Zuletzt aktualisiert am 8. September 2023.
Robert A. Rose setzt sich in seinem Beitrag »Der Michael-Pfad ist offen« mit der These Are Thoresons auseinander, der spirituelle Schulungsweg der Anthroposophie sei heute nicht mehr gangbar.
Der Michael-Pfad ist offen
Gastbeitrag von Dr. Robert A. Rose
Einführung
In einem kürzlich erschienenen Video behauptet Are Thoreson, der »Michael-Pfad« sei geschlossen (The Spiritual Scientist, Youtube, »Demons and Healing …«, 15/03/2023; eine Seite, die von dem Anthroposophen Mick Young aus South Devon betrieben wird). Da der Michaelpfad ein anderer Name für den spirituellen Weg der Anthroposophie ist, bedeutet dies offensichtlich, dass Are den aktuellen anthroposophischen Weg der spirituellen Entwicklung für geschlossen hält.
Dies ist eine Behauptung, die Are des öfteren aufstellt (Rudolf Steiner Branch, Chicago, Youtube, »Approaching the Threshold…«, 18/04/2023). Als Alternative zum »Michael-Pfad« propagiert Are das, was er den »Nördlichen Pfad« nennt, als eine spirituelle Disziplin, die für die heutige Zeit angemessen und effektiv sei. Seine Thesen wurden von einer Reihe von Anthroposophen auf der ganzen Welt aufgegriffen, ohne zu bedenken, was sie bedeuten. Aus diesem und anderen Gründen ist die primäre Behauptung eine Überlegung wert. Ziel meines Artikels ist es, die Behauptung »Der Michaelpfad ist geschlossen« zu bewerten und festzustellen, ob an ihr etwas Wahres dran ist. Der Artikel versucht nicht, den von Are empfohlenen alternativen Weg in allen Einzelheiten zu beurteilen, aber er liefert einige Ideen, anhand derer er bewertet werden kann.
Der Weg, den Are propagiert, kann auch als »Widar«-Pfad bezeichnet werden. Es muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass die Verwendung des Namens »Widar« sich auf Are’s Interpretation eines höheren Wesens bezieht; das bedeutet nicht notwendigerweise, dass dieses Wesen mit dem von Rudolf Steiner beschriebenen identisch ist. Es kann sich herausstellen, dass beide sich auf ganz unterschiedliche geistige Wesen beziehen. Ebenso ist der Ausdruck »Widar-Pfad« nicht unbedingt dasselbe wie das, was man den Widar-Pfad nennen könnte, von dem Steiner gesprochen hat. Tatsächlich unterscheidet sich Steiners Beschreibung eines Weges durch die Naturreiche im »Helsinki-Kurs« (Die geistigen Wesenheiten in den Himmelskörpern und Naturreichen, 1912) erheblich von dem von Are beschriebenen Weg, obwohl er behauptet, sich für seinen Weg zu »Widar« auf diese Vortragsreihe zu stützen. Aber eine vollständige Bewertung dieser Tatsache würde den Rahmen meines Aufsatzes sprengen.
Das Gewicht von Are’s Behauptungen sollte nicht unterschätzt werden, sie müssen sehr ernst genommen werden: Sie implizieren faktisch, dass der zentrale Kern der Anthroposophie, der Michaelspfad, und damit die Michaelsschule, als spiritueller Weg von ihm als verschlossen betrachtet wird. Als Anthroposophen können wir dies und die damit verbundenen Konsequenzen nicht einfach übergehen. Wären Are’s Behauptungen wahr, sollte niemand mehr den von Steiner beschriebenen Michaelspfad zu beschreiten versuchen, eben weil er geschlossen ist. Stattdessen sollte man dem alternativen Weg zu »Widar« folgen, dem Weg, der von Are und nicht von Steiner empfohlen wird.
Ich werde ein anderes Argument vorbringen: dass der Michaelspfad offen ist und dass eine tiefere Auseinandersetzung mit dem, was er eigentlich ist, die Diskussion und die anthroposophische Bewegung einen wichtigen Schritt in der Selbsterkenntnis voranbringen wird.
Die Quellen der Behauptung und ihre Bewertung
Are stützt einen Teil seiner Behauptung auf das Buch von Gerhard von Beckerath: »Rudolf Steiners Leidensweg« (2020). Er behauptet, das Buch berichte von Gesprächen zwischen Rudolf Steiner und seinen Schülern. Darin soll Steiner gesagt haben, seine Schüler hätten den von ihm beschriebenen spirituellen Weg als »zu schwierig« empfunden und dieser Weg daher nun geschlossen sei. »Dieser Weg« bezieht sich auf das Buch Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? und damit auch auf den Weiheakt in der Christengemeinschaft, die Grundsteinmeditation und sogar die Mantren der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. All dies ist der »Michaelpfad« im Sinne Rudolf Steiners. Wären die Steiner zugeschriebenen Behauptungen wahr, würden sie eine existenzielle Bedrohung für die Bedeutung jedes einzelnen dieser Wege sowie für jede Initiative, die sich aus ihnen ergibt, darstellen.
Es gibt eine Reihe von Problemen mit der Beckerath-Quelle, die einige potenzielle geistige Irrwege mit sich bringen. Zunächst einmal gibt es eine Reihe von Zitaten, die auf Quellen nach Steiners Tod beruhen. Auf den Seiten 243/4 des Beckerath-Buches wird berichtet, dass Steiner angeblich mit zweien seiner Schüler, Gräfin Keyserlingk und Graf Polzer-Hoditz, zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Anlässen, 1925 bzw. 1935, »gesprochen« habe. Die Berichte ähneln sich auffallend, aber es ist nicht auszuschließen, dass die beiden in der Zwischenzeit in Kontakt standen. Die Berichte dürfen nicht naiv akzeptiert und müssen untersucht werden, so schwer das auch fallen mag, wenn es sich um angesehene Schüler Steiners handelt.
