, ist inzwischen zum Kampfruf eines Glaubenskriegs geworden. Aber in Wahrheit kennt »die Wissenschaft« das Ziel ebensowenig wie der ungebildete Menschenverstand. Ihre Fähigkeit, Orientierungswissen zu generieren, ist begrenzt; ihre Modelle der Lebenswelt meist unterkomplex oder schlicht falsch. Außerdem unterliegen ihre Modelle der permanenten Revision. Wie also soll von ihnen Orientierung ausgehen? Würde die Entscheidung über das gemeinsame Leben in der Gesellschaft, die dem Souverän der Politik, dem Volk, um dessentwillen Regierungen existieren, zusteht, auf die Sekte der Szientisten übertragen, blühte uns eine Zeit, die finsterer wäre, als das Mittelalter, da sich Kontrolle von Dissidenz dank technischer Innovationen heute – im Gegensatz zu jenem – lückenlos realisieren lässt. Wer zu sehr abweicht, dem wird der Zugang zur Öffentlichkeit entzogen und das Bankkonto gekündigt. Vielleicht wird er in Bälde mittels Implantaten oder Gentherapie einer »klimaverträglichen« Optimierung unterzogen.

Politik wiederum, die sich auf Wissenschaft als Autorität beruft, entmündigt sich selbst und gerät in die Hände von Technokraten, die weder demokratisch legitimiert sind, noch die besseren Entscheidungen treffen, da ihr Urteilsvermögen in der Regel um so korrumpierter ist, je mehr sie in ihrem Fachgebiet hervorstechen.

Wir blicken inzwischen auf nahezu anderthalb Jahre Expertenherrschaft zurück. Ist unser Leben dadurch besser geworden? Experten waren es, die Politiker drängten, den Notstand auszurufen, drakonische Maßnahmen zu verhängen, die unsere Freiheiten weitgehend kassierten und uns ein Dasein bescherten, das von Feyerabends Schafherde nicht mehr sonderlich zu unterscheiden war. Geht es uns dadurch als Gesellschaften oder Individuen besser? Leben wir nun ein erfüllteres Leben angesichts der großen Mysterien von Liebe, Zeugung, Geburt und Tod? Ist uns dank der Experten endlich der Sinn unseres Daseins aufgegangen? Wohl kaum. Wurde doch alles unternommen, uns daran zu hindern, nach den Schätzen zu schürfen, die das Leben jenen bereithält, die bereit sind, voller Mut in es hineinzuspringen. Jene, die angesichts der Übergriffe des Staates und der Risikominimierer, die sie unablässig davor warnten, aus dem Kelch der Unbeschwertheit zu trinken, auf ihrer Würde bestanden, sahen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, die Wissenschaft zu leugnen und potentielle Mörder zu sein. In Wahrheit fällt dieser Vorwurf auf jene zurück, die das Leben an seiner Entfaltung hindern, auf jene, die leugnen, dass der Tod der »Kunstgriff« der Natur ist, »viel Leben zu haben«, wie Goethe sagte.

***

Autorität wurzelt in hierarchischen Strukturen. Diese werden durch esoterische Diskurse reproduziert und durch Akkreditierung und langwierige Konditionierung vor der Beteiligung Unberufener geschützt. Die Mitglieder wissenschaftlicher Denkkollektive vereint nicht nur die Distinktion ihres exklusiven Wissens, sondern auch ihre instinktive Abneigung vor den unwissenden Laien. Der Anspruch auf Autorität setzt ein epistemisches Monopol voraus, mag es nun Offenbarungs- oder Erfahrungswissen, priesterliche Techniken des Exorzismus und der Heilsvermittlung oder empirische Prozeduren der Datengenerierung und statistischen Auswertung beinhalten. Die technischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts, wie die Atombombe, die Mondlandung oder die Herztransplantation, bestätigten vordergründig den Anspruch der säkularen Religion. Die Wissenschaft besaß Autorität, weil sie mit ihrer Technomagie den endgültigen Sieg über die Natur davongetragen zu haben schien. Der Anschein ließ sich so lange aufrechterhalten, als Misserfolge die Bilanz nicht trübten. Da für die Bewertung der institutionellen Leistungen wiederum die Elite zuständig war, die die Leistungen erbrachte, immunisierte sich die Gemeinschaft der Wissenschaftler erfolgreich gegen externe, »fachfremde« Kritik. Kollegen werden in der Regel nicht öffentlich getadelt, der Nachweis von Kunstfehlern ist nahezu unmöglich, da er Experten voraussetzt, die derselben verschworenen Gemeinschaft angehören.

Unter allen Spezialisten unserer von Spezialisten beherrschten Zeit sind die Ärzte diejenigen, die … das höchste Maß an spezialisierter Inkompetenz mitbringen,

schrieb Ivan Illich 1975.[13]

Ein informelles Einverständnis, die Autorität des Fachs, das Ansehen des Berufsstandes oder der Wissenschaft zu schützen, vereint alle, die dem epistemischen Kartell angehören.

Ein wichtiges Instrument der Organisation von Konsens ist der Prozess der »anonymen« Begutachtung durch Experten des gleichen Fachs (»Peer Review«). Er dient der Aufrechterhaltung und Selbstreproduktion des diversitätsfeindlichen Wissensmonopols. Das Paradox der Fachbegutachtung ist, dass sie sowohl Neutralität als auch Kompetenz voraussetzt. Im Zeitalter sich immer weiter ausdifferenzierender Fachgebiete, in dem der eine dem anderen Virologen die Kompetenz abstreitet, machen es die Kosten der Forschung und die Notwendigkeit von Teams kooperierender Spezialisten nahezu unmöglich, Gutachter zu finden, die sowohl kompetent als auch neutral sind. Wirklich fachkompetente Gutachter sind entweder Kollegen oder Konkurrenten. Gutachter, die notwendig derselben esoterischen Gemeinschaft von Spezialisten angehören, neigen dazu, Kreativität und Innovation zu ersticken, statt sie zu fördern.[14]

Die Finanzierung und Steuerung der Forschung durch Bürokratien lassen die Individualität und den Erfindungsgeist einzelner Wissenschaftler hinter anonymen Kollektiven und im Dschungel von Direktiven verschwinden. Die finanziellen Ressourcen, die heute für die Durchführung von Großprojekten erforderlich sind, zwingen die Wissenschaft in die Abhängigkeit von staatlichen oder wirtschaftlichen Organisationen.

Die Entwicklung von Corona-Virus-Impfstoffen innerhalb des Rekordzeitraums eines Jahres scheint für die Effizienz dieses Systems zu sprechen. In Wahrheit deckt jedoch die Organisation dieser Forschung unter Notstandsbedingungen die intrinsische Korruption des heutigen Wissenschaftsbetriebs erst recht auf. Nicht erst seit den Publikationen Gøtzsches ist bekannt, dass Pharmafirmen in beträchtlichem Umfang Ärzte dafür bezahlen, ihre Produkte zu verschreiben, und Wissenschaftler rekrutieren, um Artikel zu zeichnen, die von Ghostwritern der Firmen verfasst werden. Gøtzsche wies darauf hin, dass »die Pharmaindustrie die meisten Experten eines Fachgebiets kauft und dadurch das System der gegenseitigen Kontrolle unter Kollegen zerstört.«[15] In der Regel werden die klinischen Studien, auf deren Ergebnisse sich die Zulassungsbehörden verlassen, von den Pharmafirmen selbst durchgeführt oder in Auftrag gegeben, Einblicke in die Forschungsdesigns und Forschungsdaten werden der Öffentlichkeit mit dem Argument verwehrt, es handle sich um Betriebsgeheimnisse. Wissenschaft als Betriebsgeheimnis: das ist eine Dimension der Pervertierung von Wissenschaft im Zeitalter ihrer Ökonomisierung. Veröffentlicht wird nur, was den Absatz der Produkte fördert.

Nicht nur einzelne Ärzte werden durch Pharmafirmen korrumpiert, sondern auch internationale Organisationen und Behörden. Die Finanzierung der WHO ist bekannt (B&MG Stiftung und GAVI mit 18,7% der größte Einzelspender, noch vor dem größten staatlichen Geldgeber, den USA, mit 15,1%). Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) wird zu 86% aus Gebühren finanziert, die Pharmafirmen für ihre Zulassungsanträge entrichten. Auch die amerikanische Arzneimittelbehörde (FDA) schöpft etwa die Hälfte ihres Budgets (2 von 4,7 Milliarden Dollar) aus Gebühren von Pharmafirmen. Die Kontrolleure werden von jenen finanziert, die sie kontrollieren sollen.