In Wirklichkeit ist der ausgeführte Beweis dem Problem der Flüsterpost nicht unähnlich. Nehmen wir an, Steiner hat mit einem seiner Schüler gesprochen. Es gibt das Sprechen und das Hören, gefolgt von der Niederschrift zu irgendeinem Zeitpunkt, wie lange später ist auch eine Frage. Woher weiß man, dass das, was aufgeschrieben wurde, tatsächlich das ist, was Steiner gesagt oder gemeint hat? Beim Übergang vom gesprochenen zum geschriebenen Wort gibt es sehr wichtige Fragen der Genauigkeit und der Interpretation. Man kann in der naiven Annahme der Wahrheit dieser Aussagen eine Art von Ehrfurcht vor den ursprünglichen Anthroposophen spüren, die Steiners direkte und persönlich akzeptierte Schüler waren. Man lässt sich jedoch lediglich von einem unbewussten Autoritätsglauben verleiten. Und, so unverblümt es auch klingen mag, wie ein altes Sprichwort sagt: »Zwischen Glas und Lippe gibt es manche Klippe«. Aus heutiger Sicht kommt noch ein weiteres Problem hinzu: Wie interpretieren wir das, von dem eine andere Person behauptet, Steiner habe es gesagt? All dies führt zu einem so hohen Grad an epistemischer Unsicherheit, dass diese Quelle nicht als völlig zuverlässig angesehen werden kann, sie ist ein reines Indiz. Behauptungen auf der Grundlage von Hörensagen können die absolut grundlegende Frage grundsätzlich nicht beantworten. Das ganze Problem wird durch die Tatsache verschärft, dass es sich um angeblich posthume Aussagen handelt. Wie sollen wir sie heute als zwangsläufig wahr akzeptieren, wenn wir keine Möglichkeit der unabhängigen Überprüfung haben? Sie mögen wahr sein, aber wir können es nicht wissen. Die Behauptung muss durch das Wesentliche ersetzt werden, nämlich: Ist der Michaelsweg offen oder nicht, und wie können wir das als freie, unabhängige Wesen prüfen, ohne uns unbewusst auf eine Autorität abzustützen?
Es muss jedoch gesagt werden, dass, selbst wenn mein Argument richtig ist, es einige Punkte gibt, aus denen Are seine Schlussfolgerung über den Michaelpfad abgeleitet haben könnte, aber es gibt Beweise dafür, dass dies falsch ist. Auf Seite 244 findet sich die posthume Aussage, die angeblich von Steiner stammt: »Die Mysterien bleiben von nun an verhüllt, das ist der Grund, warum ich euch verlassen musste – meine Mission auf der Erde war beendet … Die Geist-Kultur ist mit meinem Weggang beendet, jetzt müssen die Menschen in die Seelen-Kultur eintauchen … Die Menschen, die die Herz-Kultur unterdrückt haben, sind schuld an meinem Weggang. Wenn sie in die Tiefen des Herzens eingetaucht wären, hätten sie die Kräfte gefunden, die für die Aufgaben des Zeitalters ausreichen« (Meine Übersetzung). Man kann sehen, wie dies verstanden werden kann. Zunächst ist zu bemerken, dass seit diesen »Zitaten« fast 100 Jahre vergangen sind. Was damals wahr war, ist heute vielleicht nicht mehr wahr, zumal es im Buch Hinweise gibt, dass Steiner in den höheren Welten weiter gelehrt hätte (S. 244). Viele von uns könnten dort gewesen sein und gelernt haben, »zu hören und zu verstehen« (S. 244). Wenn dem so ist, dann könnte der Michaelpfad sehr wohl offen sein.
Es stellt sich aber auch die Frage, was mit »Geist-Kultur« und »Seelen-Kultur« gemeint ist. Beckeraths eigene Interpretation bezieht sich nicht so sehr auf den Michaelpfad als spirituellen Weg, sondern auf seine irdische Form: die Anthroposophische Gesellschaft als Sozialform. So interpretiert er die »Geist-Kultur« nicht als den spirituellen Weg, den Michaelpfad als solchen. Sein Argument ist, dass die Gesellschaftsform aus Steiners Zeiten nicht mehr angemessen sei, weil ihr Leiter nicht mehr da ist. Aus Beckeraths Sicht brauchen wir eine Gesellschaft »von unten nach oben« und nicht »von oben nach unten«, die auf der Verwirklichung der Michael-Kräfte in jedem Einzelnen beruht. Nur so kann seiner Meinung nach eine Gesellschaft entstehen, die durch gegenseitige Kooperation auf dem Geist basiert. Was sind für ihn diese Michael-Kräfte? Es sind: »Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Bescheidenheit und Geduld« (S. 270). Da Beckerath die genannten Eigenschaften als Michaelskräfte ansieht, bedeutet das natürlich, dass der Weg zu Michael zumindest in Bezug auf diese moralischen Tugenden offen ist. Für Beckerath ist die Entwicklung der genannten Michaelskräfte eine Voraussetzung für die Konstitution der Gesellschaft. Auch wenn man mit Beckerath bezüglich der Form der Gesellschaft nicht übereinstimmt, kann man seine Schlussfolgerungen bezüglich des Michaelpfades akzeptieren. Dies ist genau die entgegengesetzte Schlussfolgerung zu der von Are Thoreson.
Ein weiterer Grund, den Are angibt, ist, dass Michael ein Arche [Zeitgeist] geworden und daher nicht mehr an diesem speziellen spirituellen Weg beteiligt sei. Der Weg führt nun laut Are zu »Widar«, der angeblich der neue »Hüter der Schwelle« geworden ist. Diese Argumentation klingt unglaublich verworren. Rudolf Steiner hat immer gesagt, dass das Wesen Michael ein Erzengel ist, der zu einem Arche wird, er entwickelt sich zu einem »Zeitgeist«. Wenn das der Fall ist, bedeutet die bloße Tatsache, dass dies der Fall ist, nicht, dass Michael woanders hingegangen und seine Aufgabe von dem geistigen Wesen Widar übernommen worden ist. Der Grund, warum Steiner den von ihm beschriebenen Weg als Michael-Pfad bezeichnet hat, ist, dass er der »Geist des Zeitalters« (ein Arche) ist und der spirituelle Pfad derjenige für dieses Zeitalter ist! Daher ist der spirituelle Weg, der für dieses Zeitalter geeignet ist, derjenige, der vom Geist des Zeitalters geführt wird: Michael, der werdende Arche.