Ausgerechnet ihr Erfolg bindet heute die Wissenschaft an unwissenschaftliche Interessen. Die schiere Größe des Unternehmens, die Größe der Forscherkollektive, der Forschungsinstitutionen, des Bedarfs an finanziellen Ressourcen, unterwirft sie den Imperativen der Ökonomie. Was nichts einbringt, wird nicht finanziert. Hinzu kommen die Einflüsse politischer Lobbies, die manche Forschungsfragen anathematisieren.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass die öffentliche Meinung in wissenschaftlichen Fragen zugleich die »herrschende Meinung« der Wissenschaft ist. Über den Transmissionsriemen des »Wissenschaftsjournalismus« wird der Konsens von Forschungskartellen in die allgemeine Öffentlichkeit transportiert, wobei Journalisten von Publikumsmedien, die selten imstande sind, wissenschaftliche Studien kritisch zu bewerten und noch weniger geneigt, ihre Entstehung zu hinterfragen, zur Verfestigung des Urteils beitragen, die verkündeten Wahrheiten seien unumstößlich. Je weiter entfernt von der Quelle, um so größer der Dogmatismus und die Unduldsamkeit gegenüber Kritik.

Jetzt, wo wir global mehr Ressourcen als je zuvor haben, explodiert die ganze Welt in Korruption, aber wir sprechen nicht darüber und stellen uns nicht dem Problem. Korruption ist ein offenes Geheimnis, das auf der ganzen Welt bekannt ist. Sie ist systemisch und breitet sich aus. Über zwei Drittel der Länder gelten laut Transparency International als endemisch korrupt. Obwohl die Wahrnehmung von Korruption im Gesundheitssektor von Land zu Land unterschiedlich ist, wird der Sektor insgesamt sehr negativ gesehen. Korruption betrifft die Armen und Schwächsten, und Korruption im Gesundheitssektor ist gefährlicher als in jedem anderen Sektor, weil sie buchstäblich tödlich ist. Korruption verletzt die Rechte von Individuen und Gemeinschaften. …

Schätzungen zufolge kostet Korruption jedes Jahr mindestens 140.000 Kindern das Leben, verschlimmert die antimikrobielle Resistenz und untergräbt all unsere Bemühungen, übertragbare und nicht übertragbare Krankheiten zu kontrollieren. Korruption ist eine ignorierte Pandemie,

schrieb die ehemalige peruanische Gesundheitsministerin Patricia J. Garcia im November 2019 in The Lancet.

Die Herrschaft des Moralismus

In Zeiten von Cancelculture und Identitätspolitik dominieren moralische Entrepreneure die Modellierung von Öffentlichkeit. Sie haben die Technik perfektioniert, das Interesse der Medien durch telegene Symbolfiguren und spektakuläre Aktionen zu bündeln. Ihre Kampagnen moralischer Aufrüstung zielen vornehmlich darauf ab, Wissenschaftler zu disziplinieren, die sich nicht ihren extremen Forderungen unterwerfen. Universitäten oder Forschungseinrichtungen, die Opfer solcher Kampagnen werden, glauben, sich nicht anders helfen zu können, als indem sie sich die Ziele der Aktivisten zu eigen machen und sich noch lauter als andere zu ihnen bekennen. Das Erfolgsmodell der moralischen Entrepreneure wird nachgeahmt, wo immer sich eine Gelegenheit bietet, die Logik der Eskalation findet stets neue Anlässe, mögen die Mikroaggressionen noch so geringfügig oder »systemisch« verschleiert sein. Die Folge ist die fortschreitende Tabuisierung immer größerer Gebiete des Denkens und die galoppierende Schwindsucht der Freiheit.

Die moralistische Kontamination von Wissenschaft und Bildung scheint Symptom eines Kulturwandels zu sein, der die Informationsgesellschaft in ein Tugendregime transformiert, in dem selbsternannte Wohlfahrtsausschüsse Verhaltensdekrete verkünden, die unbedingte Unterwerfung fordern. Die Aufrüstung ist massiv: Gesetze gegen »Hassrede«, gegen wolkig definierten »Terrorismus«, gegen »Falsch- und Fehlinformationen« schaffen den Rahmen, Sondereinheiten von Polizei, Geheimdiensten und Militär, sogenannte »Faktenchecker« und Sprachpolizisten sind unterwegs, um die kulturelle Hegemonie dieses neuen Tugendregimes zu etablieren. Unterstützt wird es durch die hemmungslose Zensur, die inzwischen auf den meisten großen Monopolplattformen ausgeübt wird.

Die Bedeutung der Angst

Seit Ausbruch der Pandemie werden wir durch Panikprogramme konditioniert. Durch ihre Ausrufung wurden sie in Gang gesetzt. Davon zeugen geleakte Regierungsdokumente in Deutschland oder entsprechende Publikationen in Großbritannien. Im Vereinigten Königreich werden die Einsichten der Verhaltenspsychologie und Werbewirtschaft von der Regierung systematisch genutzt, um die Bevölkerung in die gewünschte Richtung zu schieben. Das Panikregime ersetzt Argumente durch Emotionen.

Genauso, wie der Diskurs über Corona von Angst beherrscht wird (Angst vor Ansteckung, Angst vor dem Anderen, Angst vor dem Tod), beruht auch der politische Diskurs seit geraumer Zeit auf der systematischen Schürung von Angst. Hier wird – zumal in Deutschland – Angst vor der Wiederkehr des Unsagbaren kultiviert. Die politischen Bedrohungsszenarien sind ebenso unverhältnismäßig, wie die Maßnahmen zur »Bekämpfung« der Pandemie, dienen aber der Legitimation umfangreicher Transfersysteme, die für den ideologischen Umbau der Gesellschaft benötigt werden.

Statt politischen Herausforderern und den von ihnen vorgetragenen Fakten und Argumenten durch Argumentation zu begegnen, bedient man sich der Denunziation. Durch die Verweigerung des Diskurses unter der Voraussetzung, dass das als gänzlich Fremdes Konstruierte sich jenseits der Grenzen des Sagbaren bewege, werden epistemische Bedrohungen der institutionellen Autorität in moralische Konflikte zwischen guten und bösen Menschen umgedeutet. Die Andersheit des politisch Anderen ist aber genauso eine Konstruktion, wie jene, die ihm zum Vorwurf gemacht wird. Während das tatsächlich Fremde, das sich durch kulturelle, sprachliche oder religiöse Merkmale vom Eigenen unterscheidet, zum Nicht-Anderen erklärt wird, wird ein Teil des Eigenen zum metaphysisch Fremden umgedeutet, mit dem nicht einmal mehr ein Gespräch möglich sei, weil es sich aufgrund seiner eigenen Einstellungen und Haltungen von der respektablen Gesellschaft ausgeschlossen habe.

Auch im Pandemie-Diskurs begegnet die moralische Aufladung des Gegensatzes von Gegnern und Befürwortern, Bekennern der Wissenschaft und ihren Leugnern. Die beiden Lager rekrutieren sich, wie es scheint, aus zwei unterschiedlichen gesellschaftlichen Segmenten: hier die Selbstständigen, darunter viele Ärzte, Kleinunternehmer, Mittelständler und Künstler, aber auch Eltern, die an ihren Kindern die schädlichen Auswirkungen der »Gesundheitsmaßnahmen« verspüren und sich deswegen gegen die Aussetzung von Grundrechten wehren, dort Angehörige intellektueller und medialer Cliquen mit privilegierten Arbeitsplätzen, die Homeoffice betreiben können und häufig eine maximalistische Position zur Hygienepolitik einnehmen. Die Kluft wird nach dem Vorbild des bereits bestehenden Schismas konstruiert, oder vielmehr, die ältere Deutungsschicht mit ihren bereits etablierten Begrifflichkeiten wird der jüngeren Konfliktlage übergestülpt, woraus sich die Gleichsetzung von Pharmakritikern, Maßnahmekritikern, »Coronaleugnern«, »Verschwörungstheoretikern« mit »Antisemiten«, »Rechten« und »Nazis« erklärt.

Das Ansehen der »Intellektuellen« – der Wissens- und Wortperformer und moralischen Entrepreneure – in der institutionalisierten Wissenschaft oder Medienwelt hängt davon ab, dass sie auf der richtigen Seite dieses Schismas stehen. Nach dem inzwischen etablierten manichäischen Binärsystem ist die Stärke und Aufrichtigkeit des Bekenntnisses zum Antirassismus von entscheidender Bedeutung für soziale Achtung oder Ächtung. Dass die Pandemie und ihre Bekämpfung dazu genutzt wurde, die eigene moralische Autorität zu stärken, zeigt sich daran, dass der Kampf gegen Rechts nahtlos in jenen gegen »Aluhüte« und Impfverweigerer überging. Es ist kein Zufall, dass der Bundestag mitten in der Pandemie für diesen Kampf 1,1 Milliarden Euro bewilligte. Kulturelle und moralische Hegemonie gibt es nicht zum Nulltarif.