Außerdem war Michael für Steiner nie der »Hüter der Schwelle«. Der Hüter der Schwelle ist in seiner ersten Form im Wesentlichen die Imagination des inneren Selbstes eines Menschen, eine Art geistig geformtes Porträt seines Denkens, Fühlens und Wollens, das in der lebendigen Imaginationswelt aus all seinen Inkarnationen entstanden ist. Die Aufgabe des Menschen ist es, die negativen Aspekte davon in etwas geistig Gutes und Schönes zu verwandeln. Are scheint in diesem Punkt verwirrt zu sein.
Was ist der Michael-Pfad?
Are beschreibt einen Bericht aus dem Beckerath-Buch, in dem Steiner gesagt haben soll, dass seine Schüler den Michaelpfad, den Weg zur spirituellen Erfahrung der höheren Welt, als »zu schwierig« empfunden haben. Das ist eine Welt, die angeblich jenseits der sogenannten »Schwelle« zwischen normalem und höherem Bewusstsein beginnt. Daraus folgt, dass der Michaelpfad in der »höheren Welt« beginnt. Die fragwürdige »Tatsache«, dass Anthroposophen den Zugang zu den höheren Welten als »zu schwierig« empfunden haben, ist also Teil von Are’s Annahme, dass der Michael-Pfad geschlossen ist. Es ist in etwa so, als würde man argumentieren, dass die dreidimensionale Differentialrechnung für die meisten Menschen zu schwierig und deshalb nicht möglich sei. Mit dieser Art von Argumentation ist der »Rechenpfad« geschlossen, was offensichtlich falsch ist, da es viele Menschen gibt, die ihn gehen können.
Noch wichtiger ist, dass das Problem mit dieser Behauptung darin besteht, dass der Michaelpfad nicht am Punkt des Eintritts in die höhere Welt beginnt, sondern weit davor. Das ist natürlich zwangsläufig der Fall.
Der Mensch beginnt seine geistigen Fähigkeiten nur zu entwickeln, weil sie noch nicht entwickelt sind! Das bedeutet natürlich, dass die meisten Menschen den Michaelpfad mit der Entwicklung von Alltagsfähigkeiten beginnen, die im normalen Bewusstsein »schlummern« (Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, S. 16).[1]
Wo beginnt nun der Michaelpfad? In den »Anthroposophischen Leitsätzen – Anthroposophie als Erkenntnisweg – Das Michael-Mysterium« (1924) beschreibt Steiner den dem »Michaelszeitalter« (das um 1879 begann) angemessenen geistigen Weg. Es ist klar, dass dieser Text und alles, was darin steht, Teil des Michaelsweges ist. In diesem Text verweist er auf die »Philosophie der Freiheit«, die notwendig ist, um die für dieses Zeitalter erforderlichen moralischen Impulse zu geben. Nach dem Prinzip der Transitivität ist also auch der in diesem Buch beschriebene Weg ein Teil des Michaelpfades. Ebenso sind andere Publikationen Steiners, die eine ähnliche geistige Ausrichtung haben, wie »Wahrheit und Wissenschaft« und »Goethes Weltanschauung« usw., ebenfalls Teil des Michaelpfades. Diese wurden in den 1880er und 1890er Jahren gedruckt, kurz nach der »großen Zusammenkunft« der Michaelschule in der geistigen Welt. Es scheint mir, dass diese Publikationen die erste Saat des Michaelpfades auf der Erde waren. Da war sicherlich Steiners eigene Ansicht, wie sie in »Anthroposophische Gemeinschaftsbildung« 1923 (S. 36 f.) zum Ausdruck kommt. Er behauptete sogar, dass die Anthroposophische Gesellschaft ohne diese Texte hinter die Anthroposophie selbst zurückfallen und »völlig missverstanden werden würde, und ihre einzige Frucht« wäre ein endloser Streit (S. 58 f.). Der wichtige Punkt an diesen Texten ist, dass sie weit innerhalb des gewöhnlichen Bewusstseins beginnen und dem Weg zur Grenze der geistigen Welt folgen: aber sie sind immer noch der Michaelpfad! Der Weg innerhalb der »Philosophie der Freiheit« ist schließlich eine Schulung im reinen Denken sowie in reiner Erkenntnis und ethischem Individualismus. Und da Michael der »feurige Gedankenfürst des Weltalls« ist (»Anthroposophische Leitsätze«, S. 62), gibt es eine tiefe geistige Verwandtschaft zwischen der wirklich gelebten Erfahrung des reinen Denkens und Michael. Das bedeutet, dass im Akt des reinen Denkens eine »Begegnung« mit Michael als dem Wesen möglich ist, das den Zugang zum kosmischen Denken ermöglicht, der auch einen »Weg zum Herzen« (ebd.) eröffnet. Auf dem Gebiet der Moral führt dieses »feurige reine Denken« zum ethischen Individualismus, einem Weg, geistig-moralische Impulse in die irdische Welt zu bringen. Auch hier ist der Michaelpfad allein aus diesem Grund offen.
In ähnlicher Weise entwickelt das Buch »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten, 1909/10« den Michaelpfad in die weiteren Dimensionen der menschlichen Seele und des Geistes. Bekanntlich befassen sich viele der dortigen Empfehlungen mit der Kultivierung und Steigerung der alltäglichen moralischen und kognitiven Fähigkeiten. Positivität, Aufgeschlossenheit, Konzentration, Wille und Gleichmut usw. fallen alle unter diese Rubrik. Diese moralisch-kognitiven Qualitäten stellen als solche eine Erweiterung des normalen Bewusstseins dar, sind also bereits der Michaelpfad. Außerdem sind sie für einen gesunden Zugang zu den höheren Welten unerlässlich, bevor man dort ankommt.