Die systematische Umdeutung des legitimen Protestes gegen die Corona-Maßnahmen im Namen der Freiheit und des Grundgesetzes zu einem subversiven Anschlag auf die staatliche Ordnung war ein deutlicher Ausdruck dieser Sehnsucht nach moralischer Legitimität. Der Kampf gegen Rechts und gegen Rassismus verband sich mit dem Kampf gegen die Coronaleugner, die zur verdichteten Metapher des sozial Bösen wurden, gegen das alle moralischen Energien in einer von Angst vor Bedeutungs- und Stimmenverlust heimgesuchten politischen Elite aufgerufen werden mussten. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung durch die Erklärung von Verfassungsschutzämtern, Menschen mit anderen medizinischen Überzeugungen als potentielle Staatsfeinde unter Beobachtung zu stellen.

Die spektakulär erfolgreichen Panikkampagnen während der Pandemie dürften zum Vorbild für künftige, technokratisch-progressive Projekte werden, die kaum Chancen auf Umsetzung in einer gut informierten Bevölkerung hätten, die noch Einfluss auf das politische Geschehen auf demokratischem Weg zu nehmen vermag. Schon zeichnet sich nach dem Corona-Notstand die Ausrufung eines »Klimanotstands« ab, der – ebenso wie der vorangegangene – grundrechtseinschränkende Maßnahmen erfordert und rechtfertigt, wie jüngst das Bundesverfassungsgericht erklärte. Wir müssen die Freiheit einschränken, um die Freiheit zu schützen: dieses Argument passt ebenso gut zur Pandemie wie zu einer Klimademie.

Das chinesische Paradigma

In den meisten westlichen Demokratien existierten vor 2020 von der WHO unterstützte Pandemiepläne, die auf liberalen Grundsätzen fußten – Pläne, welche die individuelle Autonomie respektierten und Zwang so weit als möglich vermieden. Infizierte und besonders Gefährdete sollten isoliert werden, anstatt gesunde Menschen in ihren Häusern einzusperren. Kontaktverfolgung, Quarantäne Gesunder, Eingangs- und Ausgangskontrollen oder Grenzschließungen empfahlen sie »unter keinen Umständen.«[16]

Im Schatten der Pandemie

China löste als autoritäres Regime das Problem durch rigorose Kontrolle der Bevölkerung und unter Missachtung der Menschenrechte. Türen von Häusern wurden zugemauert, um die Bewohner daran zu hindern, sie zu verlassen. Im Westen ging man anfangs davon aus, dass ein solches Vorgehen nicht in Frage käme.

Der für seine spektakulär falschen Hochrechnungen berüchtigte Epidemiologe Neil Ferguson vom Imperial College London bemerkte im Dezember 2020 gegenüber der Times: »Es ist ein kommunistischer Einparteienstaat, sagten wir. Wir dachten, wir könnten in Europa nicht mit [derartigen Freiheitseinschränkungen] durchkommen … und dann tat es Italien. Und wir begriffen, dass es möglich ist.« Er fügte hinzu: »Heutzutage fühlt sich der Lockdown unvermeidlich an.«

Die Akzeptanz solcher Regelungen hängt von der gefühlten Schwere der Bedrohung ab. Dass Covid-19 eine Infektionsfatalitätsrate von 0,5-1% besitzt, ist eine von der WHO konstatierte Tatsache. Tatsache ist aber auch, dass es sich dabei um eine Durchschnittszahl handelt, die nichts über die Sterblichkeit unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen aussagt. Laut RKI waren bis Ende März 2021 22,9% der Coronatoten in Deutschland älter als 90 Jahre, 46,4% zwischen 80 und 89, 19,4% zwischen 70 und 79, 7,8% zwischen 60 und 69, 2,6% zwischen 50 und 59 und 0,9% zwischen 0 und 49.[17] Der Anteil der über 80-Jährigen an den Corona-Toten betrug 69,3%, der Anteil der über 70-Jährigen 89%. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern beträgt in Deutschland 78,6, von Frauen 83,4 Jahre. 88,7% der Verstorbenen hatten die Schwelle der durchschnittlichen Lebenserwartung bereits überschritten oder fast erreicht.