Das moralische Tor: die Goldene Regel
Neben der Kultivierung der kognitiven Fähigkeiten wird manchmal die Bedeutung des ethisch-moralischen Elements der Anthroposophie unterschätzt. Rudolf Steiner betonte dies vor allem nach dem tragischen Ereignis des Brandes des ersten Goetheanums sehr deutlich. Zu Beginn des Jahres nach diesem Dezemberereignis leitete Steiner die Reform der Anthroposophischen Gesellschaft ein, die in der Weihnachtstagung 1923/4 gipfelte. Ein Teil dieser Initiative war ein Vortragszyklus mit dem Titel »Anthroposophische Gemeinschaftsbildung« von Januar bis März 1923, der leider mit »Awakening to Community« falsch übersetzt ist. In Wirklichkeit sollte er mit »Anthroposophical Community Building« übersetzt werden, da der Zyklus sehr spezifisch für diese Gemeinschaft ist. Darin unterstreicht er erneut die Bedeutung der »Philosophie der Freiheit«. Steiner verweist zunächst auf die Notwendigkeit, dass »die Anthroposophische Gesellschaft in sich erstarkt«, dass sie sich »von denjenigen Missverständnissen freimacht, die an ihren Lebensnerv gehen« (S. 35 f.). Um letztere zu vermeiden, braucht es eine Ethik in dem Sinne, wie sie der Zeitgeist [Michael] für das Zeitalter der sich entwickelnden Bewusstseinsseele fördert und wie sie in der »Philosophie der Freiheit« »angedeutet« worden ist (S. 36). Überdies kann man durch sie die Quelle der ethisch-moralischen Impulse im reinen Denken (S. 52) finden. Die Folgen einer unzureichenden Ausbildung der erforderlichen Fähigkeiten sind für Steiner fatal und die Auswirkungen auf die Anthroposophische Gesellschaft katastrophal: »Und das ist es […], worauf jetzt mit aller Schärfe hingewiesen werden muss, weil sonst eben einfach die Entwickelung der Anthroposophischen Gesellschaft ganz und gar zurückbleibt hinter der Entwickelung der Anthroposophie. Dann muss die Anthroposophie auf dem Umwege durch die Anthroposophische Gesellschaft von der Welt ja gänzlich missverstanden werden, und dann kann nichts anderes herauskommen als Konflikt über Konflikt!« (S. 58) (Hervorhebung von mir). Es ist klar, dass ein wesentliches Element der Anthroposophie und der Gesellschaft die Kultivierung von moralisch-ethischen Impulsen ist, und damit ist auch der Michaelpfad gemeint. Wie wir gleich sehen werden, geht es beim Michaelpfad vor allem um solche Impulse.
Darüber hinaus beruht der von Steiner empfohlene »Michaelpfad« auf einem moralischen und kognitiven Verhältnis. In »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten« (Kapitel: Einweihung) (S. 67) nannte er dies die »Goldene Regel«: »Wenn du einen Schritt vorwärts zu machen versuchst in der Erkenntnis geheimer Wahrheiten, so mache zugleich drei vorwärts in der Vervollkommnung deines Charakters zum Guten.«
Dieses Verhältnis ist es wert, in seinen tieferen Implikationen betrachtet zu werden. Für Steiner ist aufgrund dieses Verhältnisses das Wichtigste am Michaelsweg die moralische oder charakterliche Entwicklung. Ein besonderes Beispiel dafür ist die Überwindung des eigenen Egoismus. Am Anfang von Wie erlangt man …? beschreibt Steiner eine grundlegende Disposition für den spirituellen Weg, wenn dieser gesund sein soll. Es handelt sich um die Motivation für den Weg selbst: Der Schüler »lernt nicht, um das Gelernte als seine Wissensschätze aufzuhäufen, sondern um das Gelernte in den Dienst der Welt zu stellen« (S. 28). Mit anderen Worten: Die moralische Motivation für den Michaelsweg ist der Altruismus, nicht der Egoismus. Darüber hinaus beschreibt Steiner im letzten Kapitel des oben genannten Buches die Begegnung mit dem Großen Hüter der Schwelle, wenn der Schüler geistig weit fortgeschritten ist. Dabei wird der Geistesschüler vor die Wahl gestellt, ob er seinen egoistischen Wünschen folgt oder eine altruistische Haltung einnimmt, um der Welt als Ganzes zu dienen. Ersteres führt auf einen »schwarzen Pfad«, letzteres einen »weißen«. Wie ein goldener Faden, der sich durch den Michaelsweg zieht, ist die Überwindung des Egoismus jederzeit das zentrale moralische Problem des spirituellen Pfades. Dies zeigt sich darin, dass Steiner in der »Apokalypse des Johannes« (1908) beschreibt, dass in ferner Zukunft die Wahl zwischen Egoismus und Altruismus das Schicksal der gesamten Menschheit und der Welt bestimmen wird; es ist die Wahl zwischen dem Sonnendämon Sorat und dem Sonnengenius Christus, wobei ersterer der ultimative Egoist ist und letzterer der absolute Altruist. Es ist folglich die moralische Dimension des Michaelsweges, die in erster Linie seinen »Erfolg« bestimmt, nicht nur das Erreichen von »hellsichtigen« Fähigkeiten. Das Verhältnis »drei Viertel moralisch, ein Viertel kognitiv« ist die Regel, nicht die Ausnahme.
Wo immer man bei Steiners Beschreibungen des spirituellen Weges hinschaut, ist an jeder Stelle die Kultivierung dieses Altruismus und anderer moralischer Fähigkeiten eingeflochten. Das gilt auch für die Meditationen aus der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. In diesen bilderreichen Mantren werden dem Schüler moralische Qualitäten vorgestellt, die ihm bei der Überwindung der gegnerischen Kräfte Luzifers, Ahrimans und der Asuras helfen sollen. Nach Steiners Überzeugung und somit auf dem Michaelpfad müssen die moralischen Fähigkeiten die geistig-kognitiven begleiten, um zu verhindern, dass man von den Widersachern verschlungen wird. Das ist eine sehr wichtige Feststellung, wenn man den Michaelpfad mit jeder anderen Form von spirituellem Weg vergleicht, einschließlich Are’s Version des »Widar-Pfades«. Der Michaelpfad erfordert nicht nur die vorherige Entwicklung der moralischen Fähigkeiten, sondern auch deren kontinuierliche Weiterentwicklung während der gesamten Zeit. Dies ermöglicht ein sicheres und gesundes Vorankommen auf unserem spirituellen Weg, ohne das wir uns in ernsthafte Gefahr begeben würden.
Wenn wir uns also fragen, was den »Erfolg« der Schüler des Michaelpfades ausmacht, dann sind es vor allem die moralischen Fähigkeiten, die »drei Viertel« des Weges ausmachen. Als Bewegung hat die Anthroposophie, der Michaelsweg, einen globalen Erfolg gehabt, der Menschen in der ganzen Welt erreicht und neue Formen der Erziehung, der Landwirtschaft und der Medizin, der Kunst und Wissenschaft etc. hervorgebracht hat. Das ist wohl größtenteils auf die Kultivierung der moralisch-kognitiven Fähigkeiten, insbesondere des Altruismus derjenigen zurückzuführen, die den Michaelsweg beschreiten, und hat wenig mit ihrer »Hellsichtigkeit« zu tun.
Widar nach Rudolf Steiner
Eine Stelle, an der Steiner über das Wesen Widar spricht, findet sich in der »Mission einzelner Volksseelen« (1910). Steiner beschreibt Widar als einen Erzengel, dessen Aufgabe es ist, den Fenriswolf zu überwinden, ein mythisches Wesen nord- und mitteleuropäischer Frühkulturen. Der Fenriswolf ist einer der Nachkommen Lokis, die anderen sind die Midgardschlange (die Selbstsucht gebiert) und Hel (die Krankheit und Tod gebiert) (S. 160 f.). Steiner beschreibt Loki als Vertreter Luzifers, also sind die Eigenschaften von Loki diejenigen Luzifers. Was den Fenris-Wolf betrifft, so sind seine luziferischen Eigenschaften: Selbsttäuschung, falsches Denken, Falschheit und Lüge, die aus einem inneren Impuls heraus entstehen (S. 159). So erlebt der Mensch den Fenriswolf im normalen Bewusstsein. Widars Aufgabe ist es, dem Menschen die Möglichkeit zu geben, diese Kräfte zu überwinden; dies ist durchaus möglich durch die polaren Fähigkeiten der Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Hingabe an das Wissen (siehe Wie erlangt man …?, Kapitel 1). So gesehen ist Widar jener Erzengel, der einen moralisch-geistigen Weg zum »feurigen Gedankenfürsten des Weltalls«, d.h. Michael, dem Zeitgeist (Arche), eröffnet. Damit ermöglicht Widar auch den Weg zum Christus, der die »lebendige Essenz alles geisteswissenschaftlichen Wesens« ist (GA 121, S. 196). Widar ist nach Steiner ein Teil des Michael-Pfades, der schließlich zur Christus-Erfahrung führt.
Aus der Perspektive des gewöhnlichen Bewusstseins sind also die Gaben Widars die moralischen Potentiale der Ehrlichkeit, der Wahrhaftigkeit und der Hingabe an das Wissen. Es ist die Aufgabe des Menschen, diese moralischen Potentiale zu verwirklichen, aber in Freiheit. Wenn man sie in sich selbst verwirklichen und wahrhaftig erfahren kann, beschreitet man einen Weg, der diesseits der Schwelle beginnt und zu Michael und Christus führt: Michael ist »der Führer zu Christus« (Anthroposophische Leitsätze, S. 118). Ob dies derselbe »Widar« ist, von dem Are spricht, überlasse ich dem Leser zu entscheiden. Was mir jedoch klar erscheint, ist, dass Steiners Version des »Widar-Pfades« ein Teil des »Michael-Pfades« ist und keine Alternative dazu; es ist ein Weg der moralischen Qualitäten der Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Hingabe an das Wissen, der im alltäglichen Bewusstsein jeder Seele beginnen kann. Unsere erste »Begegnung« mit Widar kann in einem Selbstbewusstsein von moralischen Qualitäten wie diesen stattfinden. In der Konfrontation mit unserem eigenen »Fenris-Wolf« und dessen Überwindung können wir den Weg durch Widar zu Michael und Christus finden.
Der Weg von den Elementen der Wahrnehmung zur spirituellen Welt
Rudolf Steiner hat an verschiedenen Stellen einen Weg von den Elementen der Wahrnehmung zur geistigen Welt beschrieben. Dazu gehören »Die geistigen Wesen in den Himmelskörpern und Naturreichen, 1912« (Helsinki), »Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt, 1909« (Düsseldorf), »Die Grenzen der Naturwissenschaft, 1920« (Dornach) und ansatzweise »Die Mission einzelner Volksseelen, 1910« (Oslo). Aspekte davon finden sich auch in »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? 1909/10«.
Are behauptet, sich auf die erstgenannten Werke zu stützen. Es kann sich also lohnen, kurz zu betrachten, was Steiner tatsächlich gesagt hat. Im Helsinki-Zyklus, vor allem im ersten Vortrag, beschreibt Steiner einen Weg von den Elementen zur geistigen Welt (S. 20 f). Es handelt sich um einen Weg von der Sinneswelt zur Elementar- oder Ätherwelt, der auf der Erfahrung einer moralischen Dimension der Wahrnehmung beruht. Das erste Beispiel, das er anführt, ist die Betrachtung des blauen Himmels, der dann in der Meditation »verschwinden« darf, dann kommen wir zu einer Erfahrung der Unendlichkeit, die uns mit frommer Hingabe erfüllt. Die Meditation besteht darin, in Abwesenheit des blauen Himmels in der frommen Hingabe zu leben. Er fährt fort, einen ähnlichen Prozess der Erfahrung der moralischen Dimension hinter dem Grün der Blätter, dem weißen Schnee und in der Tat jeder einzelnen Sinneswahrnehmung zu beschreiben, wobei jede ihre eigene moralische Qualität hat. Das menschliche »Ich« lebt in dieser Erfahrung des Moralischen in der ätherisch-elementaren Welt.
Im weiteren Verlauf der Vortragsreihe beschreibt Steiner eine fortlaufende Abfolge von Erfahrungen geistiger Wirklichkeiten, beginnend mit den Elementarwesen, aufsteigend über die dritte, zweite und erste Engels-Hierarchie bis hin zur Dreifaltigkeit. Die Vortragsreihe zeigt ein vollständiges Bild der Wirklichkeit, das mit den Naturreichen beginnt und über die Hierarchien bis hin zu Vater, Sohn und Heiligem Geist führt. Es muss nachdrücklich darauf hingewiesen werden, dass der Weg zu diesen höheren Erfahrungen durch ein moralisches Tor führt. Wie wir bereits gesehen haben, ist das moralische Element von entscheidender Bedeutung für den Michaelsweg, wie er von Steiner charakterisiert wurde, und so ist es nicht überraschend, dass der Weg, den er hier beschreibt, auch durch eine »moralische Pforte« führt.