Im Schatten der Pandemie

Noch heute werden Massenimpfungen mit dem Schutz gefährdeter Personen gerechtfertigt, obwohl jeder, der will, sich impfen lassen kann und große Teile der Bevölkerung durch das Virus nicht gefährdet sind. Das Risiko der Erkrankung oder des Todes wurde in der öffentlichen Wahrnehmung systematisch aufgebläht. Inzwischen zeigt sich, dass das Risiko mancher Bevölkerungsgruppen, durch die Impfung geschädigt zu werden, größer ist, als das Risiko, durch die Krankheit geschädigt zu werden, vor der die Impfung schützen soll. Dies führt zur Angst zurück.

Im Unterschied zu China kommt der öffentlichen Meinung im Westen noch eine gewisse Bedeutung zu. Es ist also nicht ohne weiteres möglich, der Bevölkerung allein durch äußeren Druck ein konformes Verhalten aufzuzwingen. Nur wenn die Menschen genügend Angst haben, sind sie bereit, grundlegende Freiheiten zugunsten ihrer Sicherheit aufzugeben und sich selbst an die absurdesten Maßnahmen zu halten. Das Schüren von Angst gehört seit langem zum Geschäftsmodell der Massenmedien. In der Coronakrise fügten sie sich nahtlos in die staatlichen Strategien der Bevölkerungslenkung ein.

Während die chinesische Regierung die ihr Untergebenen durch äußeren Zwang lenken kann, muss der Zwang im Westen von innen kommen – aus der »Überzeugung« der Individuen. Nur wenn die Unterwerfung freiwillig geschieht, wird der Schein der Demokratie gewahrt. Deshalb muss auch immerzu betont werden, es gebe »keinen Impfzwang«. Den Staat repräsentieren im Westen gewählte Volkvertreter; würden diese selbst zum Gegenstand der Furcht, fürchteten die Bürger die von ihnen verhängten Maßnahmen mehr als das, wovor sie schützen sollen – in diesem Fall Krankheit und Tod –, untergrübe dies die Akzeptanz und Durchsetzbarkeit der Maßnahmen erheblich. Der Staat kann nur die Rolle des Retters und Wohltäters spielen, wenn Angst und Zorn auf andere Instanzen abgelenkt werden. Das Objekt der Angst ist das Virus, Objekt des Zorns die »Impfverweigerer« und »Coronaleugner«, deren angeblicher Egoismus für die endlose Pandemie und damit auch für die Abschaffung der Freiheit verantwortlich ist.

Freiheit wird nicht durch Gesetze geschaffen. Gesetze können nur Eingriffe in die Freiheit verhindern. Freiheit kommt von innen. Sie beruht auf Voraussetzungen, die der Staat nicht schaffen kann. Aber er kann Gesetze erlassen, die das Ausleben der inneren Freiheit verunmöglichen. Die Grundrechte, die diese Freiheit garantierten, waren das Ergebnis einer langen historischen Entwicklung. Ihre Abschaffung vollzog sich innerhalb weniger Monate. Es ist viel einfacher, Freiheit zu zerstören, als sie zu etablieren.

Die Pandemie ist am Abklingen, trotz des Fetischismus der »Variants of Concern«, die mit Hilfe des griechischen Alphabets durchbuchstabiert werden. Impfstoffe sind in vielen Ländern verfügbar. Jeder, der will, kann sich impfen lassen. Außerdem gibt es als Alternative zu Impfungen höchst wirksame medikamentöse Behandlungsprotokolle. Aber der Maskenfetischismus dauert fort, als wollten die Träger der Masken ihre Rechtgläubigkeit signalisieren. Der beispiellose Einsatz der Angst als Instrument der Staatspropaganda hat uns gefügig gemacht und unsere Risikowahrnehmung von der Realität entkoppelt.

Das Leben ist reich an Risiken. Überall lauern Verletzungen, Krankheit und Tod. Der Tod ist das letzte unvermeidbare Risiko des Lebens. Niemand entkommt ihm, so sehr er sich auch zu schützen versucht. Sich aus Furcht vor dem Tod das Leben zu nehmen, gilt zu Recht als Form des Irrsinns. Aber auch die übertriebene Furcht vor einem einzelnen Risiko, die obsessive Angst vor Ansteckung, grenzt an Irrsinn. Bazillenphobie ist pathologisch. Sie verzerrt die Wahrnehmung der Realität. Seit anderthalb Jahren ist unsere Gesellschaft in einer Virophobie erstarrt. Die Verzerrung der Realität verursacht Kosten, die von irgend jemandem bezahlt werden müssen. Damit wir Risiken in den richtigen Kontext stellen können, müssen wir das unkalkulierbare Risiko, das wir Leben nennen, bejahen.