Der »Widar-Pfad« Are Thoresons
Are stützt sich in gewissem Maße auf den Helsinki-Zyklus, mit einigen bedeutenden Unterschieden. Er stellt die Behauptung auf, dass die »Schneeübung« Steiners Lieblingsübung ist. Ich habe noch keinen Beweis für diese Behauptung gesehen. Jedenfalls beschreibt Are einen Prozess, den er als »Verblassen« bezeichnet, d.h. in den weißen Schnee hinein. Dies soll den Zugang zur Welt der Elemente ermöglichen. Dort, so Are, treffen wir auf drei Arten von bösen Elementarwesen: die luziferischen, die ahrimanischen und die asurischen. Wie wir aus der Anthroposophie wissen, handelt es sich dabei um zunehmende Ebenen des Bösen. Am Ende unseres Weges durch die Reiche dieser Elementarwesen, an der »Schwelle« treffen wir auf »Widar«, der laut Are nun der neue Hüter der »Schwelle« ist. Er wird euch sagen, was ihr wissen müsst.
Dies ist eindeutig ein ganz anderer Weg als der von Steiner beschriebene. Warum sind die ersten Wesen, denen man begegnet, böse Elementarwesen? Beinhaltet der »Nördliche Weg« auch die vorherige und fortlaufende Entwicklung von moralischen Qualitäten? Wenn ja, welche sind das und inwieweit überschneiden sie sich, wenn überhaupt, mit denen des Michaelpfades? Wenn sie übereinstimmen, wie kann dann behauptet werden, dass der Michaelpfad geschlossen ist, wenn seine moralischen Qualitäten für den »Nördlichen Weg« benötigt werden? An diesem Punkt der Diskussion ist es schwer, zu erkennen, wie die moralischen Qualitäten des Michaelpfades, wie oben beschrieben, vermieden werden können, wenn eine gesunde spirituelle Entwicklung angestrebt wird. Wenn ja, dann ist er wirklich offen.
Verleugnung
An einigen Stellen verleugnet Are den Weg Rudolf Steiners und relativiert den anthroposophischen Ansatz zur spirituellen Erkenntnis: »Wir alle haben aus früheren Leben besondere Fähigkeiten mitgebracht, die in verschiedenen geistigen Schulen entwickelt wurden. Unser natürliches Hellsehen ist daher sehr persönlich und individuell entwickelt. Rudolf Steiners Beschreibung der Entwicklung und Erforschung des Hellsehens ist daher nicht der Maßstab, um die anderen Formen zu beurteilen.« (Thoreson 2019, Experiences from the Threshold and Beyond, S. 4) (Meine Hervorhebung). Das ist ein Beispiel für eine der größten Herausforderungen unserer Zeit: Relativismus. Wenn man so denkt, dann kann man nicht sagen, was wahr, gut oder schön ist, alles ist »persönlich«. Man kann nicht sagen, dass etwas falsch ist, denn alles ist so gut wie das andere. Wie der berühmte Philosoph Paul Feyerabend (1988) sagte, ist im Bereich der Wissenschaft und Kultur »alles möglich«. Das Problem für Are ist, dass dies, wenn es wahr ist, auch für seinen Nördlichen Weg gilt: Er ist persönlich und individuell für ihn. Das würde auch auf jeden anderen zutreffen, also sollte jeder seinen eigenen Weg gehen und nicht den von Are. Außerdem behauptet er (auf S. 7), dieses Buch sei: »eine Anleitung zum Überschreiten der Schwelle zur geistigen Welt für alle, die das als möglich betrachten«. Wie ist das möglich, wenn alle Wege persönlich und individuell sind, denn »ein Handbuch« und »für alle« sind damit nicht vereinbar.
Der Grund für diese Aussage ist jedoch klar: Er will damit sagen, dass man seinen »Widar-Pfad« nicht durch die Brille der Anthroposophie beurteilen sollte. Er schafft einen Weg für seinen eigenen Ansatz, frei von Einmischung. Das Problem ist, dass die Gefahr besteht, dass es überhaupt keine Möglichkeit gibt, ihn zu beurteilen. Und nicht nur das: Steiner wollte, dass die Anthroposophie ein objektiver geistiger Weg ist, der von jedem beurteilt werden kann, der bereit ist, objektiv zu sein. Das ist ein weiterer Grund, warum der Michaelsweg offen ist, nicht nur weil er wirksam ist, sondern auch weil er objektiv geprüft werden kann, auch von denen, die ihm nicht absolut verpflichtet sind, die nur bereit sind, eine Bestätigung oder Falsifizierung zu versuchen, auch von außerhalb des anthroposophischen Rahmens: »Ich bitte Sie und habe sie gebeten […], nichts auf Autorität und Glauben hinzunehmen, was ich jemals gesagt habe oder sagen werde. … Ich bitte Sie, sich abzugewöhnen das Autoritätsprinzip; denn von Übel würde das Autoritätsprinzip für uns werden … Prüfen wir die uns zugänglichen Urkunden, die religions- und mythologischen Dokumente, prüfen wir, was uns sagt jegliche Naturwissenschaft, so werdet ihr die Richtigkeit des Gesagten einsehen. … Ich bin überzeugt, je genauer sie prüfen, um so mehr werden sie das, was aus den Quellen des Rosenkreuzermysteriums heraus gesagt wird, der Wahrheit entsprechend finden. … Sie sollen nichts auf die Autorität hin annehmen.« (Steiner 1910/70, S. 200 f.) (Meine Hervorhebung). Mit anderen Worten, der Michaelsweg ist in einem tieferen Sinne des Wortes offen. Kann man das Gleiche von Are’s »Widarweg« sagen, wenn er, nach seiner eigenen Behauptung, rein persönlich und individuell ist?
Schließung der Michaelschule und Eröffnung der Widarschule: ein fragwürdiger Vorschlag
In seinem jüngsten Buch »Begegnungen mit Widar« (2022) hat Are eine weitere Behauptung aufgestellt, die impliziert, dass die Michaelschule entweder geschlossen ist oder geschlossen werden sollte. In einem angeblichen »Gespräch« mit »Widar« bezieht sich Are auf die zweite und dritte Klasse der Michaelschule und behauptet, »Widar« habe gesagt, die Offenbarung dieser Klassen könne »verheerend« sein (für wen?) und sie solle »aus einer zeitgenössischen Perspektive neu geschrieben werden « (S. 14). Are fordert schließlich, dass auch die erste Klasse den modernen Anforderungen entsprechend geändert werden müsse (S. 17). Damit wird impliziert, dass die erste Klasse der Michaelschule nicht mehr zeitgemäß ist und entweder geschlossen wird oder geschlossen werden sollte. Eine gewagte Behauptung, könnte man sagen! Bisher habe ich noch niemanden gehört, der diese Behauptung aufgrund einer angeblichen Erfahrung von »Widar« bestätigt hätte, nur Are. In diesem Sinne scheint es eine ungeprüfte Behauptung zu sein.
Es überrascht nicht, dass Are die »Widar-Schule der spirituellen Wissenschaft« als Ersatz für die überflüssig geglaubte Michael-Schule »eröffnet« (S. 18). Er führt dann die Lehren von »Widar« aus, die im Rest des Buches dargestellt werden. Dies sind die Lehren, die die veralteten Lehren der drei Klassen der Michaelschule ersetzen sollen. Sie sind, so behauptet er, der Weg zu einem »modernen Christusbewusstsein durch den nördlichen Strom« (S. 23). Bislang scheinen diese Lehren jedoch nur Are zur Verfügung zu stehen, der sich als Führer der »Widar-Schule« auf der Erde zu positionieren versucht und somit ein Tor zum »Christusbewusstsein« (S. 23) darstellt. Wie bereits dargelegt, gibt es jedoch keine objektive Möglichkeit, dies zu überprüfen, weder durch die moderne Forschung noch durch die Anthroposophie. Die so genannte »Widar-Schule« ist innerhalb ihrer eigenen Grenzen geschlossen, anders als die Michael-Schule, die sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer Paradigmengrenzen geprüft werden kann. Es stellt sich also die Frage: Wer ist bereit, den »Widar-Weg« zu beschreiten, der ohne eine ausreichende moralische und kognitive Vorbildung, wie sie von der Michael-Schule empfohlen wird, eine Form der Selbstindoktrination und potentiell gefährlich sein kann?
Konsequenzen: Are und die Erfahrung der »achten Sphäre«?
Es gibt ein interessantes und wichtiges Bekenntnis Ares in seinem Buch (2019). Er erklärt: »Die guten und helfenden Wesen, denen ich im Laufe meines Lebens begegnet bin, waren wesentlich weniger als die böswilligen Wesen, denen ich widerstehen oder die ich sogar bekämpfen musste. Das liegt wahrscheinlich an meinem Karma, und ich war nicht in der Lage, die lichterfüllten, guten und helfenden Wesen der geistigen Welt zu sehen oder zu treffen, bevor die finsteren Teile dieses Karmas aufgelöst waren« (S. 19). Hier stellt sich die Frage: Wie kann dieser Weg für andere gültig sein, wenn er von Are’s persönlichem Karma abhängig ist? Wenn, wie er früher behauptete, spirituelle Wege »sehr persönlich« sind, warum soll dann dieses spezielle Tor durch die Reiche der bösen Elementarwesen eine Empfehlung sein, »die Schwelle auf sichere Weise zu überschreiten«? (2019, S. 7) (Meine Hervorhebung). Man muss sich fragen, durch welches Reich der »Widar-Pfad« einen führt, vorausgesetzt natürlich, er funktioniert.
In Steiners Weg durch die Elemente ist der erste Schritt über die Sinneswelt hinaus eine moralisch-elementare/ätherische Erfahrung. Man kann die Möglichkeit nicht ignorieren, dass sie dem Schüler Schutz vor bösen Wesenheiten bietet. In der Tat scheint die von Steiner beschriebene unmittelbare Erfahrung überhaupt keine bösen Elementarwesen zu beinhalten, sondern gute, die der Evolution im Dienste der höheren Hierarchien helfen. Könnte es sein, dass Steiners »moralisches Tor« einen sicheren Zugang zu einem anderen Teil der geistigen Welt ermöglicht, der von guten geistigen Wesenheiten geleitet wird?
Die entscheidende Frage lautet also: Ist es möglich, dass ein alternativer spiritueller Weg jene bösen Teile der geistigen Welt erschließt, die Steiner die »Achte Sphäre« nannte (Die okkulten Bewegungen im 19. Jahrhundert, fünfter Vortrag)? Die Achte Sphäre ist eine sich entwickelnde Welt, die von Luzifer und Ahriman vorbereitet wird. Sie wird sich schließlich von der irdischen Evolution lösen, wie in Steiners »Apokalypse des Johannes, 1909« beschrieben, unter der Kontrolle des Sonnendämons Sorat (Prokofieff, 1999). Dieser Prozess findet statt, wenn der freie Wille des Menschen von den genannten Wesenheiten gefesselt wird und »Gespenster der Menschheit« geschaffen werden, um die achte Sphäre mit ihnen zu bevölkern. Das beginnt als alle Arten von »visionärer Hellsichtigkeit« (S. 91). Zweifellos würde sich das entsprechend dem Wesen Luzifers und Ahrimans zeigen, d.h. als phantastische Imaginationen des Selbstes, wie in der Selbstverherrlichung; oder als eine auf Sinneserfahrungen basierende Vorstellungswelt, die schließlich zur Mechanisierung von Seele und Geist führt. Die asurischen Kräfte werden an dieser bösen Weltschöpfung mitwirken, indem sie versuchen, Teile des menschlichen »Ich« und der »Bewusstseinsseele« zu stehlen. Die Asuras sind vom gleichen Rang wie die Archai und wirken somit in Beziehung zur »Persönlichkeit«, dem »Ich« und der »Bewusstseinsseele«. Archai und Asuras sind beide Kräfte des »Ich«. Archai: Macht des »Ich«, Gutes zu tun; Asuras: Macht des »Ich«, Böses zu tun (»Menschheitsentwickelung und Christus-Erkenntnis«, GA 100, 1907, S. 122 f.). Im Wesentlichen sind die Asuras Archai, die sich dem Bösen zugewandt haben. Archai hingegen sind die guten Geister des »Ich« und fördern Selbstverleugnung, Freiheit und den menschlichen Wert. Die Asuras sind die bösen Geister des »Ich« und fördern die Selbstverliebtheit oder Selbstabsorption. Sie können die Menschen zu radikaler Unmoral führen. Die skizzierte Entwicklung mündet letztlich in die Apokalypse. Wenn der Mensch sich moralischen Qualitäten wie Selbstverleugnung, Freiheit und Menschenwert verpflichtet, führt das zur Erlösung durch das »Michael-Christus-Richtungswort« (»Anthroposophische Leitsätze«, S. 106). Das kann nur geschehen, wenn der Michaelsweg als offen erkannt wird.