Das unverhüllte Gesicht

Durch das unverhüllte Gesicht begegnen wir einander als Individuen in unserer Verletztlichkeit. Unser Lächeln drückt unsere Menschlichkeit aus. Wer sein Lächeln verbergen muss, wird seiner Menschlichkeit beraubt. Der Zwang zu Gesichtsmasken, deren gesundheitsschädliches Potential größer ist als ihre Schutzwirkung, ist würdelos. Das flüchtige Lächeln drückt Vertrauen in die Menschlichkeit aus und lädt zur Begegnung ein. Masken sind der sichtbarste Ausdruck der Unmenschlichkeit, die uns das Coronaregime aufgezwungen hat. Es ist dieselbe Unmenschlichkeit, die in den Geboten der asozialen Distanzierung, den Kontaktverboten, den Besuchsverboten in Krankenhäusern und Altenheimen, den Unterrichtsverboten zum Ausdruck kommt.

Indem wir Fremde anlächeln, laden wir sie ein, uns Vertrauen zu schenken. Auf diesem Vertrauen und dieser Einladung fußt unser Bewusstsein, einer Menschheit anzugehören, die ein gemeinsames Schicksal teilt. Aus diesem Bewusstsein erwächst Solidarität. Solidarität aber ist das beste Bollwerk gegen Despotismus, wie Hannah Arendt in ihrem Buch über die Ursprünge des Totalitarismus bemerkte. Wollen wir wirklich in einer Gesellschaft leben, in der jeder jedem misstraut und das Gegenteil von Solidarität zur Tugend erklärt wird?

Dogmen zu folgen, die uns dazu zwingen, eine verzerrte Interpretation der Wirklichkeit als Wahrheit zu akzeptieren, entbindet uns davon, uns »unseres eigenen Verstandes ohne die Leitung anderer zu bedienen«. Es entlastet uns auch von der Herausforderung, uns in das Abenteuer des Lebens zu stürzen, in dem nichts gewiss ist, außer dass es endet. Je mehr wir darauf vertrauen, dass dieses Leben in eine geistige Wirklichkeit eingebettet ist, aus der es hervorgeht und in die es mündet, um so mehr können wir dessen Ungewissheiten mit Hoffnung und Zuversicht entgegensehen. Eine Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, den Tod als Teil des Lebens zu bejahen, wandelt sich zu einem Reich lebender Toter, die sich unter Aufgabe ihrer Freiheit und Würde vor dem Götzen einer falsch verstandenen Gesundheit niederwerfen.

Im Sendschreiben des Apokalyptikers an die Gemeinde von Sardes steht:

Ich kenne deine Werke; man sagt von dir, dass du lebst, und bist doch tot. Sei wachsam und stärke die anderen, die sonst sterben werden … Wenn du aber nicht wachst, werde ich über dich kommen wie ein Dieb, und du wirst nicht wissen, zu welcher Stunde ich kommen werde.


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Anmerkungen:


  1. Ludwig Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Neuausgabe, Frankfurt a.M. 1980, S. 41 f.
  2. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 1978, S. 26.
  3. Ebd., S. 26.
  4. Ebd., S. 38.
  5. Ebd., S. 38.
  6. Ebd. S. 162 f.
  7. Paul Feyerabend, Erkenntnis für freie Menschen, Frankfurt a.M. 1979, S. 142 f.
  8. Ebd., S. 61.
  9. Ebd., S. 8.
  10. Schon Pasteur oder Koch machten aus ihren – teilweise fingierten – wissenschaftlichen Entdeckungen ein lukratives Geschäft.
  11. 2020 machte der Politologe Uwe Jochum darauf aufmerksam, dass von acht Milliarden Euro, die die deutschen Universitäten 2018 an Drittmitteln erhielten, 25% aus der Industrie stammten und die restlichen 75% vom Staat. An erster Stelle der staatlichen Förderscharniere stand damals die Deutsche Forschungsgemeinschaft mit 3,3 Milliarden Euro. »Hinzu kommen noch die Ausgaben für all jene Forschungsverbünde und -institute, die sich mit der DFG zu einer ›Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen‹ zusammengeschlossen haben und die auf altehrwürdige Namen wie ›Alexander von Humboldt Stiftung‹, ›Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina‹, ›Fraunhofer- Gesellschaft‹, ›Leibniz-Gemeinschaft‹ oder ›Max-Planck- Gesellschaft‹ hören. Sie sind in der Regel als Vereine oder Gesellschaften in der Trägerschaft des Bundes oder der Länder tätig und werden zu unterschiedlichen Anteilen aus Bundes- und Landeshaushalten finanziert, soll heißen: Sie sind allesamt steuerfinanziert. Kurz: Das gesamte Wissenschaftssystem, das nach außen hin Unabhängigkeit der Forschung zelebriert und dies im Modus des wissenschaftlichen Vereins und eingeworbener Drittmittel zum Ausdruck bringt, hängt nach innen hin nahezu vollständig am Steuertropf der öffentlichen Hand. Und das wiederum heißt: Das Wissenschaftssystem in Deutschland ist hochgradig politikabhängig … [W]enn man sich klarmacht, dass beispielsweise in der DFG die finanziell einschlägigen und direkt an die Forschungspolitik der Regierung anschließenden Entscheidungen vom ›Hauptausschuss‹ getroffen werden, in dem neben 39 Professoren eben auch 40 Vertreter des Bundes und der Länder sitzen, darunter alle Forschungs- oder Kultusminister und nicht zuletzt die Bundesministerin für Bildung und Forschung selbst – dann braucht es schon eine gehörige Portion Naivität, um nicht zu denken, dass hier massiv Forschungslenkung betrieben wird.« Bereits 2011 kritisierte der Begründer des »Heidelberger Appells für Publikationsfreiheit und Wahrung der Urheberrechte«, Roland Reuß, in der FAZ die deutsche Forschungspolitik: »Die durch eklatante Unterausstattung der Universitäten unkontrolliert wachsende und alles sich unterwerfende Macht des transföderal und opak oligarchisch agierenden Forschungsförderungsapparats ist nicht nur eine konkrete politische Gefahr, weil sie die Chance der Erforschung radikal neuer Ansätze und damit letztlich auch die Möglichkeit gesellschaftlich notwendiger Transformationen minimiert. Sie demoralisiert vor allem das forschende Individuum, die Basis jeden wissenschaftlichen Fortschritts.«
  12. Die Idee, die höchste Gewalt dürfe und müsse um des gesellschaftlichen Friedens willen auch Forschung und Lehre kontrollieren, wurde zu Beginn der Neuzeit von Hobbes im Leviathan neu ausformuliert. »… mit der höchsten Gewalt [ist] auch das Recht verbunden, zu entscheiden, was zur Erhaltung oder zur Störung des Friedens dienen kann; folglich auch zu bestimmen, zu welcher Zeit, unter welchen Bedingungen und wem es erlaubt sei, das Volk aufzuklären; welche Bücher verboten werden müssen und wer darüber die Aufsicht führen soll. Handlungen haben ihren Grund in Meinungen; folglich müssen diese unter Aufsicht genommen werden, wenn man Frieden und Einigkeit in einem Staat erhalten will.« Hobbes, Leviathan, Stuttgart 1978, S. 161.
  13. Ivan Illich, Die Enteignung der Gesundheit (späterer Titel: Die Nemesis der Medizin), Reinbek 1975, zitiert nach Gerd Reuther, Der betrogene Patient, München 2020, S. 170.
  14. Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages bemerkte schon 2006 zur Praxis der Förderungsvergabe der DFG: »Da die fachliche Begutachtung durch … Wissenschaftler erfolgt, die auf einem eng verwandten Forschungsgebiet arbeiten, sind Antragsteller und Gutachter in fast allen Fällen nicht nur Kollegen, sondern gleichzeitig auch Konkurrenten um begrenzte Forschungsmittel. Dies kann insbesondere dann problematisch sein, wenn der Antragsteller neu in ein Gebiet ›eindringen‹ will, das der Gutachter bisher weitgehend als seine eigene wissenschaftliche ›Nische‹ definiert hat.«
  15. Peter C. Gøtzsche, Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität. Wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert, München 2014, S. 144.
  16. https://web.archive.org/web/20200730195417/https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/329438/9789241516839-eng.pdf?ua=1
  17. https://de.statista.com/infografik/23756/gesamtzahl-der-todesfaelle-im-zusammenhang-mit-dem-coronavirus-in-deutschland-nach-alter/

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