Schlussfolgerungen
Ob der »Widar-Pfad«, auch »Nördlicher Pfad« genannt, wie von Are beschrieben, tatsächlich funktioniert, kann in diesem kurzen Beitrag nicht vollständig beurteilt werden. Aber lassen Sie uns annehmen, dass er funktioniert. Bedeutet das, dass der Michael-Pfad nicht funktioniert oder unwirksam ist? Nein, es bedeutet nur, dass der Michael-Pfad und der »Widar-Pfad« sehr wohl signifikant unterschiedlich sein können. Zum Beispiel wäre es für diejenigen, die dem »Widar-Pfad« folgen wollen, von großem Interesse zu prüfen, inwieweit er bei jedem Schritt eine moralische Entwicklung beinhaltet, sowohl vor dem Überschreiten der Schwelle zur geistigen Welt als auch während der Reise durch sie. Die Vorbereitung dieser moralischen Qualitäten ist wesentlich für die Gesundheit und Sicherheit des Geistes-Schülers sowohl auf dieser als auch auf der anderen Seite der Schwelle. Der Michael-Pfad ist der Weg, der überwiegend moralisch ist, mit einem bedeutenden kognitiven Element, und er beginnt auf dieser Seite der Schwelle im normalen Bewusstsein. Allein aus diesem Grund ist es nicht gerechtfertigt, zu sagen, dass der Michael-Pfad geschlossen ist; er ist definitiv für uns alle offen.
Interessant ist schließlich, dass Beckerath ganz am Ende seines Buches ein »Meditationswort« Steiners zitiert, das in »Anweisungen für eine esoterische Schulung, 1904-1914« (S. 81) zu finden ist:
Sieghafter Geist
Durchflamme die Ohnmacht
Zaghafter Seelen.
Verbrenne die Ichsucht,
Entzünde das Mitleid,
Dass Selbstlosigkeit
Der Lebensstrom der Menschheit,
Wallt als Quelle
Der geistigen Wiedergeburt.
20. September 1919[2]
Wichtig ist, dass der Vers Ichsucht und Mitleid einander gegenüberstellt und letzteres fördert. Das ist ein Strebensziel, dem wir schon früher als zentralem moralischen Prinzip des Michael-Pfades begegnet sind. Das »Meditationswort« soll die Willenskräfte des Geistesschülers auf das Mitgefühl für andere ausrichten. Die genannten Eigenschaften sind zugleich ein Schutz gegen die bösen Wesenheiten der achten Sphäre. Auf diese Weise kann der Geist wiedergeboren werden. Der zitierte und ähnliche Meditationstexte können als moralischer Kern eines wirklich offenen Michael-Pfades angesehen werden.
Literaturverzeichnis
Prokofieff, S, O (1999): The Encounter with Evil and its Overcoming through Spiritual Science, Temple Lodge Publishing.
Feyerabend, P (1988): Against Method, Verso, London.
Steiner, R (1883-97): Goethean Science, Mercury Press. GA 1 (Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften)
Steiner, R (1892): Truth and Science, Rudolf Steiner Publications. GA 3 (Wahrheit und Wissenschaft)
Steiner, R (1894): The Philosophy of Freedom, Rudolf Steiner Publications. GA 4. (Die Philosophie der Freiheit)
Steiner, R (1904): Guidance in Esoteric Training, Rudolf Steiner Press. GA 42/245 (Anweisungen für eine esoterische Schulung. Aus den Inhalten der »Esoterischen Schule«)
Steiner, R (1908): The Apocalypse of St John, Rudolf Steiner Press. GA 104 (Die Apokalypse des Johannes)
Steiner, R (1909): The Spiritual Hierarchies and the Physical World, Steiner Books. GA 110 (Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt)
Steiner, R (1910/70): Mission of the Folk Souls, Rudolf Steiner Press. GA 121 (Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhange mit der germanisch-nordischen Mythologie)
Steiner, R (1912): The Spiritual Beings in the Heavenly Bodies and in the Kingdoms of Nature, Anthroposophic Press. GA 136 (Die geistigen Wesenheiten in den Himmelskörpern und Naturreichen)
Steiner, R (1913): The Fifth Gospel, Rudolf Steiner Press. GA 148 (Das fünfte Evangelium)
Steiner, R (1909/10): Knowledge of the Higher Worlds, Rudolf Steiner Press. GA 10 (Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?)
Steiner, R (1915): The Occult Movements in the Nineteenth Century, Rudolf Steiner Press. GA 254 (Die okkulte Bewegung im 19. Jahrhundert und ihre Beziehung zur Weltkultur)
Steiner (1923): Awakening to Community, Anthroposophic Press. GA 257 (Anthroposophische Gemeinschaftsbildung)
Steiner, R (1924): Anthroposophical Leading Thoughts, Rudolf Steiner Press. GA 26 (Anthroposophische Leitsätze)
Steiner, R (1923/24): The Foundation Stone, Rudolf Steiner Press. GA 260 (Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24)
Steiner, R (1923): The Evolution of Consciousness, Rudolf Steiner Press. GA 227 (Initiations-Erkenntnis)
Thoreson, A (2019): Experiences from the Threshold and Beyond, Temple Lodge Press.
Von Beckerath, G (2011/2020): Rudolf Steiners Leidensweg: Sein Schicksal mit der Anthroposophischen Gesellschaft, Verlag für Anthroposophie.
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Anmerkungen:
- Die Hinweise auf Fundstellen in Steiners Werken beziehen sich auf die deutschen Ausgaben. ↑
- In GA 268, Mantrische Sprüche, Seelenübungen II 1903-1925, Dornach 1999, auf S. 73 mit Datierung. ↑
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